Noch
vor wenigen Monaten sah es so aus, als würde dies der europäischste
Bundestagswahlkampf werden, den Deutschland je erlebt hat. Der
Aufschwung der AfD ließ viele Beobachter erwarten, dass eine
proeuropäische Reaktion der übrigen Parteien überfällig war. Die
Demonstrationen des Pulse of Europe brachten wöchentlich
zehntausende Menschen auf die Straße und zeigten ebenso wie der
Erfolg von Emmanuel Macron (LREM/–) in Frankreich, dass sich mit
europafreundlichen Positionen durchaus eine Wählerschaft erreichen
lässt. Die SPD (SPE) nominierte mit Martin Schulz einen
Kanzlerkandidaten, der fast seine gesamte politische Karriere im
Europäischen Parlament gemacht hatte. Und überhaupt bestand Einigkeit darüber, dass die großen Herausforderungen dieser
Jahre – die Stabilisierung der Währungsunion, die Flüchtlings-
und Migrationsfrage, der Kampf gegen den internationalen Terrorismus,
der Umgang mit neo-autoritären Regimen wie in Russland und der
Türkei – nur auf europäischer Ebene gelöst werden können.
Die Legitimierung der „Staatenunion“
Hinzu
kommt, dass eine stärkere Europäisierung der nationalen
Parlamentswahlkämpfe auch aufgrund der jüngeren Entwicklung des
europäischen politischen Systems eigentlich dringend geboten wäre.
Nach gängigem Verständnis beruht die Legitimität der Europäischen
Union auf zwei Strängen: zum einen als „Union der Bürger“, zum
anderen als „Union der Staaten“. Die „Union der Bürger“ wird
über das Europäische Parlament repräsentiert, dessen Legitimation
durch die Europawahl erfolgt. Die „Union der Staaten“ hingegen
spiegelt sich im Ministerrat wider, der die auf nationaler Ebene
gewählten Regierungen der Mitgliedstaaten versammelt. Ihre
Legitimität beruht also darauf, dass europäische Themen auch bei
nationalen Wahlen eine zentrale Rolle spielen.
Würde
Europapolitik allein durch das Europäische Parlament entschieden, so könnten sich nationale Wahlkämpfe rein auf nationale
Themen beschränken. Die Tendenz der letzten Jahre ging allerdings
oft eher in die entgegengesetzte Richtung. Vor allem in der Eurokrise
gewann der Europäische Rat als Entscheidungszentrum an Bedeutung;
und auch die Rufe nach einer stärkeren Einbindung der nationalen
Parlamente in die Europapolitik, etwa in
Form einer parlamentarischen Versammlung der Eurozone, sind so
laut wie nie zuvor.
Befürworter
einer solchen Machtverlagerung auf intergouvernementale und
interparlamentarische Gremien verweisen oft darauf, dass die
Wahlbeteiligung bei Europawahlen in der Regel deutlich niedriger ist
als bei nationalen Wahlen und die nationalen Parlamente und
Regierungen deshalb besser legitimiert seien. Dieses Argument ist an
sich schon problematisch, da die
Summe von 28 nationalen Demokratien noch keine europäische
Demokratie ergibt. Es führt jedoch vollends ins Leere, wenn im
nationalen Wahlkampf nicht einmal über europapolitische Themen
gesprochen wird – und man deshalb davon ausgehen muss, dass die
europapolitische Positionierung der Parteien für die
Wahlentscheidung der meisten Wähler gar keine wesentliche Rolle
spielt.
Europapolitische
Gegensätze zwischen den deutschen Parteien …
Unglücklicherweise
lässt der bisherige Verlauf des Bundestagswahlkampfs erwarten, dass
genau dies auch in diesem Jahr in Deutschland wieder einmal der Fall
sein wird. Dabei ist es durchaus nicht so, als ob es zwischen den
etablierten deutschen Parteien in der Europapolitik keine
Unterschiede gäbe – wie nicht zuletzt der europapolitische
Wahlkompass zeigt, der seit zwei Wochen auf diesem Blog zu finden
ist.
Sehr
knapp zusammengefasst verteidigt die CDU/CSU (EVP) weitgehend den
Status quo; Reformen (etwa der Währungsunion) lehnt sie in der Regel zwar nicht grundsätzlich ab,
versucht sie jedoch auf ein Minimum zu begrenzen. SPD (SPE) und Grüne
(EGP) sind gegenüber neuen Integrationsschritten hingegen deutlich
aufgeschlossener und befürworten insbesondere auch einen Ausbau der
supranationalen Demokratie.
Eine
etwas ambivalente Haltung nimmt die FDP (ALDE) ein: Was bestimmte
Reformen wie die Verteidigungsunion betrifft, lässt sie sich von
keiner anderen Partei übertreffen; doch sobald es ums Geld geht
(etwa beim EU-Haushalt oder einer gemeinsamen
Arbeitslosenversicherung), steht sie mit beiden Füßen auf der
Bremse. Umgekehrt würde die Linke (EL) einem sozialen Europa
jederzeit zustimmen, übt jedoch massive Kritik an der bestehenden
EU, die sie vor allem als einen Akteur neoliberaler Politik
beschreibt.
… sind im
Wahlkampf kaum zu erkennen
Welche
Parteien in Zukunft die deutsche Bundesregierung stellen, wird für
den weiteren Kurs der Europäischen Union also von einiger Bedeutung
sein. Nicht umsonst haben deshalb in den letzten Wochen zahlreiche
europäische Medien und Institutionen (etwa VoteWatch.eu,
Politico,
EurActiv
oder auch der finnische Thinktank FIIA)
Analysen veröffentlicht, wie sich die Bundestagswahl auf
verschiedene Schlüsselprojekte der EU auswirken könnte.
Im
deutschen Wahlkampf ist von all dem indessen kaum etwas zu bemerken.
Zwar haben mit SPD, CDU und Grünen drei große Parteien Wahlplakate
mit einem europapolitischen Motiv anfertigen lassen (die CDU sogar
zum
ersten Mal bei einer Bundestagswahl). Doch mehr als ein vages
Bekenntnis dazu, in Europa gemeinsam stark zu sein, ist daraus nicht
zu entnehmen – und Unterschiede zwischen den
Parteien schon gar nicht.
Im Wahlkampf bleiben die Parteien vage
Dieses
Muster zeigt sich auch bei anderen Wahlkampfaktionen der Parteien. In
dem Zehn-Punkte-Plan,
den die Grünen im Mai als Bedingung für eine mögliche
Koalitionsbeteiligung veröffentlichten, wird zwar auch eine „klare
Kurskorrektur in der deutschen Europapolitik“ versprochen. Konkrete
Forderungen dazu sucht man jedoch vergeblich – stattdessen findet
man vage Formeln wie „Partnerschaft mit Respekt auf Augenhöhe“,
„Transparenz für Bürgerinnen und Bürger“ oder „mehr
Entscheidungsrechte für die Parlamente“.
Martin
Schulz wiederum scheint bereits in der Frühphase dieses Wahlkampfs beschlossen zu haben,
sich nicht als langjährigen, erfahrenen Europapolitiker, sondern als
neues Gesicht in der deutschen Politik und als Kandidat der einfachen
Leute zu inszenieren. Nach seiner Nominierung machte er deshalb die
soziale Gerechtigkeit zu seinem Kernthema und äußerte sich mit
Ausnahme eines Vortrags
im Juli kaum noch in prominenter Form zu Europathemen.
Damit überließ Schulz dieses Feld seiner Konkurrentin Angela Merkel
(CDU/EVP). Die Bundeskanzlerin nutzte in den letzten Tagen unter
anderem einen Pariser
Minigipfel zur Migrationspolitik, ein Treffen
mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) sowie
ihre
jährliche Sommer-Pressekonferenz, um daran zu erinnern, dass in
Europa derzeit kein Weg an ihr vorbeiführt. Zugleich achtete aber
auch sie darauf, dabei nicht allzu konkret zu werden – und auch
Juncker und Macron sind anscheinend damit einverstanden, Auseinandersetzungen über die Zukunft der EU fürs Erste nicht allzu öffentlich zu führen oder auf die Zeit nach der Bundestagswahl zu verschieben.
Auch
der Wahl-O-Mat hilft nicht weiter
Wenn
nun schon die Parteien einer öffentlichen Debatte aus dem Weg gehen,
könnten dann vielleicht andere Akteure der Europapolitik im
Bundestagswahlkampf eine größere Sichtbarkeit verschaffen? Ein
wichtiger Impulsgeber könnte beispielsweise der Wahl-O-Mat
der Bundeszentrale für politische Bildung sein, der bei jeder
deutschen Wahl millionenfach geklickt wird.
Die
Ausgabe zur
Bundestagswahl 2017, die am vergangenen Mittwoch veröffentlicht
wurde, ist für europapolitisch Interessierte jedoch eher
frustrierend. Von 38 Thesen befassen sich gerade einmal drei explizit
mit europapolitischen Fragen: Nummer 8 fragt nach einem
Schuldenschnitt für Griechenland, Nummer 24 nach der Rückkehr zu
einer nationalen Währung, Nummer 38 allgemein nach einer Verstärkung
der Zusammenarbeit unter den EU-Mitgliedstaaten. Besonders gravierend
ist dabei, dass sich die etablierten Parteien in Bezug auf die
letzten beiden Thesen überhaupt
nicht unterscheiden. Sämtliche derzeitige Bundestagsparteien und
die FDP sind gegen die Abschaffung des Euro und (mit Ausnahme der
Linke, die hier die „Neutral“-Option gewählt hat) für eine
verstärkte Zusammenarbeit in der EU. Nur in der Griechenland-Frage
ist die Varianz etwas höher.
Der
Wahl-O-Mat macht deshalb im Wesentlichen nur den Unterschied zwischen
der allgemeinen Europafreundlichkeit der politischen Mitte
einerseits und dem Nationalpopulismus der AfD und einiger
Kleinparteien andererseits erkennbar. Die europapolitischen
Gegensätze zwischen den Parteien, die realistische Aussichten auf
eine Regierungsbeteiligung haben, bleiben hingegen unsichtbar. Im schlimmsten Fall begünstigt das das populistische
Klischee, dass die etablierten Parteien alle gleich seien und Europagegner die einzige Alternative dazu böten. Jedenfalls aber hilft es nicht
weiter bei der Entscheidung, wer Deutschland in den nächsten vier
Jahren im EU-Ministerrat vertreten sollte.
Initiativen
aus der Zivilgesellschaft
Wird
die Europapolitik also auch in diesem Bundestagswahlkampf wieder
einmal nur eine Nebenrolle spielen? Bis zum Urnengang bleiben immerhin noch gut
drei Wochen – Zeit genug für die Parteien, um dem Thema doch noch
die angemessene Aufmerksamkeit zu schenken. Eine erste Gelegenheit dafür
könnte das Fernsehduell
zwischen Merkel und Schulz an diesem Sonntag sein, eine weitere
die Rede
zur Lage der Europäischen Union, die Jean-Claude Juncker am 13.
September halten wird.
Und
auch aus der Zivilgesellschaft wird es noch weitere Initiativen
geben, um der Europapolitik vor der Wahl mehr Sichtbarkeit zu
verschaffen. Nach dem europapolitischen
Wahlkompass auf diesem Blog präsentierten die Jungen Europäischen Föderalisten Sachsen sowie Polis 180 in den letzten Tagen ähnliche
Projekte (zu finden hier und hier). Am
kommenden Sonntag werden noch einmal in zahlreichen Städten
Demonstrationen von Pulse
of Europe stattfinden. Und auch The
European Moment bereitet zusammen mit anderen
Organisationen eine größere Aktion
vor, von der auf diesem Blog demnächst noch einmal die Rede sein wird. Wenn die Parteien diese Bälle aufgreifen, könnte Europa doch noch zum Wahlkampfthema werden.
Europäische und nationale Politik entflechten
Wetten sollte man darauf allerdings besser nicht abschließen. Denn die strukturellen Anreize für die Parteien, bei der Bundestagswahl lieber innenpolitische Themen in den Vordergrund zu stellen, sind hoch. Schließlich ist es die Hauptaufgabe eines nationalen Parlaments, über nationale Angelegenheiten zu entscheiden. In Bezug auf die Innenpolitik können die Parteien deshalb echte Wahlversprechen abgeben, wie sie das Land ändern wollen, wenn sie die nötige Mehrheit dazu erreichen. Europapolitisch können Bundestag oder Bundesregierung hingegen – trotz der starken Stellung Deutschlands in der EU – kaum etwas allein erreichen. Die Parteien können darum im Wahlkampf nur ankündigen, dass sie sich in den EU-Gremien für dieses oder jenes Ziel einsetzen würden: ein ungleich schwächeres Versprechen.
Dass bei einer nationalen Wahl vor allem über nationale Angelegenheiten diskutiert wird, sollte deshalb eigentlich niemanden verwundern; man könnte sogar sagen, dass es sich dabei um einen demokratischen Normalfall handelt. Nur sollten wir uns das auch bewusst machen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen für die institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Union ziehen: Wenn es normal ist, dass in nationalen Wahlkämpfen nicht über europäische Fragen diskutiert wird, dann kann sich auch die Legitimität der EU nicht primär auf die nationalen Regierungen und Parlamente stützen. Dann ist es an der Zeit, europäische und nationale Entscheidungen zu entflechten, die Rolle des Rates einzuschränken und die EU weiter in Richtung einer „Union der Bürger“ umzubauen, in deren Machtzentrum das Europäische Parlament stehen muss, das seine demokratische Legitimation aus der Europawahl bezieht.
Nur wird für eine solche institutionelle Weiterentwicklung der EU eine Vertragsreform notwendig sein, die nicht ohne die nationalen Regierungen und Parlamente möglich ist. Hoffen wir also, dass der Bundestag und die Bundesregierung, die aus der Wahl am 24. September hervorgehen werden, dazu bereit sind.
Dass bei einer nationalen Wahl vor allem über nationale Angelegenheiten diskutiert wird, sollte deshalb eigentlich niemanden verwundern; man könnte sogar sagen, dass es sich dabei um einen demokratischen Normalfall handelt. Nur sollten wir uns das auch bewusst machen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen für die institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Union ziehen: Wenn es normal ist, dass in nationalen Wahlkämpfen nicht über europäische Fragen diskutiert wird, dann kann sich auch die Legitimität der EU nicht primär auf die nationalen Regierungen und Parlamente stützen. Dann ist es an der Zeit, europäische und nationale Entscheidungen zu entflechten, die Rolle des Rates einzuschränken und die EU weiter in Richtung einer „Union der Bürger“ umzubauen, in deren Machtzentrum das Europäische Parlament stehen muss, das seine demokratische Legitimation aus der Europawahl bezieht.
Nur wird für eine solche institutionelle Weiterentwicklung der EU eine Vertragsreform notwendig sein, die nicht ohne die nationalen Regierungen und Parlamente möglich ist. Hoffen wir also, dass der Bundestag und die Bundesregierung, die aus der Wahl am 24. September hervorgehen werden, dazu bereit sind.
Bilder: Manuel Müller (Plakate SPD / Grüne), David Schrock (Plakat CDU).
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