Noch
wenige Tage, dann jährt sich zum sechzigsten Mal der 25. März 1957,
an dem sich einst die Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs,
Italiens und der Benelux-Staaten in Rom trafen, um den Vertrag zur
Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu unterschreiben
– jenes Abkommen also, aus dem viele Jahre und Vertragsreformen
später der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
wurde. Doch so ein runder Geburtstag ist in der Politik natürlich
nicht nur Anlass zum Feiern, sondern immer auch eine Gelegenheit, um
neue Vorhaben in Gang zu bringen: Am 25. März 2007 zum Beispiel
verabschiedete der Europäische Rat die sogenannte Berliner
Erklärung, die den Auftakt zu den Verhandlungen über den
Vertrag von Lissabon bildete.
Für
dieses Jahr ist nun ein Gedenkgipfel in Rom geplant, bei dem es
wieder eine feierliche Erklärung der Staats- und Regierungschefs
geben soll. Geht es nach
dem italienischen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni (PD/SPE),
soll diese Erklärung nicht nur „das Projekt EU neu starten“,
sondern auch gleich „die Perspektiven für die nächsten zehn Jahre
legen“. Hinzu kommt, dass auch die britische Regierung in Kürze
ihren Entschluss zum Austritt aus der EU offiziell machen wird –
voraussichtlich wenige
Tage nach dem Gipfel. Es weht also ein Wind der Veränderung.
Aber wohin führt er uns?
Vorschläge
von Parlament und Kommission
Die
erste EU-Institution, die ihre Vorstellungen zur Zukunft der
europäischen Integration vorgelegt hat, war das Europäische
Parlament. Am 16. Februar verabschiedete es drei
Berichte mit Reformvorschlägen, die teils kurzfristig und ohne
allzu großen Aufwand umgesetzt werden könnten, teils ehrgeizige
Vertragsänderungen zur Demokratisierung der EU enthalten.
Am
1. März zog
nun auch die Europäische Kommission nach und präsentierte ein
30-seitiges „Weißbuch zur Zukunft Europas“ (Wortlaut),
das auch in den Medien auf einige Aufmerksamkeit stieß. Wer indessen
gehofft hatte, in diesem Weißbuch klare Zielvorstellungen der
Kommission zu finden, wurde enttäuscht. Anstelle eines Fahrplans für
die nächsten Jahre bot das Weißbuch nur einige recht allgemeine
Aussagen über Trends in der demografischen, wirtschaftlichen,
umwelt- und sicherheitspolitischen Entwicklung in Europa – sowie
fünf „Szenarien“, wie die EU sich bis zum Jahr 2025 entwickelt
haben könnte.
Die
fünf Szenarien des Weißbuchs
Über
diese fünf Szenarien wurde seitdem in den unterschiedlichsten Medien
geschrieben, und sie lassen sich auch einfach im
Original nachlesen. Deshalb hier nur eine kurze Zusammenfassung:
●
Szenario 1, „Weiter wie bisher“, ist eine bloße
Bestätigung des derzeitigen Kurses der EU, wie er in den politischen
Leitlinien der Kommission Juncker nach der Europawahl 2014 und in
der Bratislava-Erklärung
der 27 Staats- und Regierungschefs nach dem Brexit-Referendum
2016 festgelegt wurde. Aus Sicht der Kommission würde diese
„positive Agenda […] weiterhin zu konkreten Ergebnissen“
führen, wobei aber „ernsthafte Differenzen“ zwischen den
Mitgliedstaaten nicht ausgeschlossen sind.
●
Szenario 2, „Schwerpunkt Binnenmarkt“, wäre ein Rückbau
der EU zu einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft. EU-Regulierungen
würden massiv abgebaut; außen-, sicherheits-, umwelt- oder
sozialpolitische Fragen wären allein Sache der Nationalstaaten oder
müssten ad hoc in zwischenstaatlichen Verträgen geregelt werden.
●
Szenario 3, „Wer mehr will, tut mehr“, würde es Gruppen
von Mitgliedstaaten erlauben, in bestimmten Bereichen – etwa
Verteidigungs-, Sicherheits- oder Steuerpolitik – enger
zusammenzuarbeiten, während andere beim Status quo (Szenario 1)
verbleiben. Das Ergebnis wäre also ein „Kerneuropa“ oder „Europa
der verschiedenen Geschwindigkeiten“.
●
Szenario 4, „Weniger, aber effizienter“, beinhaltet eine
starke Prioritätensetzung bei der Tätigkeit der EU, sodass es in
manchen Bereichen deutlich mehr, in anderen deutlich weniger
gemeinsame Regeln gäbe als heute. Als mögliche Schwerpunkte der
Zusammenarbeit schlägt die Kommission
„Innovation,
Handel, Sicherheit, Migration, Grenzmanagement und Verteidigung“,
„Exzellenz
in Forschung und Entwicklung“, „Dekarbonisierung und
Digitalisierung“ vor. Weniger aktiv wäre die EU hingegen in
Bereichen wie „die Regionalentwicklung, die öffentliche Gesundheit
oder Teile der Beschäftigungs- und Sozialpolitik“, „Kontrolle
staatlicher Beihilfen“, „Verbraucher-, Umwelt- und
Arbeitsschutz“.
●
Szenario 5, „Viel mehr gemeinsames Handeln“, beschreibt
die Maximallösung: Von der Außen- über die Sicherheits- und
Umwelt- bis zur Wirtschaftspolitik „in allen Bereichen mehr
Machtbefugnisse und Ressourcen zu teilen und Entscheidungen gemeinsam
zu treffen“. Dabei sieht die Kommission allerdings „die Gefahr,
dass sich Teile der Gesellschaft von der EU abwenden, die das Gefühl
haben, der EU mangele es an Legitimität bzw. sie hätte den
nationalen Behörden zu viel Macht abgenommen“.
Kritik
am Weißbuch
Dass
das Weißbuch nur Szenarien und keine klaren Richtungsvorgaben
enthielt, führte nach der Veröffentlichung schnell zu Kritik. Josef
Janning vom European Council on Foreign Relations etwa bemerkte
etwas bissig, das Papier lese sich wie ein
„Standard-Think-Tank-Bericht von vor zehn Jahren“; Nicolai von
Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik äußerte
sich ähnlich. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion
im Europäischen Parlament, Gianni Pittella (PD/SPE), machte
seiner „Enttäuschung“ Luft, der Parteichef der Europäischen
Grünen, Reinhard Bütikofer (Grüne/EGP), bemängelte
fehlenden Mut der Kommission, der liberale Europaabgeordnete
Alexander Graf Lambsdorff (FDP/ALDE) kritisierte
das Weißbuch als „Sammelsurium“.
Liest
man etwas zwischen den Zeilen, fällt es allerdings gar so nicht
schwer, die Präferenzen der Kommission zu erkennen. Für Szenario 1
hätte man das Weißbuch schließlich überhaupt nicht erst
gebraucht, und die Szenarien 2 und 5 sind so deutlich als
Extremvorschläge gekennzeichnet, dass sie in der politischen Debatte
schnell
vom Tisch gewischt werden können.
Alles
sieht also danach aus, dass die Kommission unsere Aufmerksamkeit in
Wirklichkeit vor allem auf die Szenarien 3 und 4 lenken will. Das ist
nicht weiter verwunderlich, schließlich geistert das „Europa der
verschiedenen Geschwindigkeiten“ schon seit längerem immer
öfter durch die europäische Debatte. Und dass die EU
konsequenter Prioritäten setzen müsse, predigen Kommissionschef
Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) und sein Vize Frans Timmermans
(PvdA/SPE) bereits
seit ihrem Amtsantritt: „Groß in großen Dingen und klein in
kleinen Dingen“ gehörte zu Junckers
Slogans vor der Europawahl 2014.
Bloße Szenarien sind für eine politische Kommission zu wenig
Einige
Beobachter sehen in dem Weißbuch deshalb auch eine geschickte
Strategie der Kommission. Für Mark Dawson, Professor an der Hertie
School of Governance in Berlin, spielt Juncker damit den
Ball an die nationalen Regierungen zurück und zwingt sie so, den
künftigen Kurs der EU selbst zu verantworten. Ähnlich
sieht das Lüder Gerken vom Centrum für Europäische Politik.
Und
dennoch scheint mir für das Weißbuch dasselbe zu gelten, das ich
vor kurzem über
die Komitologie-Reform geschrieben habe: Wenn Juncker, wie er
2014 ankündigte, eine „politische Kommission“ leiten will, dann
darf er sich nicht auf diese Weise aus der Verantwortung stehlen. Die
Kommission hat den Auftrag, im politischen Prozess das
gesamteuropäische Interesse zu vertreten und in diesem Sinne
Vorschläge zu machen. Szenarien zu skizzieren und sich ansonsten
hinter den nationalen Regierungen zu verstecken – das ist eher das
Verhalten eines „Generalsekretariat des Rates“, das Juncker vor
seiner Wahl explizit nicht werden wollte.
Das
Weißbuch umgeht die wichtigste Frage
Noch
gravierender aber ist, dass auch die Szenarien selbst nicht gründlich
durchdacht wirken und in vieler Hinsicht oberflächlich bleiben.
Insbesondere finden sich darin keinerlei Erklärungen zu
institutionellen Reformen. In dem Papier selbst wird das zwar mit der
Behauptung verbrämt, man habe diese Aspekte „bewusst ausgespart –
die Form wird der Funktion folgen“. Doch in Wirklichkeit umgeht die
Kommission damit nur die wichtigste aller Zukunftsfragen der
Europäischen Union: die Frage nach der europäischen Demokratie.
Entsprechend
flach bleiben auch die Überlegungen der Kommission zur Legitimität
und Akzeptanz der EU in der Bevölkerung. Geht es nach dem Weißbuch,
so liegt das Hauptproblem in einer „Kluft zwischen Versprechen und
Realität“ der EU. Diese Kluft entstehe zum einen dadurch, dass
Europapolitik „nicht gut genug erklärt“ werde, zum anderen
dadurch, dass die „tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten“ der EU
nicht den an sie gestellten Erwartungen entsprächen.
Output-Legitimation
ist nicht genug
Offensichtlich
setzt die Kommission bei der Lösung des europäischen
Akzeptanzproblems also allein auf das, was in der Politikwissenschaft
als „Output-Legitimation“ bezeichnet wird: Die EU soll eine
Politik betreiben, mit der die Menschen zufrieden sind. Nur so
erklärt sich auch, dass die Bewertung von Szenario 1 in dem Weißbuch
letztlich recht optimistisch ausfällt. Wenigstens nach ihrem eigenen
Selbstbild hat die Kommission in den letzten Jahren ja bereits eine
„positive Agenda“ eingeleitet – deren Fortsetzung dann
natürlich irgendwann auch positive Resultate zeigen müsste.
Dabei
ignoriert die Kommission jedoch, dass es bei komplexen politischen
Fragen kein einfaches Richtig oder Falsch gibt. So zählen zu der
„positiven Agenda“ in Szenario 1 explizit auch Themen wie
Freihandel und Terrorismusbekämpfung, zu denen unterschiedliche
Menschen legitimerweise sehr unterschiedliche Ansichten haben. Hier
allein auf Output-Legitimation zu setzen, muss scheitern.
Ohne
institutionelle Reform gibt es keine Lösung
Nötig
ist stattdessen mehr Input-Legitimation: also Verfahren, durch die
sich die Bürger selbst an der europäischen Politik beteiligen
können und das Gefühl gewinnen, dass die zuletzt getroffene
Entscheidung – ob sie sie im Einzelnen begrüßen oder nicht –
das Ergebnis einer fairen demokratischen Willensbildung ist. Dieser
Mangel an Input-Legitimation ist die wohl größte Schwäche der EU
in ihrer heutigen Form, und ohne institutionelle Reformen wird sich
dafür keine Lösung finden lassen.
Tatsächlich
ist die Frage der institutionellen Ausgestaltung so wichtig, dass
sich ohne sie auch über die fünf Weißbuch-Szenarien nicht sinnvoll
diskutieren lässt. Ob zum Beispiel „viel mehr gemeinsames Handeln“
wie in Szenario 5 wünschenswert ist oder nicht, hängt wesentlich davon ab, ob
dieses gemeinsame Handeln im Europäischen Parlament stattfindet oder
im Europäischen Rat. Und mindestens ebenso wichtig wie die Frage, ob
die EU wie in Szenario 4 Prioritäten setzen sollte, ist die Frage,
wer darüber entscheidet, welche Prioritäten das sind. Dass
die Kommission sich vor diesen Fragen drückt, macht ihr Weißbuch
weitgehend unbrauchbar.
Von
Demokratie wird in Rom wohl keine Rede sein
Besonders
enttäuschend aber ist, dass das Europäische Parlament in seinen
drei Berichten vom 16. Februar durchaus institutionelle
Reformvorschläge gemacht hatte, etwa was die Überarbeitung des
Europawahlrechts oder die Abschaffung nationaler Vetorechte im Rat
betrifft. Indem die Kommission diese Vorschläge in keiner Weise
aufgriff, gab sie den nationalen Regierungen eine Steilvorlage, sie
auf dem Gipfel von Rom am 25. März ebenfalls zu ignorieren. In einem
Entwurf
für die Erklärung von Rom, der vor einigen Tagen bekannt wurde,
findet sich zu institutionellen Fragen jedenfalls nur ein einzelner,
kärglicher Satz mit dem Versprechen eines „effektiveren und
transparenteren Entscheidungsprozesses“. Von Demokratie ist in dem
ganzen Dokument hingegen kein einziges Mal die Rede.
In
Rom wird ein Wind der Veränderung wehen. Doch mit ihrem Weißbuch
hat die Kommission dazu beigetragen, dass es dort – wenigstens fürs
Erste – in den entscheidenden Zukunftsfragen der EU wohl weiterhin
keine Bewegung geben wird.
Bild: SilverStack [CC BY-NC 2.0], via Flickr.
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