D(e)F: Wenn Sie eines an der Funktionsweise der
Europäischen Union ändern könnten, was wäre es?
Christoph Möllers: Mir fielen verschiedene Antworten ein, zur
Organisation des Rates, der internen Struktur des Europäischen
Gerichtshofs, zu Abgaben oder zum europäischen Parteienwesen, aber
mein Punkt auf diese Frage ist doch ein anderer: Wir stehen jetzt in
einem Moment jenseits des institutional engineering. Die
Funktionsweise der EU an einem Punkt zu ändern würde gar nichts
nutzen, solange wir uns in einem so ernsthaften politischen Konflikt
über die EU befinden.
Wir müssen zusehen, dass dieser Konflikt auf der europäischen Ebene
ankommt und nicht zwischen Mitgliedstaaten stattfindet, aber das ist
eine Aufgabe für alle, die man nicht institutionell einfangen kann.
Seit der Einheitlichen Europäischen Akte hat sich das europäische
Gebilde rasant verändert. Seit den frühen 1990ern gibt es
Krisensymptome. Die politischen Prozesse sind nicht nachgewachsen,
die Gesellschaften haben sich nicht gleichermaßen europäisiert. Das
müsste jetzt nachgeholt werden und das geht wahrscheinlich nur in
einem dramatischen Konflikt.
Leitunterscheidungen in der Krise
Worin genau besteht dieser Konflikt über die EU? Wie würden Sie
die Konfliktparteien beschreiben, und welche möglichen Szenarien
sehen Sie für seinen Ausgang?
Ein Problem der gegenwärtigen Konstellation liegt darin, dass sich
zu viele verschiedene Konfliktachsen überlagern. Ideal wäre es,
wenn es eine genuin politische Leitunterscheidung à la rechts/links
oder Föderalisten/Republikaner gäbe, an die sich möglichst viele
Sachfragen anschließen könnten. So geschah es in der frühen
amerikanischen Republik. Stattdessen sehen wir einerseits eine Krise
der mitgliedstaatlichen Koalitionsbildung (die vielleicht durch
Emmanuel Macron gelindert werden könnte) und andererseits eine
Zersplitterung der europäischen Parteienlandschaft.
Insbesondere Migration und Euro werden in vielen Mitgliedstaaten als
existenzielle Fragen gesehen, aber hieraus entsteht keine stabile
Konfliktlinie. Im Europäischen Parlament dominiert eine große
Koalition, die bloß ihre Loyalität zum europäischen Projekt
verbindet. Im schlimmsten Fall wird dies die politische
Leitunterscheidung: für oder gegen die EU. Politikverdrossenheit,
die es ohnehin gibt, kristallisiert sich dann an dieser Frage.
Im günstigsten Fall entstünde, wie gesagt, eine eigene europäische
Politisierung. Das ist aber schon deswegen sehr unwahrscheinlich,
weil die politischen Leitunterscheidungen auch in allen
Mitgliedstaaten in der Krise sind. Wenn dort die Parteiensysteme
zerfallen, dann sind sie auch in der EU nicht zu halten.
Dissens über Sachfragen
Das klingt, als wäre die Krise im Kern doch eine der politischen
Parteien: Sie sind es schließlich, denen in einer repräsentativen
Demokratie normalerweise die Aufgabe zukommt, unübersichtliche
Konfliktfelder zu strukturieren. Wie kommt es, dass ihnen das in der
EU nicht mehr gelingt? Liegt es nur an der zunehmenden Komplexität
der Gesellschaft, durch die es für die Volksparteien immer schwerer
wird, ein Catch-all-Programm zu entwickeln? Oder gibt es hier doch
auch spezifische institutionelle Probleme der EU – etwa die hohen
Mehrheitserfordernisse im Gesetzgebungsverfahren, die de
facto eine
permanente große Koalition erzwingen und
dadurch Richtungsentscheidungen unmöglich machen?
Die Krisen den Institutionen angemessen zuzurechnen gehört zu
wichtigsten und schwierigsten Aufgaben, um die Probleme analysieren
zu können. Dass die Krise der Parteiendemokratie (die sich auch
außerhalb und unabhängig von der EU beobachten lässt) für die EU
relevant ist, liegt einmal daran, dass sie von den politischen
Prozessen ihrer Mitgliedstaaten abhängt, zum anderen daran, dass die
EU mit der institutionellen Stärkung des Parlaments und der
Verknüpfung von Parlament und Kommission auf ein Modell zusteuerte,
das auch auf der eigenen Ebene auf Parteien angewiesen ist.
Natürlich gibt es spezifische Mängel der EU-Institutionen. Aber es
ist durch den hohen Grad der Verflechtung gar nicht so einfach, diese
herauszuarbeiten. Ich glaube nicht, dass die Mehrheitsregeln das
Problem sind. Intergouvernementale Politik funktioniert nur mit viel
Konsens, solange sie nicht von politischen Lagern überwölbt wird.
Mein Eindruck ist auch hier, dass der politische Dissens über
Sachfragen, aber auch grundsätzlich über die Bedeutung von
Staatlichkeit, über die richtigen Außenbeziehungen wie auch die
gesellschaftliche und politische Diversität der Mitgliedstaaten, im
Moment mehr erklärt als die Institutionen.
Natürlich finden sich Fehlkonstruktionen, namentlich der Euro. Aber
man darf nicht vergessen, dass auch vor dem Euro große
Unzufriedenheit, etwa in Frankreich, über die Abhängigkeit von der
Mark herrschte. Ebenso spielt das institutionelle Selbstverständnis
europäischer Institutionen eine Rolle, etwa bei der Kommission. Aber
man würde sie überschätzen, wenn man behauptete, eine bessere
Kommission wäre die Lösung.
Die Debatte in die EU-Institutionen überführen
Nur wie lässt sich der bestehende Dissens über Sachprobleme
politisch auflösen, wenn man institutionell an der Konsensidee
festhalten will? Ist es denn realistisch zu erwarten, dass bei so
gravierenden Fragen wie in der Wirtschafts- oder der
Migrationspolitik jemals alle relevanten Akteure in Europa zu einer
gemeinsamen Linie finden werden? Und wäre das in einer pluralistischen Gesellschaft, die ihre
Dynamik ja gerade auch aus der Konkurrenz unterschiedlicher
Politikentwürfe gewinnt, überhaupt wünschenswert?
Mir ist der Punkt mit der Sachpolitik so wichtig, weil immer wieder,
etwa nach der Brexit-Entscheidung, vermeintlich Einigkeit darüber
herrschte, dass „die EU sich ändern muss“. Das klingt so, als
läge in deren Organisation das Problem. Aber hinter diesem
Formelkonsens stehen diametral entgegengesetzte Positionen etwa über
Euro- oder Flüchtlingspolitik, die der EU nicht vor die Füße
gelegt werden können.
Der Dissens wird sich nicht auflösen lassen, und in der Tat soll er
das auch gar nicht. Aber zum einen muss der Dissens auf die Sache
beschränkt sein: Man kann nicht gleichzeitig über die Sachfrage und
über die Legitimation der EU sprechen. Die Mitgliedstaaten haben
Sachprobleme ausgebeutet, um die EU als Institution anzugreifen und
sich selbst gegenüber ihr zu profilieren. Das hält sie auf Dauer
nicht aus.
Zum anderen muss die Debatte wieder mehr in die EU-Institutionen
überführt werden. Der Europäische Rat hat sich immer mehr
verselbstständigt, und Politik innerhalb der EU ist mehr denn seit
langem Diplomatie zwischen den Mitgliedstaaten. Anstatt sich dagegen
zu wehren, so mein Eindruck, ist die Europäische Kommission damit
zufrieden, bei solchen Verhandlungen dabei zu sein und dadurch ihre
eigenständige institutionelle Rolle selbst in Frage zu stellen.
All das ist deswegen so schwierig zu ändern, weil es informell
verläuft. Man kann es nicht per institutioneller Reform ändern. Die
Mitgliedstaaten müssten loslassen, sind dazu aber mit der Behauptung
nicht bereit, es fehle der EU an Legitimation – eine Behauptung,
die deswegen stimmt, weil die Mitgliedstaaten nicht loslassen …
Kein Nullsummenspiel
Die nationalen Regierungschefs stehen da natürlich auch vor einem
Dilemma: Einerseits sehen die meisten von ihnen ein, dass für viele
Sachfragen Lösungen nur auf europäischer Ebene möglich sind.
Andererseits wollen sie aber von einer nationalen Wählerschaft
wiedergewählt werden, und da ist eine aktive Rolle bei der
Gipfeldiplomatie des Europäischen Rates für das Image allemal
besser als „loszulassen“ und der Kommission oder dem Europäischen
Parlament wieder mehr Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen.
Ist das wirklich ein Dilemma? Oder ist es nicht die Normalität jeder
Föderation, in der man verschiedene politische Prozesse
übereinbringen muss? Natürlich pflegen die Bayern ihre politische
Eigenheit, aber doch nicht notwendig auf Kosten der Bundesrepublik.
Ich glaube nicht, dass es ein Nullsummenspiel politischer Ebenen
gibt. Der ganze Souveränitätsdiskurs führt in die Irre, aber die
Kunst, mit offensiver Europapolitik national erfolgreich zu sein,
muss erstritten und wieder erlernt werden. Und vielleicht lernt man
so etwas auch nur in einer Krise.
Aus der Defensive kommen
Als Musterbeispiel für eine national erfolgreiche offensive
Europapolitik gilt in diesen Wochen ja Emmanuel Macron, der mit
einem dezidiert kosmopolitischen Wahlkampf die
französische Präsidentschaftswahl gewann. Ist das ein Ansatz, den
politische Akteure in anderen Mitgliedstaaten kopieren sollten? Oder
ist Macrons Aufstieg eher Ausdruck einer gefährlichen Polarisierung
zwischen pro- und antieuropäischem Lager, in der nicht mehr über
politische Inhalte diskutiert wird, sondern die Fortexistenz der EU
selbst auf dem Spiel steht?
Macrons Bewegung sieht mir wie eine Flucht nach vorne aus. Man muss
sehen, was daraus wird, und kann dann versuchen, davon zu lernen.
Aber all das wäre nicht ohne eine politische Krise in Frankreich
geschehen, die man sich für kein Land wünschen kann.
In Deutschland müsste die SPD mit Martin Schulz die Rolle der Partei
übernehmen, die nicht nur defensive Europapolitik („so viel wie
nötig“) macht, sondern den Ausbau der EU als eine positive
Möglichkeit darstellt. Leider sieht man davon im Moment sehr wenig.
Wie gesagt, die Polarisierung gäbe es auch ohne die EU. Sie hat an
dieser nur ein passendes Objekt gefunden.
Ein attraktives politisches Projekt
Anders als in Frankreich scheint die EU in Deutschland gerade
allerdings eher wenig zu polarisieren. Jedenfalls kommt sie im
Bundestags-Vorwahlkampf bislang kaum vor, und den meisten Bürgern
würde es wohl schwerfallen, konkrete europapolitische Unterschiede
zwischen den großen Parteien zu benennen. Tatsächlich dürfte es –
trotz AfD – derzeit nur wenig europäische Länder geben, deren
öffentliche Debatte so stark von der „europäischen großen
Koalition“ geprägt ist wie Deutschland. Kann die Schulz-SPD in
dieser Situation eine offensivere Europapolitik einleiten, ohne
unglaubwürdig zu wirken?
Die Frage ist, ob es nicht notwendig wäre, in Deutschland die
kommenden europapolitischen Probleme vorwegzunehmen und positiv zu
wenden. Also das Narrativ von den fleißigen Deutschen, die alles
richtig machen, selbst in Frage zu stellen und offensiver sowohl über
unsere Vorteile und auch über unsere Abhängigkeit von der EU zu
sprechen – und daraus ein positives Projekt zu machen.
Das würde auch bedeuten, europäische Steuern, die Einbeziehung des
Europäischen Parlaments in den entstehenden europäischen
Finanzausgleich und vergleichbare Themen als eine politische
Möglichkeit zu formulieren, nicht nur als Bedrohung. Gerade im
Moment könnte das ein attraktives politisches Projekt sein.
Christoph Möllers ist Professor
für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie
an der Humboldt-Universität zu Berlin, Mitglied der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) sowie
Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, wo er das Programm
Recht
im Kontext leitet. 2016 gewann er den
Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Dieses Interview wurde im Mai/Juni 2017 per E-Mail geführt.
Bild: Christoph Möllers (alle Rechte vorbehalten).
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