Die
letzten Wochen waren für die Europäische Union wie eine Berg- und Talfahrt: Auf
der einen Seite feierte sie am 25. März ihren 60. Geburtstag mit einer gemeinsamen Erklärung von 27 Staats- und
Regierungschefs, begleitet von mehr als zehntausend Demonstranten,
die mit einem March for Europe weitere Integrationsfortschritte
forderten. Auf der anderen Seite reichte am 29. März die
britische Regierung den lange erwarteten Austrittsantrag nach Artikel 50 EUV ein
und eröffnete damit die Verhandlungen, die in zwei Jahren zum Brexit führen
sollen.
Und
dann gab es noch, von den Medien etwas weniger beachtet, neue Entwicklungen bei
der Frage, ob die EU in ihren Mitgliedstaaten auch auf nationaler Ebene
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit garantieren kann. Und die Aussichten sind
trüber denn je.
Viktor
Orbáns Machtübernahme
Ein
kurzer Rückblick: Die derzeitigen Sorgen der EU um die Demokratie in ihren
Mitgliedstaaten begannen mit dem Regierungsantritt von Viktor Orbán in Ungarn
im Mai 2010. Mit etwas mehr als der Hälfte der Stimmen hatte seine Partei
Fidesz (EVP) fast vier Fünftel der Sitze im nationalen Parlament gewonnen
und sah sich deshalb legitimiert und in der Lage, die konstitutionelle Basis
des Landes von Grund auf umzugestalten. Innerhalb von nur anderthalb Jahren
schränkte sie die Freiheit der Medien ein, brachte öffentlich-rechtliche
Kulturinstitutionen auf Regierungskurs, überarbeitete zum eigenen Vorteil den
Zuschnitt der Wahlkreise sowie das Gesetz zur Parteienfinanzierung und erließ
schließlich gegen die Stimmen der Opposition eine neue Verfassung, die unter
anderem die Rechte des Verfassungsgerichts einschränkte. Und das war erst der
Anfang.
In
der europäischen Öffentlichkeit sorgten diese Entwicklungen für einige
Betroffenheit, doch entschlossene Gegenmaßnahmen der EU-Institutionen blieben
aus. Denn Artikel 7 EUV enthält zwar grundsätzlich ein
Verfahren, um Mitgliedstaaten, die gegen die Werte der
EU (unter anderem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit) verstoßen, das
Stimmrecht im Ministerrat zu entziehen oder andere „Rechte auszusetzen, die
sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat
herleiten“. Doch um solche Sanktionen zu verhängen, ist ein einstimmiger
Beschluss aller anderen Mitgliedstaaten notwendig – eine Hürde, die so hoch
schien, dass die europäischen Institutionen gar nicht erst den Anlauf wagten.
Deckung
durch die Europäische Volkspartei
Gewiss:
Als Ungarn 2012 auf europäische Finanzhilfen angewiesen war, versuchte die
Europäische Kommission dies als Hebel für Zugeständnisse bei der Medienfreiheit zu
nutzen; und als 2014 die Posten in der neu gewählten Europäischen
Kommission verteilt wurden, wurde dem ungarischen Kandidaten Tibor Navracsics
(Fidesz/EVP) auf Drängen des Europäischen Parlaments die Zuständigkeit
für die Unionsbürgerschaft entzogen, sodass ihm nur das wenig
profilierte Kulturressort blieb. Ansonsten aber setzte man in Brüssel auf das
Prinzip Hoffnung. Schließlich handelte es sich bei Ungarn nur um einen einzelnen,
mittelgroßen Mitgliedstaat, der vielleicht früher oder später wieder zur
Vernunft kommen würde.
Dass
die EU gegenüber der ungarischen Regierung keine härtere Gangart einschlug, lag
freilich auch daran, dass die Fidesz der Europäischen Volkspartei angehört –
also der Dachpartei der europäischen Christdemokraten, die seit 1999 die
stärkste Fraktion im Europäischen Parlament, seit 2004 den Präsidenten der
Europäischen Kommission und seit 2009 den Präsidenten des Europäischen Rates
stellt. So nahm die EVP im Europäischen Parlament die ungarische Regierung immer wieder in Schutz und warf den übrigen
Fraktionen, die Sanktionen forderten, „politische Hysterie“ vor. Noch vor wenigen Wochen erklärte der EVP-Vorsitzende Joseph Daul, Orbán
sei das „enfant terrible“ der EVP-Familie, das man aber doch lieber „im Haus“
behalten wolle.
Der
Fall Polen
Die
Hoffnung, dass das ungarische Problem ein vorübergehender Einzelfall bleiben
würde, zerschlug sich indessen spätestens Ende 2015, als bei der Parlamentswahl in Polen die rechtskonservative
PiS eine absolute Mehrheit gewann und innerhalb weniger Wochen ganz ähnliche
Maßnahmen ergriff wie zuvor die Fidesz in Ungarn. Auch in Polen wurden das Verfassungsgericht geschwächt, öffentlich-rechtliche
Medien und Kulturinstitute auf Linie gebracht und die öffentliche Finanzierung
kritischer NGOs in Frage gestellt.
Anders
als die Fidesz hat die PiS allerdings kaum Freunde auf europäischer Ebene: Sie
gehört nicht der EVP an, sondern der europaskeptisch-rechtskonservativen Allianz der Konservativen und Reformer in Europa (AKRE).
Diese stellt zwar immerhin die drittgrößte Fraktion im Europäischen Parlament,
umfasst aber außer der PiS nur ein weiteres nationales Schwergewicht – nämlich
die britische Conservative Party, die durch das Brexit-Referendum mit ganz anderen
Problemen beschäftigt ist. Infolgedessen zögerten auch prominente
EVP-Politiker, die der Fidesz stets die Stange gehalten hatten,
nicht mit heftiger Kritik an der PiS-Regierung in Warschau.
Nur
einer stellte sich von Anfang an schützend vor die polnische Regierung: Viktor
Orbán selbst kündigte im Januar 2016 an, er werde EU-Sanktionen gegen Polen „niemals unterstützen“
und gegebenenfalls im Ministerrat sein Veto dagegen einlegen.
Das
Rechtsstaatlichkeitsverfahren
Die
Europäische Kommission setzte deshalb auch gegenüber Polen nicht auf eine
Strategie der direkten Konfrontation, sondern des langsam eskalierenden Drucks:
Mitte Januar 2016 leitete sie das sogenannte „Rechtsstaatlichkeitsverfahren“
ein, das sie erst zwei Jahre zuvor (auch in Reaktion auf die
ungarische Krise) neu entwickelt hatte.
Dieses
Rechtsstaatlichkeitsverfahren besteht in einer Art strukturierten Briefwechsel
zwischen der Kommission und der betreffenden nationalen Regierung. Die
Kommission äußert dabei ihre Bedenken, formuliert Empfehlungen und überprüft,
ob die Regierung sie umsetzt. Die nationale Regierung wiederum kann sich
bemühen, durch Erklärungen und eigene Maßnahmen die Bedenken der Kommission aus
der Welt zu räumen. Oder sie lässt es einfach bleiben und wartet ab, was
geschieht.
Vergebliche
Hoffnung auf Einlenken
Denn
letztlich ist das neue Rechtsstaatlichkeitsverfahren selbst folgenlos. Wenn der
betreffende Mitgliedstaat bis zuletzt nicht auf den Weg der Demokratie
zurückkehrt, bleibt als letzte Eskalationsstufe weiterhin nur Artikel 7 EUV.
Die Hoffnung der Kommission lag deshalb vor allem darin, durch das
strukturierte Verfahren öffentlichen Druck aufzubauen und dadurch die polnische
Regierung zum Einlenken zu bringen.
Etwas
mehr als ein Jahr später ist klar: Auch diese Hoffnung war vergebens. Nachdem im
Lauf des Jahres 2016 mehrere Briefe zwischen Brüssel und Warschau hin- und
hergeschickt wurden, ist das Rechtsstaatlichkeitsverfahren nun am Ende
angekommen. Ein letzter Brief der polnischen Regierung vom 20. Februar 2017
brachte keine Fortschritte. Die Europäische Kommission steht damit vor der
Entscheidung: Soll sie Artikel 7 anrufen und den Europäischen Rat um Sanktionen
bitten – auf die Gefahr hin, an einem Veto Ungarns zu scheitern? Oder gibt sie
klein bei und gesteht damit offen ein, dass sie keine Instrumente hat, um gegen
Mitgliedstaaten, die die Werte der EU verletzen, wirksam vorzugehen?
Die
Kommission wälzt die Verantwortung ab
In
dieser Situation entschied sich der zuständige Kommissions-Vizepräsident Frans
Timmermans (PvdA/SPE) für eine Taktik, die die Kommission in heiklen Fragen
zuletzt auch sonst gerne angewandt hat (siehe etwa hier und hier): Er versuchte die Verantwortung bei den
Mitgliedstaaten abzuwälzen. In einer Rede vor dem Europäischen Parlament kündigte er an, die Kommission wolle nicht „der
Held des Tages sein“ und ein Artikel-7-Verfahren auslösen. Stattdessen werde
sie die Angelegenheit den nationalen Regierungschefs übergeben und „der
Ratspräsidentschaft vorschlagen, das Thema bei der nächsten Gelegenheit
aufzunehmen“.
Im
Rat freilich stieß diese Ankündigung nicht gerade auf große Begeisterung. Am
25. März, dem Tag der EU-Geburtstagserklärung in Rom, erklärte die deutsche
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) in einem Fernsehinterview, sie wolle „erst mal in
der Substanz mit den Ländern [Ungarn und Polen] sprechen“ und finde „Drohung
jetzt nicht gut“. Man wird sich also bei Gelegenheit im Europäischen Rat über
das Thema Rechtsstaatlichkeit unterhalten. Konkrete Sanktionsmaßnahmen aber
stehen auch sieben Jahre nach Viktor Orbáns Machtübernahme noch immer nicht im
Raum.
Ein
Gesetz gegen die Central European University
Das
Signal, das von solcher Untätigkeit ausgeht, ist fatal – und wurde von der ungarischen Regierung offenbar verstanden. Am vergangenen Montag beschloss das ungarische Parlament im Eilverfahren ein
Gesetz, das vordergründig die Tätigkeit ausländischer Universitäten
in Ungarn reguliert, de facto aber nur die Schließung der Central European University
in Budapest zur Folge haben wird.
Die
CEU, eine international profilierte Privatuniversität, wurde einst mit dem Ziel
gegründet, die Demokratisierung der ostmitteleuropäischen Staaten
wissenschaftlich zu begleiten. Zu ihren wichtigsten Geldgebern gehört der
liberale Investor George Soros, Gründer der Open
Society Foundations, den Orbán schon seit langem im Mittelpunkt einer großen linken Verschwörung zur Zerstörung des Nationalstaats sieht.
Das
andere „Demokratiedefizit“ der EU
Ist
Europa also völlig hilflos, wenn es um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in
Ungarn und Polen geht? Im Moment sieht es jedenfalls nicht gut aus, und ein jüngst erschienener Aufsatz des Politikwissenschaftlers R.
Daniel Kelemen geht sogar so weit, die autoritären Entwicklungen in
einzelnen Mitgliedstaaten als das eigentliche „Demokratiedefizit“ der EU
anzusehen – ernsthafter und besorgniserregender als die unzureichende
demokratische Legitimität der EU-Institutionen selbst.
Durch
einen Vergleich mit anderen demokratisch-föderalen Systemen bietet Kelemen
allerdings auch eine Perspektive für die Zukunft: Die beste Chance, durch ein
Einschreiten der oberen Ebene regionalen Autoritarismus zu überwinden, besteht
demnach darin, dass „die Verbündeten des Autokraten ihre Verbindung mit ihm als
eine politische Belastung ansehen und Druck auf ihn ausüben, den Kurs zu
ändern“. Mit anderen Worten: Erst wenn die europäischen Christdemokraten
außerhalb Ungarns spüren, dass sie in der Öffentlichkeit für die Politik von
Viktor Orbán mitverantwortlich gemacht werden, werden sie auch die Machtmittel
nutzen, die sie ihm gegenüber zur Verfügung haben.
Druck
auf die Europäische Volkspartei
Wird
es dazu kommen? Wenigstens eines kann, trotz allem, vage optimistisch stimmen:
Im Mittelpunkt des Protests, den die geplante Schließung der Central European
University europaweit ausgelöst hat (und der sich unter dem Twitter-Hashtag #istandwithCEU
mitverfolgen lässt), steht nicht mehr allein die Fidesz, sondern auch die
Europäische Volkspartei. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller fand in der Süddeutschen Zeitung jüngst jedenfalls
klare Worte gegenüber den Christdemokraten, die einst die „Gründerväter der
europäischen Gemeinschaft“ waren und nun zulassen, wie „Europa langsam von
innen zerstört“ wird. Noch expliziter wurde Cas Mudde, ebenfalls
Politikwissenschaftler, der im Guardian die EVP dazu aufforderte, sich „zwischen Merkel
und Orbán, zwischen liberaler Demokratie und illiberaler Demokratie“ zu entscheiden.
Dass
die französischen Républicains oder die deutsche CDU durch Viktor Orbán ihre
Aussichten bei den nationalen Parlamentswahlen dieses Jahr gefährdet sehen,
dürfte trotzdem erst einmal ein frommer Wunsch bleiben. Aber immerhin: Wenn die europäischen Parteien in der Öffentlichkeit sichtbarer werden, kann das für die Demokratie nur nützlich
sein – nicht nur auf europäischer, sondern auch auf nationaler Ebene.
Bild: European People's Party [CC BY 2.0], via Flickr.
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