Am
heutigen Donnerstag ist es genau ein Jahr her, dass das Europäische
Parlament Ursula von der Leyen (CDU/EVP) zur
Präsidentin der Europäischen Kommission wählte – und damit
seine eigene Niederlage im herausragendsten europäischen
Institutionenkonflikt der letzten Jahre besiegelte. Monatelang hatten
die großen proeuropäischen Fraktionen (mit Ausnahme der liberalen
ALDE, heute RE) zuvor betont, dass sie niemanden zum
Kommissionspräsidenten wählen würden, der nicht zuvor als
Spitzenkandidat einer europäischen Partei im Europawahlkampf
angetreten war. Doch nach der Europawahl Ende Mai 2019 dauerte es nur
wenige Wochen, bis diese Entschlossenheit in sich zusammenfiel.
Als
der Europäische Rat schließlich am
2. Juli die Nicht-Spitzenkandidaten von der Leyen nominierte, gab
es zwar noch einmal einiges
an Kritik an diesem Vorschlag. Auch die finale Abstimmung fiel mit 383 von 747 Stimmen sehr knapp
aus und machte von der Leyen abhängig von den rechtskonservativen Regierungsparteien aus Polen (PiS/EKR) und Ungarn (Fidesz/EVP). Doch
der Fokus dieser Kritik bezog sich nur noch auf die Eignung von der Leyens selbst, kaum auf das Nominierungsverfahren. Einen
ernsthaften Versuch, von der Leyen abzulehnen, um das Spitzenkandidatenprinzip als solches zu retten, gab es im
Parlament nicht. Grund genug, zum heutigen Jahrestag noch einmal
zurückzublicken, um die strukturellen Ursachen dieses Scheiterns zu
verstehen und Möglichkeiten für eine künftige Verbesserung des
Spitzenkandidatenverfahrens zu finden.
Gute
Ausgangslage für die Spitzenkandidaten
Eigentlich
war die Ausgangslage für das Parlament auch 2019 alles andere als
schlecht. Gewiss, der Europäische Rat hatte sich mit dem faktischen
Verlust seines Vorschlagsrechts für die Kommissionspräsidentschaft
an die europäischen Parteien nie
so richtig abgefunden. Nicht nur notorisch integrationsskeptische
Regierungen wie jene in Ungarn und Polen, sondern auch der
französische Präsident Emmanuel Macron (LREM/ALDE-nah)
positionierten sich offen gegen das Spitzenkandidatenprinzip.
Aber
dieser Widerstand war gewissermaßen eingepreist. Auch bei der
Europawahl 2014 hatten die nationalen Regierungen den
Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) nicht
gerade mit Begeisterung begrüßt. Aber zuletzt hatten sie ihn
eben doch zum Kommissionspräsidenten ernannt, weil er nach seinem
Wahlsieg nun einmal die offensichtliche Option war, das Parlament
weitgehend geschlossen hinter ihm stand und der Europäische Rat vor
einem offenen institutionellen Konflikt zurückschreckte. Noch ein
Jahr vor der Europawahl sprach
wenig dagegen, dass sich dieses Szenario 2019 in ähnlicher Form
wiederholen würde.
Konflikte um die Deutung des Verfahrens
Doch
je näher die Europawahl rückte, desto deutlicher wurden die
Unterschiede zu 2014. Als Erste wandten sich unter dem Einfluss
Emmanuel Macrons die europäischen Liberalen vom
Spitzenkandidaten-Verfahren ab: Nur wenn es transnationale
Europawahllisten gebe, sei es auch sinnvoll, Spitzenkandidaten auf europäischer Ebene zu nominieren. Und den Vorstoß für
transnationale Listen hatte ausgerechnet die Europäische Volkspartei, die nun besonders nachdrücklich auf das
Spitzenkandidaten-Verfahren drängte, Anfang
2018 im Europäischen Parlament scheitern lassen.
Die Unzufriedenheit der Liberalen allein hätte allerdings noch nicht genügt, um die Spitzenkandidaten scheitern zu lassen: Immerhin
verfügten die drei anderen proeuropäischen Fraktionen der Mitte – EVP, Sozialdemokraten und Grüne – auch ohne sie über eine solide
Mehrheit im Parlament. Doch je weiter der Wahlkampf voranschritt, desto mehr zerstritten sich auch diese Parteien über die genaue
Deutung des Verfahrens: Für die EVP, die in den Umfragen mit deutlichem Vorsprung führte, sollte der Kandidat der stärksten
Fraktion ein Vorgriffsrecht auf die Kommissionspräsidentschaft haben. Die Sozialdemokraten betonten hingegen, dass auch der Kandidat
einer kleineren Fraktion zum Zuge kommen könne, falls es ihm gelinge, eine Mehrheit im Parlament hinter sich zu versammeln.
Manfred
Weber als rotes Tuch
Entscheidend zugespitzt wurde dieser Konflikt schließlich dadurch, dass die EVP im November 2018 Manfred Weber (CSU/EVP) zum Spitzenkandidaten
nominierte. Als EVP-Fraktionschef hatte dieser lange Zeit der ungarischen Regierungspartei Fidesz um Viktor Orbán die Stange
gehalten und sich als Islamkritiker und Vertreter einer harten Flüchtlingspolitik hervorgetan. Weber stand damit frühzeitig als der Favorit des rechten EVP-Flügels fest; und auch dass er kurz vor der Vorwahl auf Distanz zu Orbán ging, wurde vielfach als ein rein taktischer Zug verstanden.
Für
Sozialdemokraten, Liberale und Grüne war Webers Kandidatur deshalb ein rotes Tuch. Während sein letztlich unterlegener Vorwahlgegner
aus dem liberalen Flügel der EVP, der frühere finnische Premierminister Alexander Stubb (Kok./EVP), wohl gute Chancen gehabt
hätte, die übrigen proeuropäischen Fraktionen im Parlament hinter
sich zu vereinen, stieß die Aussicht auf einen Kommissionspräsidenten Weber frühzeitig auf vehemente Ablehnung. Stattdessen brachte der sozialdemokratische Spitzenkandidat Frans
Timmermans (PvdA/SPE) in den folgenden Monaten wiederholt die Möglichkeit einer „progressiven Koalition“ aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken ins Spiel.
Streit tut dem Europawahlkampf gut …
Für den Europawahlkampf war diese Konfrontation zwischen Weber und Timmermans zunächst einmal ein Glücksfall. Zwar war von Anfang an erwartbar, dass Timmermans’ „progressives“ Bündnis bei der Wahl allenfalls eine hauchdünne Mehrheit erreichen würde. Aber seine demonstrative Entschlossenheit, das vielbeschworene „Ende der Großen Koalition“ in die Tat umzusetzen, polarisierte und belebte die Auseinandersetzung.
Der Spitzenkandidaten-Wahlkampf von 2019 unterschied sich dadurch deutlich von jenem fünf Jahre zuvor, als Jean-Claude Juncker und
Martin Schulz (SPD/SPE) nicht
müde wurden, ihre Einigkeit in allen wichtigen Fragen zu betonen und damit im Wahlkampf eher gepflegte Langeweile kultivierten. Diesmal
hingegen stritten die Spitzenkandidaten außer über die Rolle der Fidesz auch über die Migrationsfrage, den Klimaschutz und die Haushaltspolitik. Anders als 2014 wurde dadurch auch in der breiteren Öffentlichkeit erkennbar, welchen Unterschied eine Stimme für die eine oder andere Partei machte. Und tatsächlich ging (wenn auch nicht nur aus diesem Grund) 2019 erstmals ein größerer Anteil der europäischen Bürgerinnen und Bürger an die Urnen als bei der Europawahl zuvor.
… aber erschwert die Geschlossenheit nach der Wahl
Doch
die Polarisierung zwischen den Parteien der Mitte war es auch, die für das Spitzenkandidatenverfahren letztlich zum Verhängnis wurde. Tatsächlich war nach der Europawahl sehr schnell klar, dass die vier „progressiven“ Fraktionen im Europäischen Parlament zwar tatsächlich auf eine knappe Mehrheit kamen, diese aber viel zu prekär war, um als reale Machtoption in Frage zu kommen. Der neue Kommissionspräsident würde deshalb jedenfalls auch die Stimmen der EVP brauchen, was deren Anspruch auf das Amt untermauerte.
Aber wie sollten Sozialdemokraten und Grüne, die zuvor monatelang gegen Weber mobilisiert hatten, nun innerhalb weniger Tage eine 180-Grad-Wende vollziehen und den EVP-Spitzenkandidaten nicht nur als Kommissionspräsidenten hinnehmen, sondern auch aktiv gegen die Widerstände im Europäischen Rat durchsetzen? Der kontroverse Wahlkampf hatte die Einigkeit der proeuropäischen Parteien im Europäischen Parlament gebrochen, und plötzlich war keiner der Spitzenkandidaten mehr in der Lage, eine Mehrheit hinter sich zu vereinen.
Ausgebremste Koalitionsgespräche
Die Fraktionen im Parlament taten nun das, was Parteien üblicherweise tun, wenn sie nach einer hart umkämpften Wahl wieder
zusammenfinden müssen, um eine Mehrheit zu bilden: Sie führten
Koalitionsgespräche. In fünf Arbeitsgruppen diskutierten EVP, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne im
Juni 2019 über die wichtigsten inhaltlichen Fragen, um politische Kompromisse zu
finden und eine gemeinsame Agenda zu entwickeln. Auf dieser Grundlage
hätte es dann womöglich zuletzt auch zu einer Einigung über die Personalie des nächsten Kommissionspräsidenten kommen können – etwa als Teil einer Paketlösung, bei der die nachgebenden Fraktionen durch Zugeständnisse in anderen Bereichen entschädigt worden wären.
Doch
dazu kam es nicht mehr. Die Koalitionsgespräche hätten Zeit
benötigt, die der Europäische Rat dem Parlament nicht ließ. Als
die Abgeordneten einen Monat nach der Wahl keine
Einigung erzielt hatten, rissen die Staats- und Regierungschefs
das Heft des Handelns an sich und nominierten von der Leyen. Und
nicht nur das: Indem sie ihre Nominierung in ein komplexes, nach
Parteizugehörigkeit, Geschlecht und Herkunftsländern austariertes
Top-Jobs-Personaltableau
einbanden und mit Ratspräsident Charles Michel (MR/ALDE) ein
weiteres Mitglied dieses Tableaus sofort verbindlich wählten,
schafften sie Tatsachen, an denen das Parlament nicht mehr vorbeikam.
Überrumpelt,
intern gespalten
und ohne eine klare Alternativlösung ließen
sich die
Abgeordneten deshalb auf von der Leyen ein. Drei
Monate später entlud sich der angestaute Groll – auf
die
nationalen Regierungen, aber auch auf
die jeweils anderen Fraktionen
– gegen
die
übrigen
Kommissionskandidatinnen
und -kandidaten,
von denen nicht
weniger als drei bei den Anhörungen im Parlament durchfielen.
Erst
gegen Ende des Jahres fasste das Parlament allmählich wieder Fuß
und ergriff
etwa
in der Debatte
über die Konferenz zur Zukunft Europas gegenüber
dem Rat die Initiative. Bis dann die Corona-Pandemie die
EU in den Krisenmodus schickte und alle
institutionellen
Reformdiskussionen
fürs
Erste unterbrach.
Das
Polarisierungsdilemma
Was
lässt sich aus dieser Erfahrung nun für die Zukunft lernen?
Zunächst einmal erscheint es mir wesentlich, das
Polarisierungsdilemma zu akzeptieren: Damit das
Spitzenkandidaten-Verfahren im Wahlkampf seine demokratische
Öffentlichkeitswirkung entfalten kann, müssen die Kandidaten mit
klar unterscheidbaren Positionen antreten und die Konfrontation
miteinander suchen. Damit das Parlament das
Spitzenkandidaten-Verfahren nach
der Wahl gegen den Europäischen Rat durchsetzen kann, müssen die
Parteien im Europäischen Parlament hingegen möglichst geschlossen
auftreten.
Beides
ist mit jeweils entgegengesetzten Risiken verbunden: Sind sich die
großen Parteien zu einig, bleibt der Wahlkampf nichtssagend wie
2014. Ist
die Polarisierung hingegen zu groß, so scheitert das
Spitzenkandidaten-Verfahren wie 2019. So oder so bleibt das
demokratische
Versprechen
an die europäischen Wähler, bei der Europawahl auch auf
bedeutungsvolle Weise Einfluss auf die Personalie des
Kommissionspräsidenten auszuüben, unerfüllt.
Der
entscheidende Faktor ist Zeit
Um
nun die Brücke zu schlagen und von einem polarisierten Wahlkampf zu
einer funktionierenden Mehrheit zu gelangen, benötigen die
Fraktionen im Parlament vor allem Zeit: Zeit, um von der
Wahlkampfrhetorik auf die Sprache der Gemeinsamkeit umzuschalten,
Zeit,
um inhaltliche
und
personelle
Kompromisse auszuloten, Zeit,
um sich letztlich auf einen gemeinsamen Namen für die
Kommissionspräsidentschaft zu einigen.
Für
die mit dem Spitzenkandidaten-Verfahren verfolgten Zwecke wäre es
dabei gar nicht einmal zwingend notwendig, dass dieser
Kommissionspräsident in jedem Fall ein vorheriger Spitzenkandidat
war. Es gibt auf
nationaler Ebene –
allen voran in Italien – viele Beispiele, in denen schwierige
Koalitionsgespräche nur dadurch zum Erfolg führten, dass sich die
Parteien auf eine „neutrale“ Persönlichkeit als Regierungschef
einigten. Auch 2019 hätte eine demokratische Lösung darin bestehen
können, dass Manfred Weber auf das Amt verzichtet und die übrigen Fraktionen dafür ein anderes EVP-Mitglied als Kommissionspräsidenten akzeptiert
hätten. Doch die Entscheidung darüber hätte zu gegebener Zeit von den Fraktionen selbst ausgehen müssen und nicht vom Europäischen Rat forciert werden
dürfen.
Das Ernennungsverfahren umkehren?
Wie aber kann ein solcher Vorrang der Fraktionen für
die Zukunft sichergestellt werden? Dass der Europäische Rat künftig
allein aus demokratischer Einsicht heraus größere Zurückhaltung übt, ist wohl leider nicht so schnell zu erwarten. In
Brüssel kursiert deshalb seit einiger Zeit der Vorschlag für eine
Vertragsreform, mit der das Ernennungsverfahren für den
Kommissionspräsidenten gewissermaßen umgekehrt würde: Demnach
würde künftig nicht mehr der Europäische Rat, sondern das
Parlament selbst den Präsidenten vorschlagen. Dieser würde
anschließend jedoch ein Zustimmungsvotum des Europäischen Rates
benötigen, ehe er schließlich vom Parlament noch einmal formell
gewählt wird.
Durch diese Reform bliebe das Kräftegleichgewicht zwischen Parlament und Europäischem Rat vordergründig unverändert; beide Institutionen hätten bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten weiterhin ein Vetorecht. Durch den veränderten Ablauf erhielte das Parlament jedoch die Kontrolle über die zeitliche Dynamik und könnte nicht mehr so leicht unter Druck gesetzt werden wie 2019.
Das
Parlament hat schon jetzt die nötigen Machthebel
Aber ist eine solche Vertragsreform wirklich den Aufwand wert? Wenn dem Parlament wirklich daran gelegen ist, dann hätte es schon mit dem jetzigen Verfahren die nötigen Machthebel, um die Kontrolle über den Zeitplan zu übernehmen. Die Fraktionen müssten dafür nur ankündigen, dass sie – aus Prinzip und
ohne Ansehen der Person – jeden Vorschlag des Europäischen Rates ablehnen werden, solange die Koalitionsverhandlungen laufen und im Parlament keine Einigkeit über die Personalie des Kommissionspräsidenten besteht. Und sie müssten natürlich bereit sein, eine solche Ankündigung dann
auch in die Tat umzusetzen, selbst wenn die Staats- und Regierungschefs drängeln.
Wenn man es aber wirklich ernst meint mit der Parlamentarisierung der Europäischen Kommission, ist eine bloße Wiederauferstehung des Spitzenkandidaten-Verfahrens ohnehin nicht genug. Dann sind weitere, umfassendere Reformschritte nötig, über die hier an anderer Stelle schon mehr zu lesen war. Es bleibt zu hoffen, dass die – ausgerechnet von Emmanuel Macron und Ursula von der Leyen initiierte – Konferenz zur Zukunft Europas dafür den nötigen Anstoß gibt.
Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens – Artikelübersicht
- Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Serienauftakt
- Für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und ein neues Europawahlrecht: Wege und Irrwege der Demokratie in der EU ● Frank Decker
- Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen ● Julian Rappold
- Die Europawahl darf keine Wundertüte sein: Für eine rechtliche Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips ● Gaby Bischoff
- Wiederbelebung des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Was können die europäischen Parteien selbst tun? [EN / DE] ● Gert-Jan Put
- Das Spitzenkandidaten-System: ein Blick aus Tallinn [EN / DE] ● Piret Kuusik
- Wissen, wer was tun wird: Transnationale Listen können das Spitzenkandidaten-System retten [FR / DE] ● Charles Goerens
- Das Polarisierungsdilemma: Streit zwischen den Parteien belebte 2019 den Europawahlkampf – und ließ dann die Spitzenkandidaten scheitern ● Manuel Müller
Bild: © European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr.
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