14 März 2018

Raus aus der Komfortzone: Deutschland und Frankreich in der Pflicht

Der deutsch-französische Motor ermöglichte viele wichtige Durchbrüche in der Entwicklung der EU, doch in den letzten Jahren scheint er etwas an Zugkraft verloren zu haben. Kann ein neuer Élysée-Vertrag die Partnerschaft wiederbeleben? In einer Serie von Gastartikeln antworten Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft hier auf die Frage, welche Rolle die deutsch-französische Zusammenarbeit in der EU künftig spielen kann. Heute: Claire Demesmay. (Zum Anfang der Serie.)

„Deutschland und Frankreich dürfen ihre Zusammenarbeit nicht auf Themen begrenzen, in denen Konsens herrscht.“
In Paris und Berlin schwört man derzeit auf eine Wiederbelebung der deutsch-französischen Kooperation als Gegenreaktion auf die zahlreichen Blockaden in der europäischen Union. Projekte sind bereits in der Vorbereitung. Doch wenn es um strittige Themen geht, wie die Reform der Eurozone, die Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Migrations- und Asylpolitik, tun sich beide Länder schwer, ihre Divergenzen zu überwinden. Neben der klassischen Methode der Kompromissfindung ist es daher für beide Regierungen an der Zeit, unbequeme und kreative Wege der Zusammenarbeit einzuschlagen.

Schwierige Partnerschaft

Die aktuelle Lage der Europäischen Union macht eine Intensivierung der deutsch-französischen Zusammenarbeit unabdingbar, aber auch schwieriger. Erstens ist das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich frontaler geworden. In der Vergangenheit haben oft Drittländer zwischen den unterschiedlichen Prioritäten von Paris und Berlin in Bezug auf die europäische Zukunft vermittelt, und damit zum Ausgleich ihrer beigetragen. Seit u.a. den Brexit-Verhandlungen und der Italien-Wahl fehlt es an Mittlern, die diese Rolle übernehmen könnten. Dies erschwert die Kompromissfindung in der EU.

Zweitens sorgen die europäischen Spaltungen für Spannungen und Blockaden. Die Interessen der Europäer divergieren zurzeit so sehr, dass deutsch-französische Kompromisse nicht automatisch zu europäischen Lösungen führen. Außerdem trägt eine exklusive bilaterale Beziehung zur Desintegration der Union bei.

Macron setzt auf Deutschland

Selten war in Paris der Wille nach einer Belebung der deutsch-französischen Zusammenarbeit so ausgeprägt wie derzeit. Für die Umsetzung seiner ambitionierten europapolitischen Pläne, die neben Strukturreformen in der Innenpolitik die wichtigste Säule seines Programms darstellen, setzte Emmanuel Macron von Anfang an auf Deutschland. Im Wahlkampf kam er mehrmals nach Berlin. Auch nach seinem Amtsantritt richtete er sich nach dem Zeitplan der deutschen Politik, indem er etwa seine Grundsatzrede über Europa zwei Tage nach der Bundestagswahl hielt.

Der französische Präsident ist allerdings ungeduldig und drängt auf europäische Initiativen, bevor sich das kurze Zeitfenster bis zur Europawahl 2019 schließt. Dabei hatte er sicher nicht damit gerechnet, dass er vor dem Frühling keinen deutschen Ansprechpartner haben würde.

Gegenliebe der Bundesregierung

Nun ist der Partner da und spart nicht mit Gegenliebe. In einem angespannten EU-Kontext, wo die Suche nach Verbündeten alles andere als einfach ist, ist für Berlin die Kooperation mit einem proeuropäischen und Deutschland-freundlichen Frankreich willkommen. Zugegeben, im Koalitionsvertrag klingt der Appell für eine deutsch-französische Initiative etwas vage und lässt Spielraum für Interpretationen.

Doch die neue Bundesregierung meint es ernst mit der Zusammenarbeit und gab bereits Zeichen ihres guten Willens, zum Beispiel in Bezug auf die Bankenunion, die Angleichung der Unternehmenssteuer sowie die Verteidigungskooperation im Rahmen der PESCO. Ihr Entgegenkommen zeigt sie auch in der Bereitschaft, den Elysée-Vertrag von 1963 zu erneuern – selbst wenn das Vorhaben ihr etwas zu symbolisch ist.

Unterschiedliche Prioritäten in der Europapolitik

Ob daraus die Bereitschaft folgt, ehrgeizige Projekte zu starten und dabei schmerzhafte Kompromisse einzugehen, ist eine andere Frage. Denn hinter dem gemeinsamen Willen zur Zusammenarbeit stecken unterschiedliche Konzepte und Zielsetzungen in Bezug auf die Europapolitik. Zugespitzt formuliert geht es um die drei folgenden Unterschiede, die immer wieder zu Missverständnissen führen:

● Zusammenhalt vs. Integration
● Kontrolle vs. Solidarität
● Pragmatismus vs. Visionen

Für Deutschland und Frankreich hat der Handlungsbedarf in der EU nicht dieselbe Dringlichkeit. Aus deutscher Sicht bilden Fliehkräfte die größte Bedrohung für die Union. Nicht nur der Widerstand der Visegrád-Staaten gegen eine Verteilung von Geflüchteten wird mit Besorgnis beobachtet, sondern auch die Ablehnung der Sparpolitik und die Zunahme des Euroskeptizismus in den EU-Südländern. Priorität haben dementsprechend der Abbau der inneren Spannungen und die Sicherung des EU-Zusammenhalts.

Ganz anders in Frankreich, wo es vor allem darum geht, die europäische Integration voranzutreiben und schnell ein „schützendes Europa“ („Europe qui protège“) zu entwickeln. Europa kann sich keinen Stillstand leisten, so Macron, und soll liefern, um die Bürgerinnen und Bürger wieder für sich zu gewinnen. Paris plädiert deswegen für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten um einen deutsch-französischen Kern, selbst wenn manche Länder sich dabei brüskiert fühlen. Dieser Logik folgte Frankreichs Forderung nach einer Reform der Entsenderichtlinie.

Unterschiedliche Erwartungen an die Institutionen

Außerdem haben beide Länder unterschiedliche Erwartungen an die europäischen Institutionen. Der Wunsch nach einer besseren Kontrolle der EU-Mitgliedsstaaten durch Brüssel, insbesondere in den Bereichen Haushalt-und Wirtschaft, bleibt ein Kernelement deutscher Europapolitik. Währenddessen plädiert Paris heute wie gestern für mehr Solidarität zwischen den EU-Ländern und fordert u.a. gemeinsame Investitionen und Transfermechanismen.

Dieser unterschiedliche Ansatz wird in der Debatte um einen Finanzminister für die Eurozone deutlich. Beide Länder sind zwar für die Schaffung eines solchen Posten, haben aber ganz andere Erwartungen an seine Ausgestaltung: Während Berlin sich einen Minister wünscht, der in erster Linie die Einhaltung der wirtschafts- und haushaltspolitischen Regeln durch die Mitgliedstaaten prüft und sie notfalls zur Ordnung ruft, plädiert Paris für die Schaffung eines Budgets der Eurozone, um gemeinsame Investitionen und gegenseitige Hilfe bei finanziellen Problemen zu ermöglichen.

Unterschiedliche Vorgehensweisen

Nicht zuletzt unterscheiden sich beide Länder in der Art und Weise, wie sie Europa-Projekte konzipieren. Französische Staatschefs stellen ihren europäischen Partnern gern große Pläne vor, auch wenn sie nicht ganz zu Ende gedacht worden sind. Das Projekt einer Währungsunion in den 80er Jahren ist ein Beispiel dafür. Unter den neuen Instrumenten, die Macron vorschlägt, sind einige zwar konkret, etwa die Gründung europäischer Universitäten. Doch andere sind noch vage, wie die Schaffung eines Haushalts für die Eurozone oder die Entwicklung einer gemeinsamen Verteidigungsdoktrin.

Oft reagieren deutsche Entscheider auf solche Vorschläge mit Vorsicht, wenn nicht Misstrauen. Frankreich wird dabei fehlende Seriosität attestiert. Auf französischer Seite wird wiederum die deutsche Zurückhaltung als Unbeweglichkeit, Trägheit und sogar als mangelnder Wille interpretiert. Blockaden sind das Ergebnis.

Mit unbequemen Fragen auseinandersetzen

Unterschiedliche Prioritäten in der Europapolitik verhindern weder die Zusammenarbeit noch die Lösungsfindung, aber erschweren und verlangsamen sie. Heute ist die Europäische Union jedoch mit einer Reihe von internen und externen Problemen konfrontiert, die nicht mehr warten können. Dies erfordert schnelle Handlungsfähigkeit. Es steht außer Zweifel, dass es in nächster Zeit deutsch-französische Initiativen geben wird. So wurde zum Beispiel im Januar die Gründung eines gemeinsamen Zentrums für künstliche Intelligenz angekündigt. Solche Projekte sind wichtig, können aber nicht die Suche nach Lösungen in den strittigen europapolitischen Fragen ersetzen.

Dafür ist es notwendig, dass Berlin und Paris ihre Komfortzone verlassen. Erstens dürfen sie ihre Zusammenarbeit nicht auf Themen begrenzen, in welchen Konsens herrscht oder zumindest gemeinsame Interessen überwiegen. Sie müssen sich auch und vor allem mit unbequemen Fragen auseinandersetzen, selbst wenn dies erfordert, aus dem gern gepflegten Harmonie-Modus herauszukommen.

Zweitens führt kein Weg daran vorbei, die europäischen Partner stärker einzubeziehen. Deutschland und Frankreich müssen sich eingestehen, dass sie nicht die Hüter der europäischen Standards sind. Dementsprechend müssen sie auf die anderen EU-Mitgliedsstaaten zugehen und ihnen zuhören. Nur wenn sie ihre Sorgen und Erwartungen in Bezug auf Europa berücksichtigen, werden sie Zusammenhalt und Integration der Union miteinander vereinen können.

Kreativität ist gefragt: Die Chance der Eurodistrikte

Jenseits der bewährten Methoden ist Kreativität gefragt. Die Reaktivierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf lokaler und regionaler Ebene hat dafür Potential. Solange die juristischen Bedingungen dafür erfüllt sind, kann sie nämlich als Labor für weitere Integrationsschritte in Bereichen dienen, die auf nationaler Ebene zu sensibel sind, oder wo die Interessendivergenzen zu groß sind. Möglich ist das zum Beispiel bei der Entwicklung eines gemeinsamen Raums des Rechtes und der sozialen Sicherung.

In ihrer gemeinsamen Resolution von Januar bereiteten beide Parlamente den Weg, indem sie vorschlugen, „den Eurodistrikten eigenständige Kompetenzen zu übertragen“. Durch einen solchen qualitativen Sprung würden jenseits der Grenzen Räume entstehen, die sich z.T. dem nationalen Recht entziehen und die Einführung von u.a. fiskal- und sozialpolitischen Ausnahmen erfordern. Dies ist alles andere als selbstverständlich, auch für die zuständigen Regierungen. Doch damit könnten Deutschland und Frankreich „liefern“, indem sie auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger im Alltag eingehen – und trotz der aktuellen Blockaden auf EU-Ebene ihre Rolle als Impulsgeber in Europa wieder wahrnehmen.

Claire Demesmay leitet das Programm Frankreich/deutsch-französische Beziehungen im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).


Bilder: Sandro Schroeder [CC BY 2.0], via Flickr; DGAP / Dirk Enters (alle Rechte vorbehalten).

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