Gianni
Pittella (PD/SPE), Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im
Europäischen Parlament, hätte sich kaum klarer ausdrücken können.
„Die Zeit der Großen Koalition im Europäischen Parlament ist
beendet“, schrieb
er auf Twitter. „Die [Europäische] Volkspartei muss sich damit
abfinden, wir brauchen eine Veränderung.“ Und weiter:
„Eine gesunde Polarisierung zwischen Rechts und Links wird helfen,
um das Europäische Parlament zu beleben und den europaskeptischen
Bewegungen entgegenzuwirken.“ Denn:
„Rechts und Links sind nicht dasselbe. Unsere wichtigste Aufgabe
ist es, die Unterschiede nicht zu verstecken, sondern zum Ausdruck zu
bringen.“
Wer
dieses Blog regelmäßig liest, wird Pittellas Argumentation
wahrscheinlich bekannt vorkommen. Auch ich habe hier
verschiedentlich
geschrieben,
dass die permanente Große Koalition, die die Politik der
europäischen Institutionen dominiert, letztlich zum Problem für die
Legitimation der EU werden kann. Denn wenn die drei großen Parteien
der Mitte (die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische SPE
und die liberale ALDE) stets zusammenarbeiten, kann niemand von ihnen
eine glaubwürdige Alternative zum derzeitigen politischen Kurs
repräsentieren. Und das wiederum bedeutet, dass unzufriedene Wähler
niemanden haben, an den sie sich wenden können – außer den
Nationalpopulisten, die nicht nur die aktuelle europäische Politik,
sondern gleich die ganze EU in Frage stellen.
Eine
stärkere Polarisierung zwischen den großen Parteien der linken und
rechten Mitte könnte also tatsächlich helfen, um für die EU
Legitimität zurückzugewinnen und den Aufstieg der Rechten zu
zäumen. Aber ist die Sache wirklich so einfach, wie Pittella
verspricht?
Seit
2015 sind die Sozialdemokraten nach links gerückt
Das
„Ende der Großen Koalition“, über das in Brüssel und Straßburg
dieser Tage viel
diskutiert wird, hat eine längere Vorgeschichte. Während der
schlimmsten Jahre der Eurokrise standen die großen europäischen
Parteien eng beieinander. Die wesentliche Richtung gaben dabei die
Christdemokraten vor, die Ende 2011 den
Höhepunkt ihrer institutionellen Macht erreichten. Die
Sozialdemokraten aber trugen die europäische Sparpolitik lange Zeit
treu mit – auch wenn ihnen das in mehreren Ländern, besonders
Griechenland und Spanien, schmerzliche
Wahlniederlagen bescherte.
Nach
den Erfolgen europaskeptisch-populistischer Parteien bei der
Europawahl 2014 rückten EVP und SPE zunächst sogar noch
näher aneinander. Es entstand sogar eine Art informeller
Koalitionsausschuss, die sogenannten G5-Treffen,
bei denen Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP), sein
Stellvertreter Frans Timmermans (PvdA/SPE), Parlamentspräsident
Martin Schulz (SPD/SPE) sowie die beiden Fraktionschefs Manfred Weber
(CSU/EVP) und Gianni Pittella (PD/SPE) regelmäßig über die
wichtigsten politischen Fragen berieten. Vor allem Juncker und Schulz
galten dabei als Garanten der engen Zusammenarbeit.
Doch
schon bald zeigten sich erste Risse: In der Griechenland-Krise im
Sommer 2015 etwa vertraten
beide Parteien klar unterscheidbare Positionen. Die europäischen
Sozialdemokraten rückten zusehends nach links und kritisierten die
„austerity only“-Politik der Christdemokraten. Zum zentralen
Thema wurde das „soziale Europa“, das beispielsweise auch auf
dem SPE-Parteitag vor zwei Wochen im Mittelpunkt stand.
Auslöser
der Koalitionskrise war eine Personalfrage
Der
Auslöser der jüngsten Brüsseler Koalitionskrise aber war eine
Personalfrage, nämlich die Nachfolge des scheidenden
Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Entsprechend den
Gepflogenheiten des Parlaments wird über dieses Amt jeweils zur
Hälfte der Wahlperiode neu abgestimmt, und nach der Europawahl 2014
hatte es eine informelle Vereinbarung gegeben, dass Schulz dann nicht
mehr antreten, sondern den Posten an einen Christdemokraten abgeben
würde.
Doch
je näher dieser Zeitpunkt rückte, desto weniger wollten die
Sozialdemokraten davon wissen: Mit Kommissionspräsident Juncker und
Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP), so ihr Argument, besetze die EVP
derzeit schließlich auch die beiden anderen EU-Spitzenämter – was
zum Zeitpunkt der Vereinbarung 2014 noch nicht klar gewesen sei. Es
sei deshalb nicht akzeptabel, dass die Christdemokraten nun auch noch
die Parlamentspräsidentschaft übernähmen.
Pittella
vs. Tajani
In
der EVP stieß Schulzʼ
Entschlossenheit zu einer weiteren Amtszeit erwartungsgemäß nicht
auf allzu große Begeisterung. Im September kündigten die
Christdemokraten an, sie würden zur Neuwahl des
Parlamentspräsidenten jedenfalls
einen eigenen Kandidaten aufstellen. Massive Unterstützung
erhielt Schulz jedoch von Jean-Claude Juncker, der offenbar sogar mit
seinem eigenen Rücktritt drohte, falls Schulz aus dem Amt
gedrängt werden sollte. Letztlich wurde diese Drohung freilich
hinfällig, da Schulz Ende November freiwillig
seinen Abschied aus dem Parlament ankündigte, um im kommenden
Jahr für den deutschen Bundestag zu kandidieren.
Doch
mit dem Abgang des Großkoalitionärs Schulz brach der Konflikt
zwischen den beiden Fraktionen erst richtig aus. Nur wenige Tage
später erklärte nun nämlich Gianni Pittella sein Interesse am Amt
des Parlamentspräsidenten – und begründete das, siehe oben,
explizit
damit, dass seine Kandidatur „eine Phase der Polarisierung
zwischen Rechts und Links eröffnen“ solle. Die Christdemokraten
wiederum konterten dies, indem sie ihrerseits mit Antonio Tajani
(FI/EVP) einen durchaus umstrittenen Kandidaten für das Amt
aufstellten, der in
großen Teilen des linken Spektrums als unwählbar gilt.
Eine
Kampfabstimmung
Sollte es deshalb bei der Wahl am 17. Januar tatsächlich eine Kampfabstimmung
zwischen Pittella und Tajani geben, wäre der
Ausgang völlig offen. Beide wären auf Unterstützung
aus den übrigen Fraktionen angewiesen, wobei Pittella wohl auf die
meisten linken und grünen Abgeordneten zählen könnte, Tajani
hingegen auf die nationalkonservative EKR-Fraktion. Den Ausschlag
könnten schließlich die Liberalen geben – oder auch die
rechtsextreme ENF-Fraktion.
Aber
wird es wirklich zu dieser Kampfabstimmung kommen? Und wenn ja, ist
das dann wirklich das lang erhoffte Ende der Großen Koalition? Und
wie soll es danach weitergehen? Und vor allem: Wird dann auch der
Wähler bald wieder klar vor Augen haben, worin die Alternative
zwischen Christ- und Sozialdemokraten in der europäischen Politik
genau besteht?
Die
Große Koalition ist in der Funktionsweise der EU
verankert
Was
in der aktuellen Aufregung leicht übersehen wird,
ist, dass die europäische Große Koalition nicht nur eine Frage der
inhaltlichen Nähe zwischen den beiden großen Parteien ist –
sondern tief in der institutionellen Funktionsweise der EU selbst
verankert. Dass EVP und SPE in den europäischen Institutionen nun
schon seit mehreren Jahrzehnten so eng zusammenarbeiten, liegt ja
nicht etwa daran, dass sie sich nach jeder Europawahl aktiv dafür
entschieden hätten. Vielmehr gibt es eine ganze
Reihe von Verfahren, die ihnen gar keine andere Möglichkeit
lassen, wenn auf europäischer Ebene überhaupt Entscheidungen
möglich sein sollen.
Tatsächlich
ist es schon im Europäischen Parlament allein schwierig genug, ohne
die Beteiligung beider großen Fraktionen eine Mehrheit zu
mobilisieren. Die plausibelsten Alternativen sind ein
Mitte-Links-Bündnis aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und
Linken sowie ein Mitte-Rechts-Bündnis aus EVP, Liberalen und der
nationalkonservativen EKR. Beide Bündnisse bleiben derzeit jedoch
knapp unter einer absoluten Mehrheit im Parlament – und können
deshalb nur zum Tragen kommen, wenn sich mindestens einige
Abgeordnete des jeweils anderen Lagers (oder der
Rechtsaußenfraktionen) enthalten.
Nur
die Wahl zwischen Kompromiss und Blockade
Vor
allem aber genügt es in der europäischen Gesetzgebung nicht,
einfach nur eine Mehrheit im Parlament zu haben. Vielmehr muss jeder
Rechtsakt von der Europäischen Kommission vorgeschlagen und vom
Ministerrat mitgetragen werden. Im Ministerrat ist dabei zudem in der
Regel eine „qualifizierte Mehrheit“ notwendig – das heißt eine
Mehrheit von 55 Prozent der Regierungen, die zugleich 65 Prozent der
EU-Bevölkerung repräsentieren. Diese Mehrheitsanforderungen machen
es in der Praxis nahezu unmöglich, einen Rechtsakt zu verabschieden,
dem nicht mindestens irgendein Minister von EVP, SPE und ALDE
zugestimmt hat. (Da im Rat in der Regel nicht primär nach der Linie
der europäischen Parteien abgestimmt wird, sind es meistens sehr
viel mehr.)
Pittella
kann also durchaus versuchen, im Europäischen Parlament die
Gegensätze zwischen SPE und EVP klarer ins Bild zu setzen. Doch
seine Bemühungen um mehr Polarisierung werden spätestens in dem
Augenblick scheitern, in dem das Parlament mit dem Rat über die
Verabschiedung eines Rechtsakts verhandeln muss. Denn dann gibt es
nach den Verfahren der EU nur noch die Alternative zwischen einem
Kompromiss, der notwendigerweise auch Vertreter beider großen
Parteien umfasst – oder einer Blockade, bei der alle Seiten nur
verlieren können.
Die
Kommission bleibt im Amt, auch wenn die Koalition zerbricht
Der
Verfassungsrechtler Jan Willem van Rossen hat auf
dem Verfassungsblog noch auf eine andere
Besonderheit der europäischen Koalitionskrise hingewiesen: Wenn auf
nationaler Ebene eine Koalition zerbricht, dann bedeutet das in der
Regel auch den Sturz der Regierung, die sie getragen hat, oft sogar
die Auflösung des Parlaments. Beides führt dazu, dass Koalitionen
in reifen parlamentarischen Systemen nicht so einfach aufgekündigt
werden. Für die Koalitionäre selbst steht dabei einfach zu viel auf
dem Spiel.
In
der EU ist das anders: Die Europäische Kommission (die mit den
Stimmen von EVP, SPE und ALDE ins Amt gewählt wurde) kann vom
Europäischen Parlament nur mit Zweidrittelmehrheit gestürzt werden.
Diese Hürde ist so hoch, dass die Sozialdemokraten im Europäischen
Parlament nicht einmal dazu Stellung beziehen müssen, ob sie nach
ihrem Bruch mit der EVP denn den EVP-Kommissionspräsidenten Juncker
weiterhin unterstützen werden: Einmal im Amt, ist Juncker auf die
Unterstützung der Fraktion nicht mehr zwingend angewiesen. Und
vorzeitig auflösen kann sich das Europäische Parlament ohnehin
nicht – die Wahlperiode endet unweigerlich erst im Juni 2019.
Am
Ende werden wieder Kompromisse stehen
Für Pittella ist es deshalb einerseits sehr einfach, das Ende der
Großen Koalition auszurufen, denn die dadurch ausgelöste Krise ist
für ihn selbst erst einmal mit keinerlei Kosten verbunden. Andererseits ist es für ihn aber fast unmöglich, dieses Ende der Großen Koalition wirklich umzusetzen, da es aufgrund der Mehrheitserfordernisse
in den verschiedenen Institutionen kaum plausible
Alternativen dazu gibt. Wenn EVP und SPE sich nun also etwas mehr streiten als zuvor, wird das die
europäische Politik etwas chaotischer, vielleicht auch für die
Öffentlichkeit etwas interessanter machen. Am Ende aber werden
wieder Kompromisse stehen: Kompromisse, die die beiden großen
Parteien nicht freiwillig eingehen, sondern zu denen sie durch die
Verfahrensregeln der EU gezwungen werden.
Wer die ewige Große Koalition überwinden will, der muss den EU-Vertrag ändern. Eine kleine Kampfabstimmung über diese oder jene Frage allein wird dafür nicht genügen.
Bild: © European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0 lu], via Flickr; eigene Grafik.
Für mich stellt das medienwirksam ausgerufene "Ende der Großen Koalition" nur den nächsten Höhepunkt einer kommunikativen Eskalationsspirale dar, die kein beteiligter Akteur so richtig gewollt hat.
AntwortenLöschenSelbst wenn sich Pittella oder Tajani mithilfe der Links- bzw. Rechtsaußen irgendwie wählen lassen würden, könnten sie mit ihren neuen Partnern keine Gesetzgebung betreiben, da die koalitionsinternen Unterschiede zu groß wären und die etwaigen Entschlüsse interinstitutionell keine Chance auf Durchsetzung hätten.
Es wird mit Sicherheit spannend, wie Sozialdemokraten und Konservative diese kommunikative Eskalation wieder zurückzudrehen versuchen, weil ohne ihre Zusammenarbeit das Parlament in die Handlungsunfähigkeit abzurutschen droht.
Die einzige praktikable Lösung wäre für mich, dass man einen Kompromisskandidaten findet, wie es bspw. Verhofstadt von der ALDE wäre. Aber dass die beiden größten Fraktionen der ALDE den Vortritt lassen, ist wohl genauso unwahrscheinlich wie eine großkoalitionäre EInigung auf Pittella oder Tajani.
Hallo Malte,
Löschenein Kompromisskandidat wäre vemutlich eine mögliche Lösung, wobei die ALDE als "Scharnier-Fraktion" zwischen EVP und S&D sicher die naheliegendste Option ist. Allerdings dürfte es in beiden großen Fraktionen auch einige Vorbehalte gegen Guy Verhofstadt geben, der ja (als Berichterstatter in Sachen Vertragsreform und Brexit, aber auch durch seine öffentlichkeitswirksamen Wortgefechte mit Nigel Farage und anderen) ein sehr klares eigenes politisches Profil besitzt und selbst ganz andere Ziele haben würde, als die Wunden der GroKo zu pflegen.
Eine andere Lösung, die ich mir vorstellen kann, ist ein package deal mit der Ratspräsidentschaft: Die S&D könnte Tajani als Parlamentspräsident akzeptieren, wenn dafür im Frühling ein Sozialdemokrat (oder eine Sozialdemokratin) Nachfolger von Donald Tusk (PO/EVP) im Europäischen Rat wird. Das wäre umso einfacher, als im Europäischen Rat die Sozialdemokraten ebenso stark vertreten sind wie die EVP (beide stellen je 8 Staats- oder Regierungschefs) und Tusk nicht einmal von seiner eigenen nationalen Regierungschefin Beata Szydlo (PiS/AKRE) unterstützt wird.
Aber das sind natürlich nur Spekulationen. Mal sehen, was im Januar passiert.