06 Dezember 2016

Eine „assoziierte Unionsbürgerschaft“ für Briten nach dem EU-Austritt?

Da eine Mehrheit der Briten die EU verlassen will, sollen auch alle anderen ihre Bürgerrechte verlieren. Charles Goerens will das verhindern.
„Die Wahrheit ist, dass Brüssel jeden Trick anwenden wird, um uns am Austritt zu hindern“, schimpfte der konservative Unterhausabgeordnete Andrew Bridgen (Cons./AEKR), und Jayne Adye, Leiterin der Kampagne Get Britain Out, sekundierte: „Es ist eine Unverschämtheit: Die EU versucht, die britische Öffentlichkeit gerade in dem Moment zu spalten, in dem wir Einigkeit brauchen.“ Der Vorschlag sei „vollkommen inakzeptabel“, ein Versuch, „das Ergebnis des Referendums zu untergraben“, in dem Großbritannien am 23. Juni dafür gestimmt hatte, die EU zu verlassen.

Was die Brexiteers so in Rage brachte, war der kaum zehn Zeilen lange Änderungsantrag Nr. 882 des Luxemburger Europaabgeordneten Charles Goerens (DP/ALDE) zum Verhofstadt-Bericht über mögliche Reformen des EU-Vertrags (den ich auf diesem Blog vor einigen Monaten schon einmal ausführlicher beschrieben habe). Kern des Änderungsantrags ist der Vorschlag, eine „assoziierte Unionsbürgerschaft“ einzuführen. Diese könnte von Menschen beantragt werden, „die sich als Teil des europäischen Projektes fühlen und auch ein Teil davon sein möchten, aber die Staatsangehörigkeit eines ehemaligen Mitgliedstaates besitzen“. Oder, etwas einfacher gefasst: Geht es nach Charles Goerens, sollen Briten auch nach dem Brexit Bürger der Europäischen Union bleiben können.

Unionsbürgerschaft und EU-Austritt

Die europäische Unionsbürgerschaft wurde durch den Vertrag von Maastricht 1993 eingeführt und findet sich heute in Art. 20ff. AEUV. Aus ihr leiten sich eine Reihe von Grundrechten ab, die jeder EU-Bürger unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit besitzt. Dazu gehören insbesondere das Recht, sich in der ganzen EU frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie das Recht, am jeweiligen Wohnort an Kommunal- und Europawahlen teilzunehmen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (z. B. hier, Rn. 43) ist die Unionsbürgerschaft „dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der [EU-]Mitgliedstaaten zu sein“ – und wenigstens für die vielen Millionen Europäer, die in einem anderen Mitgliedstaat leben als dem, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, ist das auch im praktischen Alltag zweifellos der Fall.

Was aber passiert mit der Unionsbürgerschaft von Menschen, deren Herkunftsland aus der EU austritt? In seiner jetzigen Fassung lässt Art. 20 AEUV eigentlich nur eine Deutung zu: „Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“ – und wenn ein Mitgliedstaat nicht mehr zur EU gehört, sind demnach auch dessen Staatsangehörigen keine Unionsbürger mehr. Für viele Briten, die in einem anderen EU-Land leben (oder sich wenigstens die Möglichkeit dazu erhalten wollen), kam die Brexit-Entscheidung ihrer Mitbürger deshalb als ein Schock.

Der Vorschlag

Um dem abzuhelfen, präsentierte Charles Goerens seine Initiative, die wenig später auch der liberale Fraktionschef und Beauftragte des Europäischen Parlaments für die Brexit-Verhandlungen, Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE), aufgriff. Die Details des Vorschlags sind dabei noch recht unklar. So steht fest, dass die „assoziierte Unionsbürgerschaft“ nicht automatisch für alle Briten gelten soll, sondern nur für solche, die ausdrücklich das europäische Projekt unterstützen. Doch wie hoch die Hürden dabei sein sollten, ist offen: Mal schlug Goerens vor, dass die Antragsteller eine Erklärung unterzeichnen könnten, in der sie sich zur EU und ihren Werten bekennen; mal regte er eine jährliche Gebühr an, die die assoziierten Unionsbürger in den EU-Haushalt zahlen müssten.

Klar ist aber: Grundsätzlich würde Goerensʼ Vorschlag den Briten die Möglichkeit geben, ihre Unionsbürgerrechte auch nach dem Brexit zu behalten; und zwar nicht nur denen, die schon heute in einem anderen EU-Land wohnen, sondern auch jenen, die innerhalb des Vereinigten Königreichs mit der EU sympathisieren. Geht es nach Goerens, sollen diese sogar an Europawahlen teilnehmen können – allerdings nur auf den transnationalen Listen, die viele Europaabgeordnete gerne einführen würden, die es aber im heutigen Europawahlrecht noch gar nicht gibt. Auf jeden Fall aber würden Briten sich weiterhin frei in der EU bewegen und in jedem Mitgliedstaat leben dürfen.

Gegensätzliche Reaktionen im Vereinigten Königreich

Im Vereinigten Königreich selbst stieß dieser Vorschlag auf sehr gegensätzliche Reaktionen. Wenig überraschend löste er vor allem bei jüngeren, europafreundlichen Briten einige Begeisterung aus. Das European Movement UK und mehrere weitere pro-europäische Bewegungen initiierten eine Kampagne, in der sie die britische Regierung zu einer Unterstützung des Vorschlags drängen. Und auch die schottische Premierministerin Nicola Sturgeon (SNP/EFA), die sich für einen Verbleib ihrer Region in der EU einsetzt, erklärte sich offen für die Initiative.

Auf der anderen Seite reagierten Brexit-Befürworter mit massiver Ablehnung: Aus ihrer Sicht ist der Vorschlag in erster Linie ein Versuch, die innerbritische Spaltung zwischen der knappen Mehrheit, die am 23. Juni für den Austritt stimmte, und der bedeutenden Minderheit, die lieber in der EU verblieben wäre, voranzutreiben. Durch die assoziierte Unionsbürgerschaft hätten europafreundliche Briten die Möglichkeit, ihre Loyalität zur EU offen zu zeigen. In Zeiten, in denen die britische Regierung jede Kritik an ihrer Austrittsstrategie als einen Angriff auf den „Willen des britischen Volkes“ bezeichnet, ist diese Vorstellung für die Brexit-Freunde offenbar nur schwer zu ertragen.

Was halten wir Europäer selbst von dem Vorschlag?

In einem Interview, das ich vor kurzem mit Charles Goerens geführt habe, reagierte dieser allerdings gelassen auf die Vorwürfe der Brexiteers: Die assoziierte Unionsbürgerschaft sei für die Briten schließlich nur „ein Angebot, keine Zwangsverpflichtung“; es bleibe jedem Einzelnen überlassen, sie anzunehmen oder nicht. Und tatsächlich ist Goerensʼ Vorschlag zunächst einmal vor allem an die EU gerichtet, die durch eine Vertragsreform die Grundlagen für die assoziierte Unionsbürgerschaft schaffen müsste. Die entscheidende Frage ist deshalb nicht, was die Briten über diese Idee denken, sondern was wir Europäer selbst dazu sagen.

Außerhalb Großbritanniens hat bislang allerdings noch fast gar keine Diskussion über den Vorschlag stattgefunden. Die wenigsten Medien haben darüber berichtet, geschweige denn eine Position bezogen. Wo es überhaupt zu öffentlichen Stellungnahmen kam, fielen diese jedoch meist eher negativ aus: Der französische nationale Abgeordnete Christophe Premat (PS/SPE) kritisierte Goerensʼ Vorschlag als Ausdruck eines „Europa à la carte“, das die Glaubwürdigkeit der EU beschädigen würde. Und die Luxemburger Europaabgeordnete Viviane Reding (CSV/EVP) sieht darin eine Schwächung der Unionsbürgerschaft.

Die EU-Verhandlungsposition wird nicht wesentlich geschwächt

In meinen Augen gibt es vor allem zwei Kritikpunkte, die sich gegen den Vorschlag vorbringen lassen. Diese Gegenargumente sind nicht trivial, erscheinen mir selbst jedoch letztlich nicht überzeugend.

Der erste Kritikpunkt ist eher kurzfristig-strategischer Natur: Sobald Großbritannien seinen EU-Austrittswunsch auch formal erklärt, wird eine kurze, intensive Verhandlungsphase beginnen, in der sich beide Seiten wohl nichts schenken werden. Die Rechte, die die EU britischen Bürgern zugesteht, könnten dabei ein wichtiger Teil der Verhandlungsmasse sein. Warum also sollte die EU diese Rechte schon im Voraus einräumen, ohne dafür eine Gegenleistung zu fordern? Schlimmstenfalls könnte Großbritannien dadurch als einseitiger „Gewinner“ des Brexits wahrgenommen werden – etwas, das die EU auf jeden Fall verhindern will.

Dass dieses Argument nicht recht greift, ist allerdings schon an den wütenden Reaktionen der britischen Brexit-Freunde zu beobachten. Die entscheidende Trumpfkarte der EU in den Verhandlungen sind nämlich keineswegs die Rechte der Auslandsbriten, sondern vielmehr der Zugang der britischen Banken zum europäischen Binnenmarkt. Dieser aber wäre von Goerensʼ Vorschlag in keiner Weise betroffen. Die assoziierte Unionsbürgerschaft würde der EU also einen moralischen Bonus bei der britischen Bevölkerung verschaffen, ohne dass sich am Kräfteverhältnis in ihren Verhandlungen mit der britischen Regierung allzu viel ändern würde: So oder so kann Großbritannien als Land beim Brexit nur verlieren.

Sollte die EU auf Gegenseitigkeit beharren?

Der zweite, wichtigere Kritikpunkt ist grundsätzlicher und betrifft die Idee, dass diplomatische Beziehungen möglichst auf Gegenseitigkeit beruhen sollten: Mit der assoziierten Unionsbürgerschaft würde die EU den Briten einen Zugang zu zahlreichen Rechten eröffnen, ohne dass Bürger aus EU-Staaten entsprechende Rechte auch in Großbritannien besäßen. Großbritannien könnte Europäern nach dem Brexit die Einreise verbieten; die EU hingegen stünde für die britischen assoziierten Unionsbürger jederzeit offen – was offenbar dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Europäer widerspricht.

Dieses Argument ist nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen, und natürlich wäre es wünschenswert, dass auch die nicht-britischen Unionsbürger in Großbritannien weiterhin ihre vollen Rechte behielten. Doch das strikte Beharren auf Gegenseitigkeit scheint mir letztlich Ausdruck einer sehr außenpolitischen Perspektive auf die europäische Integration. Dieser Perspektive liegt der Gedanken zugrunde, dass „die Briten“ in erster Linie Angehörige ihres nationalen Staatsvolks wären und dass sie, nachdem dieses Volk für den EU-Austritt gestimmt hat, nun damit leben müssten, dass die EU sie als Angehörige eines Drittstaats behandelt.

Die Unionsbürgerschaft ist ein Individualstatus

Was bei dieser Perspektive völlig untergeht, ist, dass die Unionsbürgerschaft eigentlich etwas Individuelles sein sollte – ein demokratischer Grundrechtestatus, der jedem europäischen Bürger garantiert wird und eben nicht nationalen Politikentscheidungen untergeordnet ist. Es erscheint mir deshalb ein falscher Impuls, wenn EU-Europäer nun alle Briten abstrafen wollen, nur weil eine Mehrheit ihrer Landsleute für den Austritt gestimmt hat. Schließlich gehört es gerade zu den großen Leistungen der europäischen Integration, Menschen auch auf überstaatlicher Ebene nicht nur als Teil ihres Staates, sondern als Einzelpersonen wahrzunehmen.

Aus dieser Perspektive ist es letztlich gleichgültig, ob sich Großbritannien mit vergleichbaren Rechten für Nicht-Briten revanchiert oder nicht. Denn es geht hier nicht um Briten, sondern um europäische Bürger, die nur das Unglück haben, dass sie aufgrund ihres britischen Passes ihre Bürgerrechte verlieren könnten. In diesem Kontext würde die Umsetzung von Charles Goerensʼ Vorschlag klar machen, dass die Unionsbürgerschaft ein Rechtsstatus ist, der niemandem zwangsweise genommen werden kann, weil die EU loyal zu ihren Bürgern steht, ganz egal, was deren nationale Regierungen politisch alles anstellen mögen.

Die Unionsbürgerschaft würde dadurch nicht geschwächt, sondern gestärkt: Sie wäre nicht mehr nur ein Anhängsel an die nationale Staatsbürgerschaft, sondern würde tatsächlich zu jenem vom Europäischen Gerichtshof zitierten „grundlegenden Status“, der den einzelnen Bürger unmittelbar mit der Europäischen Union verbindet.

Grundlage für ein „Europa der Bürger“

Wird die assoziierte Unionsbürgerschaft also kommen? Dass der Vorschlag zuletzt tatsächlich umgesetzt wird, scheint eher unwahrscheinlich. Nicht nur, dass er eine Vertragsänderung und damit die Ratifikation durch alle 27 verbleibenden EU-Mitgliedstaaten voraussetzen würde, in mehreren dieser Mitgliedstaaten wären zudem Verfassungsänderungen nötig. So erlauben etwa die französische oder die spanische Verfassung ein Kommunalwahlrecht für Nicht-Staatsbürger heute nur auf der Grundlage gegenseitiger Verträge mit dem jeweils anderen Land.

Hinzu kommt, wie etwa Jon Worth hervorhebt, dass sich die Briten das Freizügigkeitsrecht, das mit der Unionsbürgerschaft verbunden ist, auch auf andere Weise erhalten könnten: falls sich das Vereinigte Königreich nämlich dafür entscheidet, wie Norwegen oder die Schweiz im Europäischen Binnenmarkt zu verbleiben. Vielen Proeuropäern in Großbritannien könnte das schon genügen, sodass sie den Verlust anderer Unionsbürgerrechte (etwa des Kommunalwahlrechts) einfach in Kauf nehmen.

Und dennoch: Charles Goerensʼ Vorschlag bleibt eine interessante Idee, die Unterstützung verdient hat. Denn sie eröffnet die Perspektive auf eine Unionsbürgerschaft, die nicht mehr direkt an die nationale Staatsangehörigkeit gekoppelt ist und die damit zur Grundlage für ein echtes „Europa der Bürger“ werden könnte.

Bild: Jwh at Wikipedia Luxembourg [CC BY-SA 3.0 lu], via Wikimedia Commons.

2 Kommentare:

  1. Was ist an der Aussage schlimm?

    Wenn Briten die EU-Bürgerschaft nach einem Austritt behalten, will ich umgekehrt auch die britische Staatsbürgerschaft bekommen. Ansonsten wäre das unfair. Es gibt ja aber auch andere Möglichkeiten, um die Reisefreiheit zu gewährleisten (siehe z.B. Schweiz).

    Oder hat der Link zu meinem Blog-Artikel gestört?

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  2. Verwandt: Was hältst Du von Oliver Garners Idee einer europäischen Bürgerschaft, die er ebenfalls aus der Brexit-Debatte ableitet? http://verfassungsblog.de/after-fragmentation-the-constitution-of-a-core-european-citizenry/

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