„Ein solches Jahr habe ich jedenfalls noch nicht erlebt und kann nur
hoffen, dass es 2016 besser wird.“
Martin
Schulz (SPD/SPE), Präsident des Europäischen Parlaments, 17.
Dezember 2015
Es
wurde dann 2016 leider doch nicht besser: Von
den Problemen, die die EU zur
Jahreswende 2015/16 beschäftigt haben, sind
die meisten bis heute
ungelöst, und
das ein oder andere ist noch neu hinzugekommen. Auch ein Jahr
nach Martin Schulzʼ
Stoßseufzer hören
sich Zustandsbeschreibungen der EU deshalb
oft reichlich düster an.
Der Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) zum
Beispiel sprach
jüngst von einer „Polykrise“, in der es „an allen Ecken
und Enden brennt. Nicht
nur an europäischen Ecken und Enden. Aber dort, wo es außerhalb
Europas brennt, verlängert sich die Feuersbrunst nach Europa.“
Welche
Ecken und Enden das sind, dazu hier ein (natürlich unvollständiger)
Überblick.
Personalwechsel
Gleich
zu Beginn des Jahres stehen eine Reihe von personellen Veränderungen
in den europäischen Institutionen an: Nach fünf Jahren Amtszeit
tritt Martin Schulz als Parlamentspräsident ab, um sich künftig der
deutschen nationalen Politik zuzuwenden. Über seinen Nachfolger wird
derzeit heftig gestritten – so sehr, dass sogar von einem Ende
der europäischen Großen Koalition die Rede ist.
Aussichtsreichste Kandidaten sind Antonio Tajani (FI/EVP) und Gianni
Pittella (PD/SPE); die Wahl findet am 17. Januar statt.
Aber
nicht nur der Parlamentspräsident wird neu gewählt: Auch die
Amtszeit von Donald Tusk (PO/EVP) als Präsident des Europäischen
Rates läuft Ende Mai 2017 aus. Ob er noch einmal für zweieinhalb
Jahre wiederernannt wird, ist fraglich. Sollte sich Tajani als
Parlamentspräsident durchsetzen, könnten die Sozialdemokraten im
Gegenzug den Ratsvorsitz für sich einfordern – und Tusk besitzt
nicht einmal die Unterstützung seiner eigenen nationalen
Regierungschefin Beata Szydło
(PiS/AKRE). Allerdings ist völlig unklar, welcher Sozialdemokrat an
Tusks Stelle treten könnte. Üblicherweise geht das Amt an einen
ehemaligen Regierungschef. Spekuliert wird etwa über die Dänin
Helle
Thorning-Schmidt (S/SPE), den Österreicher Werner
Faymann (SPÖ/SPE) oder auch den Italiener Matteo
Renzi (PS/SPE).
Parallel
dazu gibt es bereits im Januar auch in der Kommission einige
Umstellungen: Nach dem Abgang der bisherigen Haushaltskommissarin
Kristalina Georgiewa (GERB/EVP) zur Weltbank soll der bisherige
Digitalkommissar Günther Oettinger (CDU/EVP) ihr Amt übernehmen. An
wen Oettingers Ressort dann geht, ist
allerdings unklar – auch weil die bulgarische Regierung noch
keinen Nachfolger für Georgiewa nominiert hat. Außerdem muss
sich Oettinger vor dem Ressortwechsel am 9. Januar noch einer
Anhörung im Europäischen Parlament stellen, bei der nach
seinen Skandalen im Herbst einige Kritik zu erwarten ist.
Frankreich, Deutschland und die Wahlerfolge der Rechten
Aber
nicht nur in den EU-Institutionen wird es neue Gesichter geben, auch
auf nationaler Ebene stehen in
mehreren großen Mitgliedstaaten Wahlen an. Und anders als 2016,
wo die meisten nationalen Wahlen in der EU eher unspektakulär
verliefen, könnten sie dieses Jahr einige Wellen schlagen.
Insbesondere könnten rechtspopulistische Parteien ihre guten
Umfragewerte nun in mehreren Ländern erstmals
auch in konkrete Wahlerfolge umsetzen.
Den
Anfang machen dabei die Niederlande,
wo am 15. März gewählt wird und die rechte PVV (ENF-nah) unter
Geert Wilders gute Chancen hat, die neue stärkste Kraft zu werden.
Es folgt Frankreich, wo im April/Mai der Staatspräsident
und im Juni das Parlament
neu gewählt wird und wo mit Marine Le Pen (FN/ENF) die bekannteste
Symbolfigur der europäischen Rechten auf dem Wahlzettel steht. Im
September schließlich wird der deutsche
Bundestag gewählt, wobei mit der AfD (ENF-nah) erstmals seit
vielen Jahrzehnten eine Partei rechts der Christdemokratie ins
Parlament einziehen könnte. Nur bei den Parlamentswahlen in
Bulgarien
und Tschechien
ist 2017 nicht mit einem größeren Erfolg rechter Parteien zu
rechnen.
Ob
die Rechten am Ende des Jahres tatsächlich in einem dieser Länder
mitregieren, ist allerdings zweifelhaft. In den Niederlanden, wo das
Parteiensystem stark zersplittert ist, bräuchte die PVV für eine
Regierungsbildung mindestens zwei Koalitionspartner. In Frankreich
wird Le Pen den Umfragen zufolge zwar in die Stichwahl gelangen, dort
aber an François Fillon (LR/EVP) scheitern. In Deutschland schließen
alle anderen Parteien eine Zusammenarbeit mit der AfD bislang aus.
Und trotzdem: In diesem Jahr werden rechte Parteien in der
europäischen Politik stärker präsent sein als je zuvor.
Großbritannien
und der Brexit
Aber
natürlich wird es auch im Wahlkampfjahr 2017 nicht nur um Köpfe,
sondern auch um Sachfragen gehen. Mit Sicherheit ganz oben auf der
Tagesordnung wird dabei der Brexit stehen: Die Regierung unter
Theresa May (Cons./AKRE) will spätestens bis Ende März den
offiziellen Austrittsantrag nach Art.
50 EUV stellen und damit die Austrittsverhandlungen einleiten.
Für
diese Verhandlungen sind vertragsgemäß nur zwei Jahre vorgesehen,
und die EU hat auch ein Interesse daran, sie pünktlich
abzuschließen, um für die Europawahl im Sommer 2019 Rechtsklarheit
zu haben. Es ist deshalb klar, dass sie sehr intensiv werden und
keine Zeit zu verlieren ist. Völlig offen ist hingegen, was May
eigentlich inhaltlich erreichen will. Tatsächlich hat Großbritannien
beim
Brexit nur die Wahl zwischen mehreren schlechten Optionen, und
die Regierung hat sich bis jetzt offenbar noch nicht für eine davon
entschieden. Die EU kann hier also erst einmal nur abwarten – und
darüber nachdenken, wie sie mit
jenen Briten umgehen will, die niemals austreten wollten und nun um
ihre Unionsbürgerschaft fürchten.
Polen
und die Wertegemeinschaft
Dringender
als der Brexit ist für die EU eine andere Frage: Nachdem die
ungarische Regierung unter Viktor Orbán (Fidesz/EVP) schon seit
mehreren Jahren die Demokratie in ihrem Land untergräbt, ist nun
auch Polen unter Beata Szydło
(PiS/AKRE) auf
dem Weg in ein autoritäres Regime. Die Europäische Kommission
reagierte darauf, indem sie Anfang Januar 2016 den sogenannten
„Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“
aktivierte. Allerdings handelt es sich dabei letztlich nur um eine
Abfolge von immer strenger formulierten Mahnschreiben, die die
polnische Regierung bislang weitgehend
ignoriert hat.
Vor
einigen Tagen hat die Kommission deshalb eine
letzte Frist von zwei Monaten gesetzt. Wenn diese abgelaufen ist,
bleibt als nächster Eskalationsschritt eigentlich nur noch ein
Verfahren nach Art. 7
EUV, mit dem der Rat gegen einen Mitgliedstaat vorgehen kann, der
gegen die Grundwerte der EU verstößt. Für Sanktionen ist
allerdings Einstimmigkeit unter den Regierungschefs notwendig, die es
nicht geben wird, da Viktor Orbán Szydło
unterstützt. Wenn die EU als demokratische „Wertegemeinschaft“
nicht ihre Glaubwürdigkeit verlieren will, muss sie sich deshalb
schnell nach
alternativen Möglichkeiten im Umgang mit Polen umsehen.
Italien
und die Bankenkrise
Eine
„Polykrise“ ganz eigener Art macht unterdessen Italien durch:
Nach dem Scheitern des Verfassungsreferendums
vom 4. Dezember und dem Rücktritt von Ministerpräsident Matteo
Renzi (PD/SPE) hat dort jüngst Paolo Gentiloni (PD/SPE) die
Regierung übernommen. Nicht nur die Opposition, sondern auch die
regierenden Sozialdemokraten wollen so bald wie möglich Neuwahlen
herbeiführen. Allerdings muss dafür zunächst das Wahlgesetz
geändert werden, da das derzeit gültige Wahlrecht ohne die
gescheiterte Verfassungsänderung fast sicher zu einer politischen
Blockade führen würde. Wahlrechtsreformen aber sind in Italien (wie
anderswo) immer hoch umstritten. Es könnte also sein, dass die
Übergangsregierung Gentiloni länger im Amt bleibt als erwartet.
Gleichzeitig
erlebt Italien derzeit eine Finanzkrise, in deren Mittelpunkt die
marode Bank Monte dei Paschi di Siena steht. Nachdem der Versuch
einer Rettung durch Privatinvestoren gescheitert ist, versucht die
Regierung nun einen
staatlichen Rettungsschirm aufzuspannen. Dafür benötigt sie
jedoch eine Erlaubnis der EU, die seit einigen Jahren eigentlich
bemüht ist, den Kreislauf von Banken- und Staatsverschuldung zu
durchbrechen. Derzeit sieht es so aus, als ob beide Seiten sich
auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Im schlimmsten Fall
aber könnte die Verbindung aus politischer und wirtschaftlicher Instabilität in Italien die Eurokrise, die seit einer Weile aus den Schlagzeilen
verschwunden ist, mit
voller Wucht zurückkehren lassen.
Griechenland
und die Arbeitslosigkeit
Aber
nicht nur in Rom, auch in Athen droht eine neue Eskalation. Nachdem
die griechische Regierung unter Alexis Tsipras (Syriza/EL) im
Sommer 2015 die Spar- und Privatisierungsauflagen der Eurogruppe
akzeptiert und dann auch weitgehend umgesetzt hatte, war es
stiller um das einstige Krisenland geworden. Nicht zuletzt infolge
dieser Sparpolitik gibt es inzwischen jedoch hunderttausende
griechische Familien, die weder
Arbeit haben noch staatliche Unterstützung erhalten. Die
Umfragewerte der Syriza sind deshalb drastisch gesunken, was Tsipras
nun wieder in die Offensive treibt.
Kurz
vor Weihnachten kündigte Tsipras deshalb einige
Erleichterungen für die griechische Bevölkerung an, die er
zuvor nicht mit den anderen EU-Regierungen abgesprochen hatte. Als
Reaktion stoppte
die Eurogruppe eine bereits beschlossene
Schuldenerleichterung für Griechenland. Wie der Konflikt nun
weitergeht, ist ungewiss. Auf jeden Fall aber wird das Leid der
griechischen Bevölkerung für die EU 2017 wieder ein größeres
Politikum sein als im vergangenen Jahr.
Donald
Trump und die EU-Armee
Aber
wie Juncker sagte: Nicht alle brennenden Ecken haben ihren Ursprung
in Europa. 2017 wird auch das Jahr, in dem Donald Trump sein Amt als
Präsident der USA antritt, und die Folgen werden weltweit zu spüren
sein. Das betrifft den Weltklimavertrag
ebenso wie die Vereinten
Nationen, den Umgang
mit Atomwaffen ebenso wie die Zukunft
der NATO.
Gerade
die Sorge, dass die USA sich unter Trump im nordatlantischen
Verteidigungsbündnis weniger engagieren als bisher, könnte die EU
dazu bringen, ein eigenes Vorhaben voranzutreiben, das vor allem
Konservative schon seit längerem als möglichen künftigen
Integrationsmotor sehen: den Aufbau einer EU-Armee. Einen ersten
Vorstoß in diese Richtung machte Juncker bereits Anfang 2015, in
jüngerer Zeit kam die „Verteidigungsunion“ wieder
auf die Tagesordnung. Der Ukraine-Konflikt und die wahrgenommene Bedrohung des Baltikums durch Russland tragen ihren Teil dazu bei. Spektakuläre Fortschritte sollte man in
dieser Sache allerdings auch 2017 nicht erwarten. Die politischen und
verfassungsrechtlichen Hürden sind
und bleiben enorm.
Die CETA-Ratifikation
Ein
anderes Thema dürfte sich durch Trumps Präsidentschaft erst einmal
erledigt haben: Dass das umstrittene europäisch-amerikanische
Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP in absehbarer Zeit
unterschriftsreif wird, glaubt
derzeit niemand mehr. Trotzdem dürfte die Handelspolitik die EU
auch im nächsten Jahr weiter beschäftigen. Denn nachdem im
vergangenen Oktober das europäisch-kanadische Wirtschaftsabkommen
CETA nach
langem Hin und Her unterzeichnet wurde, steht nun die
Ratifizierungsphase an.
Für
diese Ratifikation müssen dem Abkommen einerseits das Europäische
Parlament und der Ministerrat zustimmen, andererseits aber auch alle
nationalen (sowie in einigen Ländern regionale) Parlamente. Die
CETA-Gegner werden deshalb wohl noch einmal mit allen Kräften gegen
das Abkommen mobilisieren – gerade in den Wahlkampfländern
Frankreich und Deutschland.
Die
Türkei und die Flüchtlinge
Und
schließlich wird die EU 2017 natürlich auch die Flüchtlingsfrage
weiterhin beschäftigen. Bei der großen Asylreform, die die
Kommission im
vergangenen Juli vorgeschlagen hat, gab es bislang noch keine nennenswerten
Fortschritte. Hauptgegner des Vorschlags sind die vier
Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, die sich nur
auf
ein Modell „flexibler Solidarität“ einlassen wollen, bei dem
letztlich jeder Mitgliedstaat selbst entscheidet, welchen Beitrag er
zur gemeinsamen Flüchtlingspolitik leisten will. Im neuen Jahr
werden die Verhandlungen weitergehen, die Erfolgsaussichten sind
ungewiss.
In
der Zwischenzeit setzt die EU in der Flüchtlingspolitik voll auf das
Abkommen
mit der Türkei, durch das seit Ende März alle irregulären
Migranten, die über die Türkei in die EU gelangen, in die Türkei
zurückgeschickt werden. Zusammen mit der Schließung der
Westbalkan-Route führte dieses Abkommen zu einem deutlichen
Rückgang der neu ankommenden Flüchtlinge (aufgrund der
Verlagerung auf riskantere Routen aber auch zu einem Anstieg der Toten im Mittelmeer).
Allerdings
macht sich die EU damit auch von der Türkei abhängig – was
angesichts der autoritären Entwicklung der Regierung unter Recep
Tayyip Erdoğan
(AKP/AKRE) zunehmend zum politischen Problem wird. Die europäische
Migrationspolitik kreist damit immer
mehr um die Frage, wie viel Zusammenarbeit sich mit dem
türkischen Regime noch rechtfertigen lässt. Fürs Erste sind die
Signale widersprüchlich: Während das Europäische Parlament gerne
die seit 2005 laufenden Verhandlungen
über einen türkischen EU-Beitritt aussetzen will, hat die
Europäische Kommission jüngst das
Flüchtlingsabkommen verteidigt und eine
Vertiefung der europäisch-türkischen Zollunion angekündigt.
50
Jahre Römische Verträge
Bei
all diesen Krisen gibt es aber auch etwas, worauf sich die EU freuen
kann: Am 25. März 2017 ist der sechzigste Jahrestag der
Unterzeichnung der Römischen
Verträge, mit denen einst die Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft, ein Vorläufer der EU, gegründet wurde. Den
letzten runden Jahrestag nutzte der Europäische Rat 2007, um in der
„Berliner
Erklärung“ Verhandlungen über eine neue Vertragsreform
anzukündigen – den einige Monate später unterzeichneten Vertrag
von Lissabon.
Gibt
es Hoffnung, dass es 2017 eine ähnliche Initiative
gibt? Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE), der als Berichterstatter des
Europäischen Parlaments Vorschläge für eine institutionelle Reform
der EU ausgearbeitet hat, hat den 25. März immerhin schon einmal als
Eröffnungsdatum für einen neuen Europäischen Konvent ins Spiel
gebracht. Daraus wird zwar wahrscheinlich nichts werden. In der
Kommission und im Europäischen Rat denkt man für den Jahrestag eher
an
ein unverbindliches Dokument mit einer „Zukunftsvision“, die zu nicht allzu viel verpflichten würde.
Aber vielleicht hält das neue Jahr für Europa ja doch auch noch die ein oder andere erfreuliche Überraschung bereit.
Und damit geht dieses Blog in seine alljährliche Winterpause. Allen
Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein
gutes Jahr 2017!
|
Bild: By Ingo Lauer [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
Die Nato wird nicht mehr funktionieren und die Russen haben einen furchtbaren Appetit. Wir brauchen unbedingt eine europäische Armee! Und eine funktionierende europäische Grenzkontrolle! Und man soll bestimmten Länder die Möglichkeit geben vom Euro raus zu kommen. Dann wird man sich hier in Europa sicherer fühlen. Europa wird nicht von anderen Ländern ernst genommen, eben weil wir nicht einig sind und keine gemeinsame Armee haben. Danke.
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