- „Brexit heißt Brexit“, sagt die britische Premierministerin Theresa May. Genaueres erklärt sie noch nicht. Aber es wird jedenfalls nichts Gutes.
Kommt
der Brexit? Und wenn ja, wann? Und wie wird er aussehen? Das
Referendum, in dem eine knappe Mehrheit der Briten für einen
Austritt aus der Europäischen Union stimmte, ist nun bald zwei
Monate her – und trotzdem gibt es auf diese zentralen Fragen bis
heute keine Antworten. Im Gegenteil: Erst vor wenigen Tagen
berichteten
britische Medien, dass sich die Eröffnung der formalen
Austrittsverhandlungen, die eigentlich für Anfang 2017 erwartet
wurde, auf Ende 2017 verschieben könnte. Die Mitarbeiter des neu
ernannten Brexit-Ministers David Davis (Cons./AEKR) wüssten derzeit
noch nicht einmal, „welche Fragen sie eigentlich stellen müssen,
wenn die Verhandlungen wirklich beginnen“.
Hinter
all dieser Ungewissheit steht ein fundamentales Problem der
britischen Regierung: Die Szenarien, die die Austrittsbefürworter
vor dem Referendum versprochen haben, sind unrealistisch – und
Alternativen dazu, die besser als die Fortsetzung der
EU-Mitgliedschaft wären, sind nicht in Sicht. Infolgedessen
verbreiten
sich Spekulationen, der Brexit könnte zuletzt womöglich ganz
ausbleiben.
Wie sehen die Perspektiven für Großbritannien in den nächsten Jahren aus? Und wie sollte sich die EU dazu positionieren?
Artikel
50 EU-Vertrag
Das
rechtliche Verfahren für den Austritt aus der Union ist in Art.
50 EU-Vertrag geregelt: Nachdem die Regierung des betreffenden
Mitgliedstaats den Europäischen Rat über ihre Austrittsabsicht
informiert hat, beginnt eine Zweijahresfrist zu laufen. In dieser
Zeit sollen das Austrittsland und die EU ein Abkommen vereinbaren,
das „den Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur
Union berücksichtigt“. Dieses Abkommen muss vom Austrittsland, vom
Europäischen Parlament und vom Ministerrat mit Mehrheitsbeschluss
ratifiziert werden; danach tritt der Austritt in Kraft.
Kommt
das Abkommen jedoch nicht zustande (etwa weil sich die EU und das
Austrittsland nicht über die Bedingungen einig werden), so endet die
Mitgliedschaft nach zwei Jahren automatisch. Bei einem solchen
„harten Brexit“ würden für die Beziehungen zwischen
Großbritannien und der EU nur noch die Regeln des Völkerrechts
gelten, etwa andere internationale Verträge, in denen sie beide
Mitglied sind. Allerdings kann die Zweijahresfrist durch einen
einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates (einschließlich des
Austrittslands) verlängert werden – gegebenenfalls wohl auch auf
unbestimmte Zeit, was die einzige Möglichkeit ist, den Austritt nach
Eröffnung des Verfahrens noch abzuwenden.
Warum
die britische Regierung zögert
Insgesamt
setzt Art. 50 EUV das Austrittsland also unter großen
zeitlichen Druck: Sobald es das Verfahren erst einmal in Gang gesetzt
hat, hat es über den weiteren Verlauf keine Kontrolle mehr. Dies
erklärt auch, warum die britische Regierung unter Theresa May
(Cons./AEKR) so zögert, den Austrittsmechanismus auszulösen. Zum
einen hat sie offenbar große
Schwierigkeiten, für
die Vorbereitung des Brexit kompetentes Personal zu finden.
Nachdem die Zuständigkeit
für die britische Handelspolitik über vierzig Jahre lang in Brüssel
lag, gibt es in London kaum noch Experten für dieses Thema – und
die sich doch damit auskennen, sind von der Idee eines EU-Austritts
meist alles andere als
begeistert. Zum anderen
sind zwei Jahre nicht
viel Zeit für ein solch komplexes Abkommen. Die
Regierung sollte deshalb
ein sehr genaues
Ziel haben, bevor sie
sich in die
Verhandlungen hineinbegibt.
Wie
aber könnte ein solches Ziel aussehen? In
der Traumwelt vieler
Brexit-Befürworter würde
Großbritannien im
europäischen Binnenmarkt verbleiben, dabei
aber weitgehend selbst entscheiden, welche
der gemeinsamen Regeln es anwendet und welche nicht. Insbesondere
die Arbeitnehmer-Freizügigkeit würde
drastisch eingeschränkt. Natürlich
würde das Land keine Zahlungen in den EU-Haushalt mehr leisten. Und
außerdem würde es mit dem Rest der Welt neue Freihandelsabkommen
abschließen,
die den britischen
Interessen besser entsprächen als diejenigen,
denen Großbritannien
derzeit als EU-Mitglied
angehört.
Die
britische Verhandlungsposition wird durch den Brexit nicht besser
In
der Realität wird es
dazu jedoch kaum kommen. Die
EU hat – nicht nur gegenüber Großbritannien, sondern auch
gegenüber
anderen Ländern wie der Schweiz – immer wieder deutlich
gemacht, dass es eine Teilnahme
am Binnenmarkt
ohne Freizügigkeit nicht geben wird. Es
gibt keinen Grund, warum sie nun von dieser Haltung abweichen sollte.
Und
auch gegenüber Drittländern
wird sich die britische
Verhandlungsposition durch den Brexit nicht verbessern. Im
Gegenteil: Da viele
britische Unternehmen
einen Großteil ihrer
Umsätze im Ausland machen,
könnte das Land es
sich kaum leisten, nach
einem EU-Austritt keine
Freihandelsabkommen
mit dem Rest der Welt
abzuschließen. Sobald
Artikel 50
ausgelöst wurde, steht
Großbritannien deshalb
stärker unter Druck als
seine Handelspartner: keine
gute Ausgangslage, um allzu
vorteilhafte Verträge auszuhandeln.
Wie
der Brexit aussehen könnte
Wie
der Ökonom Wolfgang Münchau bereits
kurz nach dem Brexit-Referendum analysierte,
bleiben für die
britische Regierung deshalb (neben
dem „harten Brexit“)
nur zwei
realistische Optionen:
das „Modell Norwegen“
oder das „Modell
Kanada“.
●
Das Modell Norwegen bedeutet im
Wesentlichen die Mitgliedschaft im Europäischen
Wirtschaftsraum (EWR),
einer Freihandelszone,
die derzeit die EU, Norwegen, Island und Liechtenstein umfasst.
Großbritannien hätte
damit weiter vollen
Zugang zum europäischen
Binnenmarkt – allerdings
zu den Bedingungen der Europäischen Union. Das Land müsste nicht
nur die Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren, sondern darüber
hinaus die gesamte
EU-Binnenmarktgesetzgebung übernehmen, ohne
daran selbst mitwirken zu können.
Und es müsste wie Norwegen einen finanziellen Beitrag zum Haushalt
der EU leisten. Die
EWR-Mitgliedschaft ist also mit einem großen Verlust an
demokratischer Selbstbestimmung verbunden –
was die norwegische Premierministerin Erna Solberg (H/EVP) selbst
dazu veranlasste, die Briten im Juni vor
dieser Lösung zu warnen.
●
Das Modell Kanada ist
demgegenüber flexibler:
Statt einer Mitgliedschaft im EWR würde Großbritannien mit der EU
nur ein Abkommen über
den freien Handel von Gütern und Dienstleistungen abschließen.
Großbritannien hätte
dadurch die Möglichkeit, die Freizügigkeit von
EU-Bürgern zu beschränken. Gleichzeitig
würde es jedoch auch den
Zugang zum freien Kapitalmarkt
verlieren, der es
britischen Banken derzeit
erlaubt, unbegrenzt in
der EU Geschäfte zu
machen. Für die City
of London wäre das ein
herber Schlag; zahlreiche
Banken könnten sich entscheiden, ihren Sitz in ein
EU-Land zu verlegen.
●
Sowohl das norwegische als auch
das kanadische Modell setzen freilich
voraus, dass sich
Großbritannien mit der EU einig wird. Die
einzige Option, mit der
Großbritannien von
der EU komplett unabhängig würde, ist der „harte Brexit“. Der
aber würde nicht
nur zu massiven
wirtschaftlichen Verwerfungen führen, sondern
auch zu großen
gesellschaftlichen
Problemen – von der
Anerkennung von Universitätsdiplomen bis zum Aufenthaltsstatus
britischer Bürger in der EU.
Die
Brexit-Frage als Rodrik-Trilemma
Wenn
man so will, kann man die Schwierigkeiten der britischen Regierung
als ein weiteres Beispiel für das Rodrik-Trilemma sehen, das
regelmäßigen Lesern dieses Blogs bereits aus
anderen
Kontexten
bekannt
sein dürfte. Es besagt,
dass man nicht
gleichzeitig Demokratie,
eine grenzüberschreitende
Wirtschaft und
nationale Souveränität
haben kann: Je zwei davon
sind miteinander vereinbar, nicht
aber alle drei.
Will
man deshalb in
einem überstaatlichen
Wirtschaftssystem demokratische
Selbstbestimmung haben,
so muss auch die
Demokratie überstaatlich werden –
und genau darin liegt das
Kernversprechen des europäischen Integrationsprojekts. Wer
das ablehnt,
wie es die
Mehrzahl der Briten in
dem Brexit-Referendum getan hat,
der muss eine
Entscheidung treffen:
Will er weiterhin
an einem grenzüberschreitenden Markt teilhaben, so
muss er
dafür Einbußen an
demokratischer
Selbstbestimmung in
Kauf nehmen (das
„Modell Norwegen“).
Will er hingegen seine
nationale Demokratie bewahren, so muss er sich wirtschaftlich und
gesellschaftlich abschotten (der
„harte Brexit“). Dazwischen
gibt es Abstufungen
wie das „Modell Kanada“.
Aber einen Ausweg aus dem
Zielkonflikt bieten sie nicht: Eine
nur nationale Demokratie ist mit einem überstaatlichen Markt
schlicht unvereinbar.
Ein
zweites Referendum, um den Austritt zu stoppen?
Die
Frage,
welches Brexit-Modell sie
anstreben soll, ist für
die britische Regierung deshalb wie die Entscheidung zwischen Pest und
Cholera. Und schon
werden Stimmen laut, die eine
zweite Volksabstimmung für das wahrscheinlichste Ergebnis halten:
Schließlich wusste beim
ersten Referendum niemand, wie
der Brexit eigentlich genau aussehen würde. Wäre
es deshalb nicht angemessen, das
Ergebnis der Verhandlungen noch
einmal der Bevölkerung vorzulegen?
Und sollten die Briten
dabei nicht auch die Möglichkeit haben, ihre Austrittsentscheidung
vom vergangenen Juni noch einmal zu revidieren?
Besonders
prominent wird diese
Position von
Owen Smith vertreten, der derzeit gegen Jeremy Corbyn für den
Vorsitz der Labour Party (SPE) kandidiert.
Noch einen Schritt weiter
gehen die Liberal
Democrats (ALDE) und
die schottische
SNP (EFA), die den
EU-Austritt sogar ohne ein zweites Referendum stoppen wollen.
Alle
drei Parteien sind
derzeit freilich in der Opposition, und die nächste britische
Parlamentswahl findet planmäßig erst im Mai
2020 statt. Falls die
Regierung den Artikel-50-Mechanismus im
Lauf des Jahres 2017 auslöst, könnte der Austritt noch vor der
Wahl vollzogen sein. Aber
der Druck auf sie wird
nicht geringer werden, und sobald deutlich wird, dass die realen
Austrittsverhandlungen
nicht den Träumen der Brexiteers entsprechen,
könnte die Idee eines zweiten
Referendums auch in der
Conservative Party Freunde
gewinnen.
Und
die EU?
Und
was sollte die EU nun tun? Vor und zum Teil auch nach dem Referendum
kursierten
Forderungen, die Austrittsverhandlungen gezielt schmerzhaft zu
gestalten, um ein Exempel zu statuieren und Großbritannien für
seine Entscheidung zu bestrafen. Das dürfte indessen gar nicht
notwendig sein. Auch so
ist jedes plausible Brexit-Modell schon unattraktiv genug, um etwaige Nachahmer in anderen Ländern abzuschrecken. Die EU muss nichts weiter tun, als einigen Prinzipien treu zu bleiben –
insbesondere dass es einen vollen Zugang zum Binnenmarkt nicht ohne
die Arbeitnehmerfreizügigkeit geben kann.
Zugleich
sollte die EU (der ohnehin oft vorgeworfen wird, sie lasse
Volksabstimmungen gern so
oft wiederholen, bis das Ergebnis stimmt) aber auch nicht aktiv
auf ein zweites britisches Referendum drängen. Gewiss: Einzelnen
Briten, die nun um
ihre Unionsbürgerschaft bangen müssen, sollte der Verbleib in
der EU so
einfach wie möglich gemacht werden. Die Bredouille aber, in die
sich Großbritannien insgesamt
mit dem Referendum
gebracht hat, ist in erster
Linie eine nationale Angelegenheit, und
es muss den Briten selbst überlassen sein, einen Ausweg daraus zu
finden. Die EU hat dabei weitaus weniger zu verlieren. Sie
kann ohne Aufregung abwarten, wie sich die Lage weiter entwickelt.
Klar
ist aber auch: Sobald der Artikel-50-Mechanismus einmal ausgelöst
wurde, ist der Austritt nur noch durch ein einstimmiges Votum aller
28 Mitgliedsregierungen zu verhindern. Sollten die Briten es sich
dann noch einmal anders überlegen, könnte das für den Rest der EU
deshalb eine passende Gelegenheit sein, um die Frage aufzuwerfen, ob
der Britenrabatt
im EU-Haushalt und diverse andere
Sonderregelungen eigentlich noch zeitgemäß sind.
Bild: By ukhomeoffice [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons.
Sobald der Artikel-50-Mechanismus einmal ausgelöst wurde, ist der Austritt nur noch durch ein einstimmiges Votum aller 28 Mitgliedsregierungen zu verhindern.
AntwortenLöschenThat's one of the big open questions. Many legal analysts have concluded that an art. 50 notification can be withdrawn unilaterally. Personally, I think there is a reasonable legal case either way, meaning that the notification can be withdrawn if the other EU Member States decide to allow that to happen.
ich denke, dass es eine riesige Wirkung auf die Wirtschaft machen wird
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