- Da eine Mehrheit der Briten die EU verlassen will, sollen auch alle anderen ihre Bürgerrechte verlieren. Charles Goerens will das verhindern.
„Die Wahrheit ist, dass Brüssel jeden Trick anwenden wird, um uns am
Austritt zu hindern“, schimpfte der konservative Unterhausabgeordnete Andrew Bridgen (Cons./AEKR),
und Jayne Adye, Leiterin der
Kampagne Get Britain Out, sekundierte:
„Es ist eine Unverschämtheit: Die EU versucht, die britische Öffentlichkeit gerade in dem Moment zu spalten, in dem
wir Einigkeit brauchen.“ Der
Vorschlag sei „vollkommen inakzeptabel“, ein Versuch, „das
Ergebnis des Referendums zu
untergraben“, in
dem Großbritannien am 23. Juni dafür gestimmt hatte, die EU zu
verlassen.
Was
die Brexiteers so in Rage brachte, war der kaum zehn Zeilen lange
Änderungsantrag
Nr. 882 des Luxemburger Europaabgeordneten Charles Goerens
(DP/ALDE) zum Verhofstadt-Bericht
über mögliche Reformen des EU-Vertrags (den ich auf diesem Blog
vor einigen Monaten schon
einmal ausführlicher beschrieben habe). Kern des
Änderungsantrags ist der Vorschlag, eine „assoziierte
Unionsbürgerschaft“ einzuführen. Diese könnte von Menschen
beantragt werden, „die sich als Teil des
europäischen Projektes fühlen und auch ein Teil davon sein möchten,
aber die Staatsangehörigkeit eines ehemaligen Mitgliedstaates
besitzen“. Oder, etwas einfacher gefasst: Geht es nach Charles
Goerens, sollen Briten auch nach dem Brexit Bürger der Europäischen
Union bleiben können.
Unionsbürgerschaft
und EU-Austritt
Die europäische Unionsbürgerschaft
wurde durch den Vertrag von Maastricht 1993 eingeführt und findet
sich heute in Art. 20ff. AEUV. Aus ihr leiten sich eine Reihe von Grundrechten ab, die jeder
EU-Bürger unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit besitzt. Dazu
gehören insbesondere das Recht, sich in der ganzen EU frei zu
bewegen und aufzuhalten, sowie das Recht, am jeweiligen Wohnort an
Kommunal- und Europawahlen teilzunehmen. Nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs (z. B. hier,
Rn. 43) ist die Unionsbürgerschaft „dazu bestimmt, der
grundlegende Status der Angehörigen der [EU-]Mitgliedstaaten zu
sein“ – und wenigstens für die vielen Millionen Europäer, die
in einem anderen Mitgliedstaat leben als dem, dessen
Staatsangehörigkeit sie besitzen, ist das auch im praktischen Alltag zweifellos der Fall.
Was aber passiert mit der Unionsbürgerschaft von Menschen, deren
Herkunftsland aus der EU austritt? In seiner jetzigen Fassung lässt
Art. 20 AEUV eigentlich nur eine Deutung zu: „Unionsbürger
ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“ –
und wenn ein Mitgliedstaat nicht mehr zur EU gehört, sind demnach
auch dessen Staatsangehörigen keine Unionsbürger mehr. Für viele
Briten, die in einem anderen EU-Land leben (oder sich wenigstens die
Möglichkeit dazu erhalten wollen), kam die Brexit-Entscheidung ihrer
Mitbürger deshalb als ein Schock.
Der Vorschlag
Um dem abzuhelfen, präsentierte Charles Goerens seine
Initiative, die wenig später auch der liberale Fraktionschef und
Beauftragte des Europäischen Parlaments für die
Brexit-Verhandlungen, Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE), aufgriff. Die
Details des Vorschlags sind dabei noch recht unklar. So steht fest,
dass die „assoziierte Unionsbürgerschaft“ nicht automatisch für
alle Briten gelten soll, sondern nur für solche, die ausdrücklich
das europäische Projekt unterstützen. Doch wie hoch die Hürden
dabei sein sollten, ist offen: Mal schlug Goerens vor, dass die
Antragsteller eine
Erklärung unterzeichnen könnten, in der sie sich zur EU und
ihren Werten bekennen; mal regte er eine
jährliche Gebühr an, die die assoziierten Unionsbürger in den
EU-Haushalt zahlen müssten.
Klar ist aber: Grundsätzlich würde Goerensʼ Vorschlag den Briten die Möglichkeit geben, ihre Unionsbürgerrechte
auch nach dem Brexit zu behalten; und zwar nicht nur denen, die schon heute in einem anderen EU-Land wohnen,
sondern auch jenen, die innerhalb des Vereinigten Königreichs mit
der EU sympathisieren. Geht es nach Goerens, sollen diese sogar an Europawahlen teilnehmen können – allerdings nur auf den transnationalen Listen, die
viele Europaabgeordnete
gerne
einführen würden, die
es aber im heutigen Europawahlrecht noch gar nicht gibt. Auf
jeden Fall aber würden Briten sich weiterhin frei in der EU bewegen
und in jedem Mitgliedstaat leben
dürfen.
Gegensätzliche
Reaktionen im Vereinigten Königreich
Im
Vereinigten Königreich selbst stieß dieser Vorschlag auf sehr
gegensätzliche Reaktionen. Wenig überraschend löste er vor allem
bei jüngeren,
europafreundlichen
Briten
einige
Begeisterung
aus.
Das European Movement UK und mehrere weitere pro-europäische
Bewegungen initiierten eine Kampagne,
in der sie die britische Regierung zu einer Unterstützung des
Vorschlags drängen. Und auch die schottische Premierministerin
Nicola Sturgeon (SNP/EFA), die sich für einen Verbleib ihrer Region
in der EU einsetzt, erklärte
sich offen für die Initiative.
Auf
der anderen Seite reagierten Brexit-Befürworter mit
massiver Ablehnung: Aus ihrer Sicht ist der Vorschlag in erster Linie
ein Versuch, die innerbritische Spaltung zwischen der knappen
Mehrheit, die am 23. Juni für den Austritt stimmte, und der
bedeutenden Minderheit, die lieber in der EU verblieben wäre,
voranzutreiben. Durch die assoziierte Unionsbürgerschaft hätten
europafreundliche Briten die Möglichkeit, ihre Loyalität zur EU
offen zu zeigen. In Zeiten, in denen die britische Regierung jede
Kritik an ihrer Austrittsstrategie als einen Angriff auf den „Willen des britischen Volkes“ bezeichnet,
ist diese Vorstellung für die Brexit-Freunde offenbar nur schwer zu
ertragen.
Was
halten wir Europäer selbst von dem Vorschlag?
In
einem Interview, das ich vor
kurzem mit Charles Goerens geführt habe, reagierte dieser
allerdings gelassen auf die Vorwürfe der Brexiteers: Die assoziierte
Unionsbürgerschaft sei für die Briten schließlich nur „ein
Angebot, keine Zwangsverpflichtung“; es bleibe jedem Einzelnen
überlassen, sie anzunehmen oder nicht. Und tatsächlich ist Goerensʼ
Vorschlag zunächst einmal vor allem an die EU gerichtet, die durch
eine Vertragsreform die Grundlagen für die assoziierte Unionsbürgerschaft schaffen müsste. Die
entscheidende Frage ist deshalb nicht, was die Briten über diese Idee denken, sondern was wir Europäer
selbst dazu sagen.
Außerhalb Großbritanniens hat bislang allerdings noch fast
gar keine Diskussion über den Vorschlag stattgefunden. Die
wenigsten Medien haben darüber berichtet, geschweige denn
eine Position bezogen. Wo es überhaupt zu öffentlichen
Stellungnahmen kam, fielen diese jedoch meist eher negativ aus: Der
französische nationale Abgeordnete Christophe Premat (PS/SPE)
kritisierte
Goerensʼ Vorschlag
als Ausdruck eines „Europa à la carte“, das die Glaubwürdigkeit
der EU beschädigen würde. Und
die Luxemburger
Europaabgeordnete Viviane Reding (CSV/EVP) sieht darin eine
Schwächung
der Unionsbürgerschaft.
Die EU-Verhandlungsposition wird nicht wesentlich geschwächt
In
meinen Augen gibt es vor
allem zwei Kritikpunkte,
die sich gegen den
Vorschlag vorbringen lassen. Diese
Gegenargumente sind nicht trivial, erscheinen mir selbst jedoch
letztlich nicht
überzeugend.
Der
erste Kritikpunkt
ist eher kurzfristig-strategischer
Natur: Sobald
Großbritannien seinen EU-Austrittswunsch auch formal erklärt, wird
eine kurze, intensive Verhandlungsphase beginnen,
in der sich beide Seiten
wohl nichts schenken
werden. Die Rechte,
die die EU britischen
Bürgern zugesteht,
könnten dabei ein wichtiger
Teil der
Verhandlungsmasse sein.
Warum also
sollte die
EU diese Rechte schon
im Voraus einräumen,
ohne dafür
eine Gegenleistung zu
fordern? Schlimmstenfalls
könnte Großbritannien
dadurch als
einseitiger „Gewinner“
des Brexits wahrgenommen
werden –
etwas, das
die EU auf
jeden Fall verhindern will.
Dass
dieses Argument
nicht recht greift, ist
allerdings schon
an den wütenden
Reaktionen der britischen
Brexit-Freunde zu
beobachten. Die
entscheidende
Trumpfkarte der EU in den Verhandlungen sind nämlich keineswegs die
Rechte der
Auslandsbriten, sondern
vielmehr der
Zugang der britischen Banken zum europäischen Binnenmarkt. Dieser aber wäre von Goerensʼ
Vorschlag in keiner Weise betroffen. Die assoziierte Unionsbürgerschaft würde
der EU also einen moralischen
Bonus bei der britischen
Bevölkerung
verschaffen,
ohne
dass sich am
Kräfteverhältnis in ihren
Verhandlungen mit
der britischen Regierung allzu
viel ändern würde: So oder so kann Großbritannien als
Land beim
Brexit nur verlieren.
Sollte die EU auf Gegenseitigkeit beharren?
Der zweite, wichtigere Kritikpunkt ist grundsätzlicher und betrifft die Idee, dass
diplomatische Beziehungen möglichst auf Gegenseitigkeit beruhen
sollten: Mit der assoziierten Unionsbürgerschaft würde
die EU den Briten einen Zugang zu
zahlreichen Rechten eröffnen, ohne dass
Bürger aus EU-Staaten entsprechende Rechte auch
in Großbritannien besäßen. Großbritannien könnte Europäern nach dem
Brexit die Einreise verbieten; die EU hingegen stünde für die
britischen assoziierten Unionsbürger jederzeit offen
– was offenbar dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Europäer widerspricht.
Dieses
Argument ist nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen, und
natürlich wäre es wünschenswert, dass auch die nicht-britischen
Unionsbürger in Großbritannien weiterhin ihre vollen Rechte
behielten. Doch das strikte Beharren auf Gegenseitigkeit scheint mir
letztlich Ausdruck einer sehr außenpolitischen Perspektive auf die
europäische Integration. Dieser
Perspektive liegt der Gedanken zugrunde, dass „die Briten“ in
erster Linie Angehörige ihres nationalen Staatsvolks wären und dass
sie, nachdem dieses Volk für den EU-Austritt gestimmt hat, nun damit
leben müssten, dass die EU sie als Angehörige eines Drittstaats
behandelt.
Die
Unionsbürgerschaft ist ein Individualstatus
Was
bei dieser Perspektive völlig untergeht, ist, dass die
Unionsbürgerschaft eigentlich etwas Individuelles
sein sollte –
ein demokratischer
Grundrechtestatus,
der jedem
europäischen
Bürger garantiert
wird und
eben nicht
nationalen
Politikentscheidungen
untergeordnet ist.
Es erscheint
mir deshalb ein falscher Impuls, wenn EU-Europäer nun alle Briten abstrafen
wollen, nur
weil eine Mehrheit ihrer
Landsleute für den Austritt
gestimmt hat. Schließlich gehört es gerade
zu den großen Leistungen der
europäischen Integration, Menschen
auch
auf überstaatlicher
Ebene nicht nur als Teil
ihres Staates, sondern als
Einzelpersonen wahrzunehmen.
Aus
dieser Perspektive ist es letztlich gleichgültig, ob sich
Großbritannien mit
vergleichbaren Rechten für Nicht-Briten revanchiert oder nicht. Denn
es geht hier nicht um Briten,
sondern um europäische Bürger, die
nur das Unglück haben, dass sie aufgrund ihres britischen Passes ihre Bürgerrechte verlieren
könnten. In diesem Kontext
würde die Umsetzung von Charles Goerensʼ
Vorschlag klar machen, dass die Unionsbürgerschaft ein Rechtsstatus
ist, der niemandem zwangsweise genommen werden kann, weil die EU
loyal zu ihren Bürgern steht, ganz egal, was deren nationale
Regierungen politisch alles anstellen mögen.
Die
Unionsbürgerschaft würde dadurch nicht geschwächt, sondern
gestärkt: Sie wäre nicht mehr nur ein Anhängsel an die nationale
Staatsbürgerschaft, sondern würde tatsächlich zu jenem vom
Europäischen Gerichtshof zitierten „grundlegenden Status“, der
den einzelnen Bürger unmittelbar mit der Europäischen Union
verbindet.
Grundlage für ein „Europa der Bürger“
Wird
die assoziierte Unionsbürgerschaft also kommen? Dass der Vorschlag
zuletzt tatsächlich umgesetzt wird, scheint eher unwahrscheinlich. Nicht nur, dass er eine Vertragsänderung und damit
die Ratifikation durch alle 27 verbleibenden EU-Mitgliedstaaten
voraussetzen würde, in mehreren dieser Mitgliedstaaten wären zudem
Verfassungsänderungen nötig. So erlauben etwa die französische
oder die spanische Verfassung ein Kommunalwahlrecht für
Nicht-Staatsbürger heute nur auf der Grundlage gegenseitiger
Verträge mit dem jeweils anderen Land.
Hinzu
kommt, wie
etwa Jon Worth hervorhebt, dass sich die Briten das
Freizügigkeitsrecht, das mit der Unionsbürgerschaft verbunden ist,
auch auf andere Weise erhalten könnten: falls sich das Vereinigte
Königreich nämlich dafür entscheidet, wie Norwegen oder die
Schweiz im Europäischen Binnenmarkt zu verbleiben. Vielen
Proeuropäern in Großbritannien könnte das schon genügen, sodass
sie den Verlust anderer Unionsbürgerrechte (etwa des
Kommunalwahlrechts) einfach in Kauf nehmen.
Und
dennoch: Charles Goerensʼ
Vorschlag bleibt eine interessante Idee, die Unterstützung verdient
hat. Denn sie
eröffnet die Perspektive auf eine Unionsbürgerschaft, die nicht
mehr direkt
an die nationale Staatsangehörigkeit gekoppelt ist und die
damit zur Grundlage für
ein echtes „Europa der
Bürger“ werden könnte.
Bild: Jwh at Wikipedia Luxembourg [CC BY-SA 3.0 lu], via Wikimedia Commons.
Was ist an der Aussage schlimm?
AntwortenLöschenWenn Briten die EU-Bürgerschaft nach einem Austritt behalten, will ich umgekehrt auch die britische Staatsbürgerschaft bekommen. Ansonsten wäre das unfair. Es gibt ja aber auch andere Möglichkeiten, um die Reisefreiheit zu gewährleisten (siehe z.B. Schweiz).
Oder hat der Link zu meinem Blog-Artikel gestört?
Verwandt: Was hältst Du von Oliver Garners Idee einer europäischen Bürgerschaft, die er ebenfalls aus der Brexit-Debatte ableitet? http://verfassungsblog.de/after-fragmentation-the-constitution-of-a-core-european-citizenry/
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