- Geht es nach Haushaltskommissar Günther Oettinger, soll die EU bei der Verteilung von Fördergeldern künftig stärker ihre Muskeln spielen lassen.
Es
gibt Politikbereiche, in denen die Erwartungen an die Europäische
Union sehr hoch sind, ihre tatsächlichen Eingriffsmöglichkeiten
aber sehr gering. Einer dieser Bereiche ist die allgemeine
wirtschaftspolitische Steuerung: In einer Währungsunion muss die
Lohn-, Renten- und Arbeitsmarktpolitik aller Mitgliedstaaten
aufeinander abgestimmt sein, um gefährliche Auseinanderentwicklungen
von Produktivität und Inflationsrate zu verhindern. Trotzdem liegt
die Zuständigkeit dafür vor allem bei den nationalen Regierungen
und Parlamenten.
Nach
Art. 121 AEUV
sind die Mitgliedstaaten zwar gehalten, ihre Wirtschaftspolitik „als
eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“ zu betrachten. Die
Europäische Kommission arbeitet jedes Jahr „länderspezifische
Empfehlungen“ aus, die der Ministerrat dann offiziell
beschließt. Aber wenn sich ein Mitgliedstaat dafür entscheidet,
diese Empfehlungen einfach zu ignorieren (was eher
die Norm als die Ausnahme ist), kann die EU kaum etwas dagegen
tun. Harte Eingriffsmöglichkeiten in Form von finanziellen
Sanktionen hat sie nur bei drastischen
makroökonomischen Ungleichgewichten – oder wenn ein
Mitgliedstaat gegen
die Regeln zum Haushaltsdefizit verstößt.
Schutz
der europäischen Werte
Ein
zweiter, ganz anderer Bereich, in dem die Erwartungen an die EU
weitaus größer sind als ihre Handlungsmöglichkeiten, ist die
Garantie von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ihren
Mitgliedstaaten. Art.
2 EUV definiert die EU zwar als eine Wertegemeinschaft, doch wenn
nationale Regierungen ihre Länder auf autoritäre Abwege führen –
wie in
den letzten Jahren in Ungarn und Polen –, können die
europäischen Institutionen dagegen nicht
viel unternehmen.
Mit
den Stimmen von Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken und
einer tief gespaltenen Europäischen Volkspartei stimmte das
Europäische Parlament zwar vor
wenigen Wochen dafür, gegen Ungarn ein Verfahren nach Art.
7 EUV einzuleiten. Theoretisch könnte das zu jeder Art von
Sanktionen führen, etwa Geldbußen oder der Entzug von Stimmrechten.
Doch damit es dazu tatsächlich kommt, wäre ein einstimmiger
Beschluss im Europäischen Rat notwendig. Und da Ungarn und Polen
sich gegenseitig decken, wird es dazu in absehbarer Zeit nicht
kommen.
Suche
nach Zuckerbrot und Peitsche
Zwischen
den länderspezifischen Empfehlungen in der Wirtschaftspolitik und
dem Streit über nationale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gibt es
natürlich einige gravierende Unterschiede. Was
beide Bereiche miteinander
verbindet, ist aber die Notwendigkeit einer
gemeinsamen europäischen
Linie. Dass
die EU so schlecht in
der Lage ist, diese durchzusetzen, hat
ihrer Glaubwürdigkeit in
den letzten Jahren massiv
geschadet – und zwar sowohl
bei jenen, die die
entsprechenden Forderungen
der EU als eine Einmischung in die
nationale Souveränität
sehen,
als auch bei jenen,
die in der Sache auf der
Seite der EU-Institutionen
stehen, aber
von deren Zahnlosigkeit frustriert sind.
Es
ist deshalb nur nachvollziehbar, dass die Europäische
Kommission derzeit
nach Möglichkeiten
sucht, wie sie in
beiden Bereichen zu einem
besseren Durchgriff gelangen
könnte. Wenn
dabei die formale Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nicht angetastet
werden soll, bleibt letztlich nur eine Strategie von Zuckerbrot und
Peitsche: ein System aus
Anreizen und Sanktionen, das
die nationalen
Regierungen und Parlamente
dazu bringen
würde, quasi-freiwillig
den Vorgaben der EU zu
folgen. Dieses System müsste
niedrigschwelliger sein als
die schon existierenden Verfahren und
sollte sich möglichst
ohne Vertragsänderung in
Kraft setzen lassen.
Und
siehe da: Anscheinend
ist die
Europäische Kommission inzwischen fündig geworden.
EU-Strukturfonds
Am
gestrigen Dienstag jedenfalls stellte
der Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU/EVP) einige
Ideen vor, wie die Europäische
Kommission ab 2021 die EU-Strukturfonds ausgestalten möchte. Diese
Strukturfonds dienen eigentlich dazu, die
Entwicklungslücke zwischen den ärmeren und den reicheren Regionen
der EU zu schließen, indem
zum Beispiel Infrastrukturprojekte oder wirtschaftliche Innovationen
gefördert werden. Einige
dieser Fonds (speziell der Fonds
für regionale Entwicklung und
der Sozialfonds)
finanzieren
Projekte in allen EU-Ländern, wobei
für ärmere
Regionen mehr Mittel vorgesehen
sind als für reichere. Auf
den Kohäsionsfonds
können ausschließlich
die ärmeren Mitgliedstaaten
zugreifen.
Der
Gesamtumfang sowie die allgemeinen Förderregeln
dieser Fonds werden
im Rahmen des mehrjährigen
Finanzrahmens jeweils für
sieben Jahre im Voraus festgelegt, wobei
die nächste Periode ab 2021
beginnt. Um Geld aus dem
Fonds zu erhalten, müssen Projekte
bestimmten Zielen entsprechen (zum
Beispiel Energieeffizienz
fördern oder den grenzüberschreitenden Verkehr erleichtern).
Außerdem müssen
die Mitgliedstaaten oder
Regionen ebenfalls
einen Teil der Kosten
des geförderten Projekts
übernehmen. Und
Geld aus
dem Kohäsionsfonds gibt
es nur
für solche Staaten, deren
nationales Haushaltsdefizit nicht mehr als 3 Prozent beträgt.
Länderspezifische
Empfehlungen als Leitschnur für Fördermittel
Der
Ansatz, den Oettinger gestern präsentierte, zielt nun darauf ab,
neue
Bedingungen für eine Förderung aus den EU-Strukturfonds einzuführen
– und dadurch das
beschriebene System von Anreizen und Sanktionen zu schaffen, das
die Mitgliedstaaten
auf den gemeinsamen
europäischen Kurs drängen soll.
So
sollen die
länderspezifischen Empfehlungen künftig als eine Art Leitschnur
dienen, welche Art von Projekten durch die
Strukturfonds gefördert werden
kann. Staaten, denen
die Kommission in den länderspezifischen Empfehlungen einen Mangel
an digitaler Infrastruktur attestiert, müssten
zum Beispiel einen bestimmten
Teil des Geldes, das sie aus den Regionalfonds
erhalten, in den
Breitband-Ausbau
investieren. Staaten, die aus
Sicht der Kommission ihr
Kündigungsrecht lockern
müssen, bekämen
einen Teil ihrer Mittel
aus dem Sozialfonds
nur, um entsprechende
Liberalisierungsmaßnahmen abzufedern.
Präzisere Umsetzung
der europäischen Wirtschaftspolitik
Mir selbst scheint diese Koppelung der Strukturfonds an die länderspezifischen Empfehlungen
sehr einleuchtend: Bei den Strukturfonds handelt es sich schließlich um Geld der EU, mit den diese die
wirtschaftliche Entwicklung und den regionalen Zusammenhalt in Europa fördern will. Es ist deshalb nur logisch, dass die EU-Institutionen
auch die wirtschaftspolitische Strategie formulieren, mit der sie diese Ziele am besten zu erreichen meinen,
und diese Strategie in den Förderregeln festschreiben. Wenn diese Förderregeln künftig nicht mehr europaweit einheitlich sind, sondern
sich – ausgehend von den länderspezifischen Empfehlungen – je nach Land unterscheiden, dann bedeutet das nur, dass die EU ihre Strategie mit höherer Präzision umsetzen
kann. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden.
Der einzige Haken ist, wie die länderspezifischen Empfehlungen zustande kommen: Bislang werden diese von der Kommission ausgearbeitet und vom Ministerrat
formal beschlossen. Wenn sie künftig eine so zentrale Rolle für die Ausgabenpolitik der EU erhalten sollen, kann das aber nicht
genügen. Um sie demokratisch zu legitimieren, müsste dann vielmehr auch das Europäische Parlament ein Mitentscheidungsrecht über
die länderspezifischen Empfehlungen erhalten.
Politische
Bedingungen: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
Die
Koppelung an die länderspezifischen Empfehlungen ist aber noch nicht alles, was der Europäischen Kommission für
die Strukturfonds vorschwebt. Darüber hinaus schlägt Oettinger auch die Einführung bestimmter politischer Bedingungen vor: Der Zugang zu den Strukturfonds könnte künftig
auch davon abhängen, ob Mitgliedstaaten demokratische Werte einhalten und EU-Recht ordnungsgemäß umsetzen.
Diese
Idee klingt an Vorschläge etwa der schwedischen
Europaabgeordneten Cecilia Wikström (L/ALDE) oder des
österreichischen
Bundeskanzlers Christian Kern (SPÖ/SPE) an, die Mitgliedstaaten
Fördermittel
streichen wollen, wenn
sie entgegen
dem Ratsbeschluss von 2015 keine
Flüchtlinge aufnehmen.
Daneben scheint
Oettinger aber
auch explizit an Länder
wie Ungarn und Polen zu denken, die
nicht gegen spezifische
europarechtliche Vorgaben, sondern
allgemein gegen
die Werte der Union
verstoßen. Und wie es
aussieht, unterstützt
auch die deutsche Bundesregierung in
einem offiziellen Positionspapier
diesen Ansatz.
Auf
den ersten Blick verführerisch
Was
ist von dieser
Idee zu halten? Angesichts der Blockade im Artikel-7-Verfahren wirkt auch sie auf den ersten Blick natürlich sehr verführerisch: Die
Strukturfonds machen einen großen Anteil des EU-Haushalts aus, und gerade in den nord- und westeuropäischen Nettozahlerstaaten ist der Unwille groß, demokratisch
zweifelhafte und in der Flüchtlingskrise unsolidarische Staaten mit europäischen Finanzmitteln noch weiter zu unterstützen. Könnte
eine Kürzung von EU-Fördergeldern also das wirksamste Mittel sein, um autoritäre nationale Regierungen zur Räson zu bringen?
Auf den zweiten Blick wirft der Vorschlag allerdings auch eine Reihe von Fragen und Problemen
auf. Das beginnt ganz praktisch damit, dass der mehrjährige Finanzrahmen (und damit auch die Förderbedingungen der
Strukturfonds) von den nationalen Regierungen einstimmig beschlossen werden muss. Polen und Ungarn müssten der Möglichkeit, ihnen aufgrund von
Rechtsstaatsdefiziten Mittel zu streichen, also erst einmal selbst zustimmen.
Allerdings ist das nicht ganz so abwegig, wie es klingt: Die Verhandlungen um den mehrjährigen Finanzrahmen waren auch in der
Vergangenheit immer wieder schwierig und langwierig, doch am Ende hat kein einziger Staat ein Interesse daran,
sie komplett scheitern zu lassen. Auch Polen und Ungarn könnten sich deshalb
letztlich auf politische Bedingungen für die Strukturfonds einlassen,
wenn die Nettozahler bereit sind, ihnen an anderer Stelle entgegenzukommen.
Wer
entscheidet, ob Bedingungen erfüllt sind?
Problematischer scheint mir ein anderer Punkt: Wer soll eigentlich wie überprüfen, ob ein Staat die entsprechenden Bedingungen erfüllt? Bislang ist das einzige Verfahren, um
Verstöße von Mitgliedstaaten gegen die Werte der EU festzustellen, der in
der Praxis nicht anwendbare Artikel 7. Oettinger selbst gestand deshalb gestern zu, dass zunächst
einmal ein neues Verfahren entwickelt werde müsse, „wie wir einen
Mitgliedstaat jenseits seiner wirtschaftlichen Stärken und Schwächen
evaluieren“. Ob die politische Konditionalisierung der Strukturfonds funktionieren
kann oder nicht, wird entscheidend von diesem Verfahren abhängen. Vorschläge dazu will die Kommission
irgendwann in Zukunft vorlegen.
Die Idee, Strukturfonds an politische Bedingungen zu knüpfen, um damit die nationale Demokratie in den Mitgliedstaaten zu
schützen, wirft aber noch weitere, grundsätzlichere Probleme auf. Insbesondere ist ihre Wirksamkeit stark davon abhängig, wie sehr der betreffende
Mitgliedstaat tatsächlich auf die Strukturfonds angewiesen ist. Im Falle von Ungarn und Polen, die beide zu den ärmeren EU-Ländern zählen, mag
das durchaus der Fall sein. Was aber, wenn es das nächste Mal um Österreich oder die Niederlande geht?
Idee der Bürgerunion würde untergraben
Und schließlich stellt sich auch die Frage, mit welchem Selbstverständnis die EU eigentlich ihre Strukturfonds einsetzt.
Wie ich hier bereits
vor einigen Jahren geschrieben habe, entspricht das Prinzip „Wirtschaftshilfen gegen Demokratisierungsauflagen“ eher dem
Umgang mit Drittweltdiktaturen, nicht der Politik einer supranationalen Wertegemeinschaft. Denn die Strukturfonds sind ja keine
Geschenke an die Mitgliedstaaten, sondern dienen den wirtschaftspolitischen Zielen,
die die EU für sich selbst entwickelt hat – insbesondere dem europaweiten wirtschaftlichen Zusammenhalt.
Sie von Faktoren wie der nationalen Rechtsstaatlichkeitsperformance abhängig zu machen, würde das Erreichen dieser Ziele gefährden.
Die EU würde damit die Idee einer gesamteuropäischen Bürgerunion untergraben, in der wirtschaftlicher Zusammenhalt eben
nicht in erster Linie vom Verhalten der nationalen Regierungen abhängig ist, und ließe auch noch ausgerechnet jene ihrer Bürger im
Stich, die das Pech haben, in einem Land mit einer autoritären nationalen Regierung zu leben.
Es gibt Bereiche, in denen die EU mehr Möglichkeiten
braucht, um ihre politische Linie gegenüber den Mitgliedstaaten durchzusetzen, und es ist sicher sinnvoll, dabei auch die existierenden Instrumente wie die
EU-Strukturfonds besser zum Einsatz zu bringen. Doch wo es um essenzielle Fragen wie die Einhaltung der gemeinsamen Werte geht, wird allein ein kreativerer
Umgang mit Förderbedingungen nicht genügen, um die EU wieder glaubwürdig zu machen. Eine wehrhafte
supranationale Demokratie benötigt andere,
bessere Verfahren.
Bild: EU Science and Innovation [CC BY-ND 2.0], via Flickr.
Unabhängig von den anderen Einwänden: Handelt es sich nicht beim Rechtsstaatlichkeitsverfahren um eine Evaluierung eines Mitgliedstaates "jenseits seiner wirtschaftlichen Stärken und Schwächen"? Art. 7 EUV kommt doch erst in Phase III des Verfahrens zum Tragen.
AntwortenLöschenDas Rechtsstaatlichkeitsverfahren ist ein Verfahren, das sich die Kommission ausgedacht hat, um zu entscheiden, ob sie dem Rat vorschlägt, einen Beschluss nach Art. 7 EUV zu fassen. Insofern ist es natürlich durchaus eine "Evaluierung". Die Kommission hat aber nach den derzeitigen Verträgen nicht die Kompetenz, einen Verstoß gegen die Werte der Union rechtsverbindlich festzustellen.
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