„Die Kommission ist kein technischer
Ausschuss von hervorragenden hohen Beamten, die an die Weisungen eines anderen
Organs gebunden sind. Die Kommission ist politisch. Ich möchte, dass sie noch
politischer wird. Sie wird sehr politisch sein.“
Jean-Claude
Juncker, Politische
Leitlinien, 15. Juli 2014
Er
wolle eine
„politische Kommission“ leiten: Das war das zentrale Thema in den ersten
Monaten der Amtszeit von Jean-Claude Juncker (CSV/EVP). Als erster Kommissionspräsident,
der nach dem Spitzenkandidaten-Verfahren gewählt wurde, besitzt er eine größere
demokratische Legitimität als seine Vorgänger. Und diese demokratische
Legitimität wollte er einsetzen, um den Ruf der Technokratie zu überwinden, der
der Kommission bis heute anhaftet, um eigene Prioritäten zu setzen,
Richtungsentscheidungen zu treffen – kurz: um politische Verantwortung zu
übernehmen.
Leider,
so musste Juncker seitdem feststellen, macht man sich mit der Übernahme
politischer Verantwortung immer auch angreifbar, und manchmal sogar unbeliebt. Etwa
wenn man ein
umstrittenes Pestizid wie Glyphosat zulässt. Oder wenn man Genmais
erlaubt. Oder die
Verwendung bestimmter Medikamente verbietet. Was die Kommission aber ganz
besonders ärgert, ist, wenn sie für diese Entscheidungen von Mitgliedstaaten
kritisiert wird, die zuvor intern grünes Licht gegeben haben.
Und darum will sie nun das Komitologie-Verfahren reformieren.
Und darum will sie nun das Komitologie-Verfahren reformieren.
Durchführungsverordnungen
Kurz
zum Hintergrund: In parlamentarischen Demokratien ist es üblich, dass Vorschriften
in Gesetzen oft nur abstrakt formuliert werden, während die konkrete Umsetzung
der Regierung überlassen bleibt. Dafür kann die Regierung vom Gesetzgeber
ermächtigt werden, eigene Durchführungsrechtsakte zu erlassen (die in
Deutschland als „Rechtsverordnung“
bezeichnet werden). Die Regierung hat dadurch einen gewissen Spielraum, auf
welche Weise sie die Vorgaben eines Gesetzes genau verwirklicht. Alle
wesentlichen Entscheidungen liegen aber in der Hand des Gesetzgebers, also des
Parlaments.
Ein
ähnliches Verfahren gibt es auch auf europäischer Ebene, wobei die Umsetzung von
europäischen Rechtsakten normalerweise in der Hand der nationalen Regierungen
liegt. Wenn es jedoch notwendig ist, dass ein bestimmter Rechtsakt europaweit
einheitlich umgesetzt wird, kann nach Art. 291 Abs. 2 AEUV auch
die Europäische Kommission ermächtigt werden, Durchführungsverordnungen zu
erlassen. So bestimmt zum Beispiel ein 2009
erlassener EU-Rechtsakt, unter welchen Bedingungen und nach welchen
Verfahren Pestizide in der EU zugelassen werden dürfen. Die konkrete Umsetzung
dieses Rechtsakts erfolgte dann in Form einer Durchführungsverordnung
der Kommission, in der die einzelnen zugelassenen Mittel (darunter das
umstrittene Glyphosat) aufgelistet sind.
Komitologie
Allerdings
ist die Kommission beim Erlass eines solchen Durchführungsrechtsakts nicht
völlig frei. Denn zum einen ist sie natürlich an die Vorgaben des ursprünglichen
Rechtsakts gebunden, mit dessen Umsetzung sie beauftragt wurde. Und zum anderen
wird sie bei der Ausübung ihrer Durchführungsbefugnisse von den nationalen
Mitgliedstaaten kontrolliert – nach einem Verfahren, das in Art. 291 Abs. 3 AEUV begründet
und in einer Verordnung
von 2011 im Einzelnen geregelt ist. Dieses Verfahren ist im Brüsseler
Jargon als „Komitologie“ bekannt.
Im
Zentrum des Komitologie-Verfahrens stehen Expertenausschüsse, in die jeder
Mitgliedstaat einen Vertreter schickt. Dieser Ausschuss prüft den von der Kommission
geplanten Durchführungsrechtsakt und kann ihn entweder bestätigen oder
ablehnen. Lehnt er ihn ab, kann sich die Kommission an einen Berufungsausschuss
wenden, in dem ebenfalls ein Vertreter pro Mitgliedstaat sitzt – allerdings in
der Regel keine Fachexperten, sondern Diplomaten mit einer stärker politischen
Perspektive. Lehnt auch der Berufungsausschuss den Durchführungsrechtsakt ab,
so ist dieser endgültig gescheitert. Im Prinzip besitzt die Kommission für ihre
Entscheidungen also immer auch die Unterstützung einer Mehrheit der nationalen
Regierungen.
Nationale
Regierungen drücken sich vor brisanten Fällen
Allerdings
nur im Prinzip. Denn in Wirklichkeit wird in den Komitologie-Ausschüssen nicht mit
einfacher Mehrheit abgestimmt, sondern mit der qualifizierten Mehrheit nach Art. 238 AEUV. Um einen
geplanten Durchführungsrechtsakt zu bestätigen oder zu verwerfen, sind deshalb
immer die Stimmen von mindestens 55% der Ausschussmitglieder nötig, deren
Herkunftsländer zusammen mindestens 65% der EU-Bevölkerung umfassen müssen. Ist
der Ausschuss so gespalten, dass keine der beiden Seiten auf eine entsprechende
Mehrheit kommt, gibt er offiziell „keine Stellungnahme“ ab. In diesem Fall kann
die Kommission den geplanten Durchführungsrechtsakt nach eigenem Ermessen erlassen
oder verwerfen.
Außerdem
können sich die Ausschussmitglieder auch enthalten. In diesem Fall wird ihre
Stimme keiner der beiden Seiten zugerechnet, was die Wahrscheinlichkeit eines „Keine
Stellungnahme“-Votums erhöht. Und schließlich kommt hinzu, dass das gesamte Verfahren
nicht-öffentlich ist. Die Medien haben also in der Regel keine Möglichkeit zu
erfahren, wie ein bestimmtes Land im Komitologie-Ausschuss abgestimmt hat.
In
politisch brisanten Fällen – etwa dem Glyphosat-Streit oder auch in einem vor
kurzem abgeschlossenen Verfahren
zur Zulassung bestimmter Genmais-Sorten – neigen die Mitgliedstaaten
deshalb dazu, sich durch Enthaltungen vor einer Entscheidung zu drücken und so die
Verantwortung vollständig der Europäischen Kommission zuzuschieben. Diese
wird dadurch zum öffentlichen Buhmann, während die nationalen Regierungen ihre Hände
in scheinbarer Unschuld waschen.
Reformvorschläge
der Kommission
Das
allerdings will die Kommission nicht länger auf sich sitzen lassen, und so hat
sie vor einigen Tagen einen Vorschlag
zur Reform des Komitologie-Verfahrens vorgelegt (mehr dazu zum Beispiel hier
und hier).
Im Einzelnen will sie dabei:
●
Enthaltungen bei Abstimmungen im Ausschuss nicht mehr mitzählen lassen, sodass es
leichter wird, eine qualifizierte Mehrheit für oder gegen einen geplanten Durchführungsrechtsakt
zu erhalten;
●
das Abstimmungsverhalten im Berufungsausschuss transparent machen, sodass öffentlich
wird, welcher Mitgliedstaat wie abgestimmt hat;
●
einen Berufungsausschuss „auf Ministerebene“ einführen, den die Kommission als
weitere Instanz anrufen könnte, wenn der Berufungsausschuss zu keiner
Stellungnahme kam;
●
die Möglichkeit einführen, dass die Kommission eine unverbindliche Stellungnahme
des Ministerrats anfordert, wenn der Berufungsausschuss zu keiner Stellungnahme
kam.
Die
Stoßrichtung des Vorschlags ist klar: Die Kommission will die Regierungen der Mitgliedstaaten
stärker in das Komitologie-Verfahren einbinden und zugleich den öffentlichen
Druck auf sie erhöhen. Im nächsten Glyphosat- oder Genmais-Konflikt sollen die
nationalen Minister gezwungen sein, selbst Position zu beziehen, und dafür gegebenenfalls
die Prügel der Öffentlichkeit einstecken. Fälle, in denen die Kommission am
Ende allein entscheidet, soll es hingegen möglichst gar nicht mehr geben.
Ein vergiftetes
Geschenk
Damit
diese Änderungen in Kraft treten, müssen sie allerdings noch vom Europäischen
Parlament und vom Ministerrat bestätigt werden, und es wird spannend zu
beobachten, ob
das passieren wird. Denn einerseits können sich die nationalen Regierungen wohl
nicht gut entziehen, wenn die Kommission ihnen mehr Mitspracherechte anbietet. Andererseits
aber verstehen sie natürlich auch, dass das ein vergiftetes Geschenk ist, weil
sie die Möglichkeit verlieren würden, unangenehme Entscheidungen auf die Kommission
abzuwälzen.
Aber
einmal davon abgesehen, ob die Komitologie-Reform wirklich kommen wird oder
nicht: Gehen die Vorschläge denn in die richtige Richtung?
Ein Versuch,
sich der politischen Verantwortung zu entziehen
Auf
der einen Seite scheint mir die Absicht der Kommission bei ihrem
Reformvorschlag völlig nachvollziehbar. Das „Spiel über Bande“, das die
nationalen Regierungen seit vielen Jahren treiben, indem sie unpopuläre Beschlüsse
in Brüssel zulassen, ohne vor der nationalen Öffentlichkeit die Verantwortung dafür
zu übernehmen, ist natürlich unerträglich heuchlerisch. Das
Komitologie-Verfahren soll die Legitimität europäischer Entscheidungen erhöhen,
indem die Kommission sich von den Mitgliedstaaten überwachen lässt. Wenn die
nationalen Regierungen dieser Aufgabe nicht nachkommen, sollen sie wenigstens
keinen politischen Profit daraus ziehen können.
Auf
der anderen Seite aber sollte eigentlich auch die Kommission den Mut haben, zu ihren
eigenen Entscheidungen zu stehen – denn genau dafür ist sie ja gewählt. Wenn
Jean-Claude Juncker sich hinter den Komitologie-Ausschüssen verstecken will,
dann läuft das seinem eigenen Leitbild einer „politischen Kommission“ diametral
entgegen. Letztlich tut er damit nichts anderes als die nationalen Regierungen auch:
Er versucht, sich der politischen Verantwortung für kontroverse Entscheidungen
zu entziehen.
Die intergouvernementale
Schlagseite der Komitologie
Und
noch etwas fällt an den Reformvorschlägen auf, nämlich die völlige Abwesenheit
des Europäischen Parlaments. Tatsächlich hatte das Komitologie-Verfahren schon
immer eine intergouvernementale Schlagseite: Während europäische Rechtsakte vom
Europäischen Parlament und von den nationalen Regierungen im Ministerrat gemeinsam
erlassen werden, können nur Letztere auch deren Durchführung durch die Kommission
beeinflussen.
Indem
die Komitologie-Reform die nationalen Regierungen aufwertet und den Ministerrat
sogar direkt in das Verfahren einbindet, würde sie diese Asymmetrie noch
verstärken. Die Letztentscheidung über kontroverse Durchführungsakte läge künftig
beim Rat (der sie nicht haben will). Das Parlament hingegen, das als einziges EU-Organ
direkt gewählt ist und deshalb die größte Legitimität hat, um strittige Fragen
zu lösen, bliebe weiterhin außen vor.
Die Kommission muss
entscheiden, ob sie „politisch“ sein will
Wie
also könnte eine sinnvolle Lösung aussehen? Langfristig wäre es wohl am besten,
man würde das Komitologie-Verfahren gänzlich abschaffen und dafür die Kontrolle
des Europäischen Parlaments über die Kommission verbessern – zum Beispiel durch
die Einführung eines Misstrauensvotums, durch das eine absolute Mehrheit der
Europaabgeordneten die Kommission zum Rücktritt zwingen kann. Damit entstünde eine
direkte und kontinuierliche Bindung der Kommission an die Parlamentsmehrheit,
womit auch ohne Komitologie die demokratische Legitimität ihrer Durchführungsrechtsakte
gewährleistet wäre.
Kurzfristig
aber muss vor allem die Kommission sich entscheiden, ob sie wirklich „politisch“
sein will. Die vorgeschlagene Reform des Komitologie-Verfahrens
weist jedenfalls eher in die entgegengesetzte Richtung – in die Richtung einer ängstlichen
Technokratie, die wichtige Fragen lieber den nationalen Regierungen lässt, statt selbst in der Öffentlichkeit die Verantwortung für ihre
Entscheidungen zu übernehmen.
Bild: European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
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