23 Dezember 2016

Was die EU im Jahr 2017 erwartet

„Ein solches Jahr habe ich jedenfalls noch nicht erlebt und kann nur hoffen, dass es 2016 besser wird.“
Martin Schulz (SPD/SPE), Präsident des Europäischen Parlaments, 17. Dezember 2015

Zeit für ein wenig Besinnlichkeit. Die nächste Polykrise kommt bestimmt.

Es wurde dann 2016 leider doch nicht besser: Von den Problemen, die die EU zur Jahreswende 2015/16 beschäftigt haben, sind die meisten bis heute ungelöst, und das ein oder andere ist noch neu hinzugekommen. Auch ein Jahr nach Martin Schulzʼ Stoßseufzer hören sich Zustandsbeschreibungen der EU deshalb oft reichlich düster an. Der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) zum Beispiel sprach jüngst von einer „Polykrise“, in der es „an allen Ecken und Enden brennt. Nicht nur an europäischen Ecken und Enden. Aber dort, wo es außerhalb Europas brennt, verlängert sich die Feuersbrunst nach Europa.“

Welche Ecken und Enden das sind, dazu hier ein (natürlich unvollständiger) Überblick.

Personalwechsel

Gleich zu Beginn des Jahres stehen eine Reihe von personellen Veränderungen in den europäischen Institutionen an: Nach fünf Jahren Amtszeit tritt Martin Schulz als Parlamentspräsident ab, um sich künftig der deutschen nationalen Politik zuzuwenden. Über seinen Nachfolger wird derzeit heftig gestritten – so sehr, dass sogar von einem Ende der europäischen Großen Koalition die Rede ist. Aussichtsreichste Kandidaten sind Antonio Tajani (FI/EVP) und Gianni Pittella (PD/SPE); die Wahl findet am 17. Januar statt.

Aber nicht nur der Parlamentspräsident wird neu gewählt: Auch die Amtszeit von Donald Tusk (PO/EVP) als Präsident des Europäischen Rates läuft Ende Mai 2017 aus. Ob er noch einmal für zweieinhalb Jahre wiederernannt wird, ist fraglich. Sollte sich Tajani als Parlamentspräsident durchsetzen, könnten die Sozialdemokraten im Gegenzug den Ratsvorsitz für sich einfordern – und Tusk besitzt nicht einmal die Unterstützung seiner eigenen nationalen Regierungschefin Beata Szydło (PiS/AKRE). Allerdings ist völlig unklar, welcher Sozialdemokrat an Tusks Stelle treten könnte. Üblicherweise geht das Amt an einen ehemaligen Regierungschef. Spekuliert wird etwa über die Dänin Helle Thorning-Schmidt (S/SPE), den Österreicher Werner Faymann (SPÖ/SPE) oder auch den Italiener Matteo Renzi (PS/SPE).

Parallel dazu gibt es bereits im Januar auch in der Kommission einige Umstellungen: Nach dem Abgang der bisherigen Haushaltskommissarin Kristalina Georgiewa (GERB/EVP) zur Weltbank soll der bisherige Digitalkommissar Günther Oettinger (CDU/EVP) ihr Amt übernehmen. An wen Oettingers Ressort dann geht, ist allerdings unklar – auch weil die bulgarische Regierung noch keinen Nachfolger für Georgiewa nominiert hat. Außerdem muss sich Oettinger vor dem Ressortwechsel am 9. Januar noch einer Anhörung im Europäischen Parlament stellen, bei der nach seinen Skandalen im Herbst einige Kritik zu erwarten ist.

Frankreich, Deutschland und die Wahlerfolge der Rechten

Aber nicht nur in den EU-Institutionen wird es neue Gesichter geben, auch auf nationaler Ebene stehen in mehreren großen Mitgliedstaaten Wahlen an. Und anders als 2016, wo die meisten nationalen Wahlen in der EU eher unspektakulär verliefen, könnten sie dieses Jahr einige Wellen schlagen. Insbesondere könnten rechtspopulistische Parteien ihre guten Umfragewerte nun in mehreren Ländern erstmals auch in konkrete Wahlerfolge umsetzen.

Den Anfang machen dabei die Niederlande, wo am 15. März gewählt wird und die rechte PVV (ENF-nah) unter Geert Wilders gute Chancen hat, die neue stärkste Kraft zu werden. Es folgt Frankreich, wo im April/Mai der Staatspräsident und im Juni das Parlament neu gewählt wird und wo mit Marine Le Pen (FN/ENF) die bekannteste Symbolfigur der europäischen Rechten auf dem Wahlzettel steht. Im September schließlich wird der deutsche Bundestag gewählt, wobei mit der AfD (ENF-nah) erstmals seit vielen Jahrzehnten eine Partei rechts der Christdemokratie ins Parlament einziehen könnte. Nur bei den Parlamentswahlen in Bulgarien und Tschechien ist 2017 nicht mit einem größeren Erfolg rechter Parteien zu rechnen.

Ob die Rechten am Ende des Jahres tatsächlich in einem dieser Länder mitregieren, ist allerdings zweifelhaft. In den Niederlanden, wo das Parteiensystem stark zersplittert ist, bräuchte die PVV für eine Regierungsbildung mindestens zwei Koalitionspartner. In Frankreich wird Le Pen den Umfragen zufolge zwar in die Stichwahl gelangen, dort aber an François Fillon (LR/EVP) scheitern. In Deutschland schließen alle anderen Parteien eine Zusammenarbeit mit der AfD bislang aus. Und trotzdem: In diesem Jahr werden rechte Parteien in der europäischen Politik stärker präsent sein als je zuvor.

Großbritannien und der Brexit

Aber natürlich wird es auch im Wahlkampfjahr 2017 nicht nur um Köpfe, sondern auch um Sachfragen gehen. Mit Sicherheit ganz oben auf der Tagesordnung wird dabei der Brexit stehen: Die Regierung unter Theresa May (Cons./AKRE) will spätestens bis Ende März den offiziellen Austrittsantrag nach Art. 50 EUV stellen und damit die Austrittsverhandlungen einleiten.

Für diese Verhandlungen sind vertragsgemäß nur zwei Jahre vorgesehen, und die EU hat auch ein Interesse daran, sie pünktlich abzuschließen, um für die Europawahl im Sommer 2019 Rechtsklarheit zu haben. Es ist deshalb klar, dass sie sehr intensiv werden und keine Zeit zu verlieren ist. Völlig offen ist hingegen, was May eigentlich inhaltlich erreichen will. Tatsächlich hat Großbritannien beim Brexit nur die Wahl zwischen mehreren schlechten Optionen, und die Regierung hat sich bis jetzt offenbar noch nicht für eine davon entschieden. Die EU kann hier also erst einmal nur abwarten – und darüber nachdenken, wie sie mit jenen Briten umgehen will, die niemals austreten wollten und nun um ihre Unionsbürgerschaft fürchten.

Polen und die Wertegemeinschaft

Dringender als der Brexit ist für die EU eine andere Frage: Nachdem die ungarische Regierung unter Viktor Orbán (Fidesz/EVP) schon seit mehreren Jahren die Demokratie in ihrem Land untergräbt, ist nun auch Polen unter Beata Szydło (PiS/AKRE) auf dem Weg in ein autoritäres Regime. Die Europäische Kommission reagierte darauf, indem sie Anfang Januar 2016 den sogenannten „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“ aktivierte. Allerdings handelt es sich dabei letztlich nur um eine Abfolge von immer strenger formulierten Mahnschreiben, die die polnische Regierung bislang weitgehend ignoriert hat.

Vor einigen Tagen hat die Kommission deshalb eine letzte Frist von zwei Monaten gesetzt. Wenn diese abgelaufen ist, bleibt als nächster Eskalationsschritt eigentlich nur noch ein Verfahren nach Art. 7 EUV, mit dem der Rat gegen einen Mitgliedstaat vorgehen kann, der gegen die Grundwerte der EU verstößt. Für Sanktionen ist allerdings Einstimmigkeit unter den Regierungschefs notwendig, die es nicht geben wird, da Viktor Orbán Szydło unterstützt. Wenn die EU als demokratische „Wertegemeinschaft“ nicht ihre Glaubwürdigkeit verlieren will, muss sie sich deshalb schnell nach alternativen Möglichkeiten im Umgang mit Polen umsehen.

Italien und die Bankenkrise

Eine „Polykrise“ ganz eigener Art macht unterdessen Italien durch: Nach dem Scheitern des Verfassungsreferendums vom 4. Dezember und dem Rücktritt von Ministerpräsident Matteo Renzi (PD/SPE) hat dort jüngst Paolo Gentiloni (PD/SPE) die Regierung übernommen. Nicht nur die Opposition, sondern auch die regierenden Sozialdemokraten wollen so bald wie möglich Neuwahlen herbeiführen. Allerdings muss dafür zunächst das Wahlgesetz geändert werden, da das derzeit gültige Wahlrecht ohne die gescheiterte Verfassungsänderung fast sicher zu einer politischen Blockade führen würde. Wahlrechtsreformen aber sind in Italien (wie anderswo) immer hoch umstritten. Es könnte also sein, dass die Übergangsregierung Gentiloni länger im Amt bleibt als erwartet.

Gleichzeitig erlebt Italien derzeit eine Finanzkrise, in deren Mittelpunkt die marode Bank Monte dei Paschi di Siena steht. Nachdem der Versuch einer Rettung durch Privatinvestoren gescheitert ist, versucht die Regierung nun einen staatlichen Rettungsschirm aufzuspannen. Dafür benötigt sie jedoch eine Erlaubnis der EU, die seit einigen Jahren eigentlich bemüht ist, den Kreislauf von Banken- und Staatsverschuldung zu durchbrechen. Derzeit sieht es so aus, als ob beide Seiten sich auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Im schlimmsten Fall aber könnte die Verbindung aus politischer und wirtschaftlicher Instabilität in Italien die Eurokrise, die seit einer Weile aus den Schlagzeilen verschwunden ist, mit voller Wucht zurückkehren lassen.

Griechenland und die Arbeitslosigkeit

Aber nicht nur in Rom, auch in Athen droht eine neue Eskalation. Nachdem die griechische Regierung unter Alexis Tsipras (Syriza/EL) im Sommer 2015 die Spar- und Privatisierungsauflagen der Eurogruppe akzeptiert und dann auch weitgehend umgesetzt hatte, war es stiller um das einstige Krisenland geworden. Nicht zuletzt infolge dieser Sparpolitik gibt es inzwischen jedoch hunderttausende griechische Familien, die weder Arbeit haben noch staatliche Unterstützung erhalten. Die Umfragewerte der Syriza sind deshalb drastisch gesunken, was Tsipras nun wieder in die Offensive treibt.

Kurz vor Weihnachten kündigte Tsipras deshalb einige Erleichterungen für die griechische Bevölkerung an, die er zuvor nicht mit den anderen EU-Regierungen abgesprochen hatte. Als Reaktion stoppte die Eurogruppe eine bereits beschlossene Schuldenerleichterung für Griechenland. Wie der Konflikt nun weitergeht, ist ungewiss. Auf jeden Fall aber wird das Leid der griechischen Bevölkerung für die EU 2017 wieder ein größeres Politikum sein als im vergangenen Jahr.

Donald Trump und die EU-Armee

Aber wie Juncker sagte: Nicht alle brennenden Ecken haben ihren Ursprung in Europa. 2017 wird auch das Jahr, in dem Donald Trump sein Amt als Präsident der USA antritt, und die Folgen werden weltweit zu spüren sein. Das betrifft den Weltklimavertrag ebenso wie die Vereinten Nationen, den Umgang mit Atomwaffen ebenso wie die Zukunft der NATO.

Gerade die Sorge, dass die USA sich unter Trump im nordatlantischen Verteidigungsbündnis weniger engagieren als bisher, könnte die EU dazu bringen, ein eigenes Vorhaben voranzutreiben, das vor allem Konservative schon seit längerem als möglichen künftigen Integrationsmotor sehen: den Aufbau einer EU-Armee. Einen ersten Vorstoß in diese Richtung machte Juncker bereits Anfang 2015, in jüngerer Zeit kam die „Verteidigungsunion“ wieder auf die Tagesordnung. Der Ukraine-Konflikt und die wahrgenommene Bedrohung des Baltikums durch Russland tragen ihren Teil dazu bei. Spektakuläre Fortschritte sollte man in dieser Sache allerdings auch 2017 nicht erwarten. Die politischen und verfassungsrechtlichen Hürden sind und bleiben enorm.

Die CETA-Ratifikation

Ein anderes Thema dürfte sich durch Trumps Präsidentschaft erst einmal erledigt haben: Dass das umstrittene europäisch-amerikanische Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP in absehbarer Zeit unterschriftsreif wird, glaubt derzeit niemand mehr. Trotzdem dürfte die Handelspolitik die EU auch im nächsten Jahr weiter beschäftigen. Denn nachdem im vergangenen Oktober das europäisch-kanadische Wirtschaftsabkommen CETA nach langem Hin und Her unterzeichnet wurde, steht nun die Ratifizierungsphase an.

Für diese Ratifikation müssen dem Abkommen einerseits das Europäische Parlament und der Ministerrat zustimmen, andererseits aber auch alle nationalen (sowie in einigen Ländern regionale) Parlamente. Die CETA-Gegner werden deshalb wohl noch einmal mit allen Kräften gegen das Abkommen mobilisieren – gerade in den Wahlkampfländern Frankreich und Deutschland.

Die Türkei und die Flüchtlinge

Und schließlich wird die EU 2017 natürlich auch die Flüchtlingsfrage weiterhin beschäftigen. Bei der großen Asylreform, die die Kommission im vergangenen Juli vorgeschlagen hat, gab es bislang noch keine nennenswerten Fortschritte. Hauptgegner des Vorschlags sind die vier Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, die sich nur auf ein Modell „flexibler Solidarität“ einlassen wollen, bei dem letztlich jeder Mitgliedstaat selbst entscheidet, welchen Beitrag er zur gemeinsamen Flüchtlingspolitik leisten will. Im neuen Jahr werden die Verhandlungen weitergehen, die Erfolgsaussichten sind ungewiss.

In der Zwischenzeit setzt die EU in der Flüchtlingspolitik voll auf das Abkommen mit der Türkei, durch das seit Ende März alle irregulären Migranten, die über die Türkei in die EU gelangen, in die Türkei zurückgeschickt werden. Zusammen mit der Schließung der Westbalkan-Route führte dieses Abkommen zu einem deutlichen Rückgang der neu ankommenden Flüchtlinge (aufgrund der Verlagerung auf riskantere Routen aber auch zu einem Anstieg der Toten im Mittelmeer).

Allerdings macht sich die EU damit auch von der Türkei abhängig – was angesichts der autoritären Entwicklung der Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan (AKP/AKRE) zunehmend zum politischen Problem wird. Die europäische Migrationspolitik kreist damit immer mehr um die Frage, wie viel Zusammenarbeit sich mit dem türkischen Regime noch rechtfertigen lässt. Fürs Erste sind die Signale widersprüchlich: Während das Europäische Parlament gerne die seit 2005 laufenden Verhandlungen über einen türkischen EU-Beitritt aussetzen will, hat die Europäische Kommission jüngst das Flüchtlingsabkommen verteidigt und eine Vertiefung der europäisch-türkischen Zollunion angekündigt.

50 Jahre Römische Verträge

Bei all diesen Krisen gibt es aber auch etwas, worauf sich die EU freuen kann: Am 25. März 2017 ist der sechzigste Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge, mit denen einst die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, ein Vorläufer der EU, gegründet wurde. Den letzten runden Jahrestag nutzte der Europäische Rat 2007, um in der „Berliner Erklärung“ Verhandlungen über eine neue Vertragsreform anzukündigen – den einige Monate später unterzeichneten Vertrag von Lissabon.

Gibt es Hoffnung, dass es 2017 eine ähnliche Initiative gibt? Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE), der als Berichterstatter des Europäischen Parlaments Vorschläge für eine institutionelle Reform der EU ausgearbeitet hat, hat den 25. März immerhin schon einmal als Eröffnungsdatum für einen neuen Europäischen Konvent ins Spiel gebracht. Daraus wird zwar wahrscheinlich nichts werden. In der Kommission und im Europäischen Rat denkt man für den Jahrestag eher an ein unverbindliches Dokument mit einer „Zukunftsvision“, die zu nicht allzu viel verpflichten würde.

Aber vielleicht hält das neue Jahr für Europa ja doch auch noch die ein oder andere erfreuliche Überraschung bereit.

Und damit geht dieses Blog in seine alljährliche Winterpause. Allen Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein gutes Jahr 2017!

Bild: By Ingo Lauer [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

1 Kommentar:

  1. Die Nato wird nicht mehr funktionieren und die Russen haben einen furchtbaren Appetit. Wir brauchen unbedingt eine europäische Armee! Und eine funktionierende europäische Grenzkontrolle! Und man soll bestimmten Länder die Möglichkeit geben vom Euro raus zu kommen. Dann wird man sich hier in Europa sicherer fühlen. Europa wird nicht von anderen Ländern ernst genommen, eben weil wir nicht einig sind und keine gemeinsame Armee haben. Danke.

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