- Mit Spinelli im Rücken: Seit langem war kein offizielles EU-Dokument mehr so föderalistisch wie Guy Verhofstadts Berichtsentwurf.
Der Zeitpunkt könnte kaum passender sein: Knapp drei Wochen, nachdem
die britische Bevölkerung für den Austritt aus der EU gestimmt und
damit auch auf dem Kontinent eine
intensive Diskussion über die Zukunft der europäischen Integration
ausgelöst hat, präsentierte am vergangenen Dienstag der
liberale Fraktionsvorsitzende Guy Verhofstadt (OpenVLD/ALDE) im
Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments den Entwurf für
seinen Bericht „über künftige Entwicklungen und Anpassungen des
derzeitigen institutionellen Rahmens der Europäischen Union“ (hier
im englischen Wortlaut, alle Zitate meine Übersetzung). Über
weite Strecken liest er sich wie die kraftvolle, pro-europäische
Antwort auf den Brexit, die in den letzten Wochen von verschiedenen
Seiten eingefordert wurde. Aber natürlich ist das zu einem guten
Teil auch dem Zufall zu verdanken: In Wirklichkeit hatte Verhofstadt
bereits seit Ende 2014 an dem Text gearbeitet und nach dem britischen
Referendum nur noch einige Absätze zum Umgang mit dem Vereinigten
Königreich ergänzt.
Europäischer Konvent 2017?
Der Verhofstadt-Bericht ist eine von zwei Initiativen zur Reform der
EU, die das Europäische Parlament nach der Europawahl 2014 auf den
Weg gebracht hat und die nun im zweiten Halbjahr 2016 im Plenum
verabschiedet werden sollen. Der andere Bericht wurde unter
Federführung von Mercedes Bresso (PD/SPE) und Elmar Brok (CDU/EVP)
erarbeitet und dem Verfassungsausschuss bereits im Januar vorgelegt.
Er behandelt die Frage, wie die EU innerhalb des derzeit gültigen Vertragsrahmens zu einer vertieften
Integration gelangen kann (mehr dazu hier).
Guy Verhofstadt geht nun noch einen Schritt weiter und macht
Vorschläge für eine „umfassende und gründliche Reform des
Lissabon-Vertrags“. Als Weg dahin strebt er einen Konvent nach Art.
48 EU-Vertrag an, und zwar am besten schon zum Anlass des 60.
Jahrestags der Römischen Verträge, die am 25. März 1957
unterzeichnet wurden.
Einfluss der Spinelli-Gruppe
Und auch die Richtung der Vertragsreform ist klar: Verhofstadt
schreibt zwar zurückhaltend nur von einer „Modernisierung“ und
von „neuen effektiven Kapazitäten und Instrumenten“ der EU.
Tatsächlich aber dürfte es seit langem kein offizielles Dokument
der EU gegeben haben, das so weitreichende Vorschläge enthielt und so deutlich föderalistisch inspiriert war
wie dieser Berichtsentwurf.
Wer in den letzten Jahren die föderalistische Diskussion über
mögliche Vertragsreformen mitverfolgt hat – insbesondere den
„Entwurf
für ein Grundgesetz für die EU“, der Ende 2013 von der
Spinelli-Gruppe im Europäischen Parlament veröffentlicht wurde, der
auch Verhofstadt angehört –, dem werden viele der Vorschläge
vertraut vorkommen. Bislang blieben das jedoch Ideen für die
öffentliche Debatte. Mit dem Berichtsentwurf stehen sie nun erstmals
auch offiziell auf der Tagesordnung des Parlaments.
Gemeinschaftsmethode statt „Europa à la carte“
Erste Kernforderung Verhofstadts ist dabei, „das Europa à la
carte zu beenden“. Allzu häufig, so seine Klage, hat der
Europäische Rat in den letzten Jahren Integrationsblockaden dadurch
zu lösen versucht, dass er einzelnen Ländern Ausnahmeklauseln
zugestand und statt der ordentlichen Gesetzgebungsverfahren auf
zwischenstaatliche Abkommen der Mitgliedsländer zurückgriff.
Dadurch wurde die EU nicht nur schwerfälliger, sondern auch
unübersichtlicher und letztlich undemokratischer, da eigentlich
vorgesehene parlamentarische Kontroll- und Mitspracherechte umgangen
wurden.
Stattdessen will Verhofstadt der Gemeinschaftsmethode
(die er als „Unionsmethode“ bezeichnet) wieder zu ihrem Recht
verhelfen: Wo die EU Kompetenzen hat, soll die Gesetzgebung von der
Kommission ausgehen und von Parlament und Rat gemeinsam jeweils mit
Mehrheitsentscheid verabschiedet werden. Ausnahmen für einzelne
Mitgliedstaaten soll es dabei möglichst überhaupt nicht mehr geben.
Stattdessen sollen Länder, die sich nur an einzelnen Politikfeldern
der EU beteiligen wollen, künftig einen neuen Status als
„assoziiertes Mitglied“ erhalten können.
Assoziierte Mitgliedschaft
Wie dieser Status genau aussehen würde, erklärt der Berichtsentwurf
allerdings nicht; die Rede ist nur vage davon, dass er mit „Rechten“
und „entsprechenden Pflichten“ verbunden wäre. Dass Verhofstadt
auch Großbritannien nach dem Brexit als mögliches assoziiertes
Mitglied sieht, weist jedoch darauf hin, dass damit offenbar keine
direkte Beteiligung an den EU-Institutionen selbst einhergehen soll.
Vielmehr dürfte wohl ein Modell ähnlich dem heutigen Europäischen
Wirtschaftsraum gemeint sein, durch den einige
Nicht-EU-Mitglieder Zugang zum Europäischen Binnenmarkt erhalten,
dafür aber die entsprechende EU-Gesetzgebung umsetzen müssen, ohne
selbst darüber mitentscheiden zu können.
Für die assoziierten Mitglieder selbst wäre das natürlich deutlich
weniger attraktiv als das heutige Modell einer
Vollmitgliedschaft mit Ausnahmeklauseln. Trotzdem sieht Verhofstadt
hier offenbar die Lösung für die Kerneuropa-Debatte
der jüngsten Zeit: Ein Land, das zur Europäischen Union dazugehören
will, soll sich auch voll darauf einlassen – alle anderen hingegen
können sich in einen äußeren Ring zurückziehen, müssen dann aber
auch akzeptieren, dass sie in Brüssel nur noch begrenzten Einfluss
nehmen können.
Ein „Finanzminister“ für die Eurozone
Als zweites großes Reformfeld sieht Verhofstadt die Währungsunion,
deren institutionelles Gefüge in der Eurokrise schwere Schäden
zeigte und seitdem nur notdürftig geflickt wurde. So weist der
Berichtsentwurf zum Beispiel darauf hin, dass Artikel 18 des
Euro-Fiskalpakts
explizit vorsieht, dass dieser innerhalb von fünf Jahren nach seinem
Inkrafttreten (das heißt, bis 1. Januar 2018) in den
EU-Vertragsrahmen überführt werden soll.
Darüber
hinaus beinhaltet der Berichtsentwurf noch eine ganze Reihe von
weiteren Forderungen, die größtenteils schon lange diskutiert
werden: etwa die Einrichtung
eines eigenen Budgets für die Eurozone, die Einführung eines
gemeinsamen
Schuldentilgungsfonds oder
mehr parlamentarische
Mitbestimmung im Rahmen des Europäischen Semesters. Außerdem
will Verhofstadt das für die Eurozone zuständige
Kommissionsmitglied (derzeit Valdis Dombrovskis, V/EVP) zum
„EU-Finanzminister“ aufwerten und ihm zusätzliche exekutive
Befugnisse übertragen.
Wird der Atomausstieg zum Thema für die EU?
Und noch in einigen weiteren Politikfeldern fordert Verhofstadt neue
Kompetenzen für die EU. So soll sie im Rahmen der Energie-Union
künftig auch bei der Wahl zwischen unterschiedlichen Energiequellen
mitsprechen dürfen – ein Bereich, der nach Art.
194 Abs. 2 AEUV bislang komplett in der Hand der Mitgliedstaaten
liegt. Faktisch würde sich dadurch zum Beispiel auch die Diskussion
über den Atomausstieg auf die europäische Ebene übertragen, was
angesichts der offensichtlichen grenzüberschreitenden Risiken der
Atomkraft durchaus sinnvoll erscheint.
Aber auch im Bereich innere Sicherheit soll die EU künftig aktiver
werden können. Insbesondere will Verhofstadt auch das Europäische
Polizeiamt Europol und
die EU-Justizbehörde Eurojust
stärken und mit eigenen Ermittlungs- und Strafverfolgungskompetenzen
ausstatten. Und auch bei der Einwanderungspolitik soll die EU mehr
mitbestimmen dürfen: Die Entscheidung, wie viele Arbeitsmigranten
aus Drittstaaten einwandern dürfen, soll künftig nicht mehr allein
Sache der Mitgliedstaaten sein.
Wenig Neues enthält der Berichtsentwurf im Bereich Außenpolitik.
Konkret schlägt er vor, das Amt der Hohen
Vertreterin (derzeit Federica Mogherini, PD/SPE) in
„EU-Außenministerin“ umzubenennen und ihr unter anderem auf
Ebene der Vereinten Nationen mehr Sichtbarkeit zu verschaffen.
Außerdem sollen die Kontrollrechte des Europäischen Parlaments und
des Europäischen Gerichtshofs über die EU-Außenpolitik gestärkt
werden.
Institutionelle Reformen
Besonders interessant sind schließlich die institutionellen
Reformen, die Verhofstadt anstrebt. Auch hier finden sich einige
bekannte Ideen wieder: So fordert der Berichtsentwurf unter anderem
eine Verkleinerung der Kommission, einen einzelnen Sitz für das
Parlament sowie ein Initiativrecht für Parlament und Rat im
Gesetzgebungsverfahren.
Außerdem schlägt Verhofstadt vor, den Europäischen Rat als
eigenständiges Organ abzuschaffen und in den Ministerrat zu
integrieren (womit implizit auch das Einstimmigkeitsprinzip unter den
Staats- und Regierungschefs überwunden würde). Anstelle der
derzeitigen halbjährlich
rotierenden Ratspräsidentschaften sollen längerfristig gewählte
Ratsvorsitzende treten. Und nicht zuletzt sollen die Mitgliedstaaten
die Möglichkeit erhalten, statt Regierungsvertretern künftig auch
Vertreter der nationalen Parlamente in den Rat zu entsenden.
Und natürlich unterstützt Verhofstadt auch das
Spitzenkandidaten-Verfahren
für die Ernennung des Kommissionspräsidenten sowie
transnationale
Listen bei der Europawahl. Nur die Wahl
der Kommission allein durch das Europäische Parlament fehlt in
dieser Sammlung klassischer föderalistischer Forderungen.
Die zweifelhafte „parlamentarische Eurogruppe“
Ein anderer Vorschlag allerdings scheint mir persönlich eher von
zweifelhaftem Nutzen zu sein: Geht es nach dem Berichtsentwurf, so
sollen bei Entscheidungen des Europäischen Parlaments, die nur die
Eurozone betreffen, künftig auch nur noch Abgeordnete beteiligt
werden, die in Euro-Ländern gewählt wurden. Auch diese
„parlamentarische Eurogruppe“ wurde bereits
seit einigen Jahren immer wieder ins Spiel gebracht.
Bis jetzt waren die Europaparlamentarier allerdings mit gutem Grund
stets der Linie gefolgt, dass sie Vertreter aller Unionsbürger
sind und sich deshalb nicht in
Euro- und
Nicht-Euro-Abgeordnete
spalten lassen wollen.
Wenn bei der Europawahl in
Zukunft ein Teil der
Abgeordneten auf transnationalen
Listen gewählt werden soll,
wird dieses
Argument noch relevanter. Eine
Lösung dafür bietet Verhofstadt nicht – ebenso wenig wie für die
Frage nach der
parlamentarischen
Verantwortung des künftigen „EU-Finanzministers“. Als
Kommissionsmitglied würde
dieser ja vom
gesamten Parlament gewählt; in
seiner täglichen Arbeit aber
hätte er nur
mit
den Abgeordneten aus Euro-Ländern zu
tun, unter denen es nicht unbedingt dieselben Mehrheitsverhältnisse
geben müsste.
Ende der nationalen Vetorechte
Der eigentliche Höhepunkt des Berichtsentwurfs aber findet sich erst
ganz am Schluss. Dabei geht es um die Abschaffung nationaler
Vetorechte in zwei zentralen Fragen: So fordert Verhofstadt, dass der
mehrjährige
Finanzrahmen sowie der Eigenmittelbeschluss
im Rat künftig nicht mehr einstimmig, sondern mit
Mehrheitsentscheiden nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren
verabschiedet werden. Das klingt auf unspektakuläre Weise technisch,
kommt aber einer kleinen Revolution nahe – denn der mehrjährige
Finanzrahmen und der Eigenmittelbeschluss bestimmen die Höhe und Art
der EU-Finanzierungsquellen. Mit der Abschaffung des
Einstimmigkeitsprinzips könnte die EU deshalb de facto eigene
Steuern erheben.
Und nicht nur für die Finanzierung der EU will Verhofstadt nationale
Vetorechte kippen, sondern auch für
künftige Vertragsreformen. So sollen Änderungen an den
EU-Verträgen künftig nicht erst in Kraft treten, wenn sie von allen
nationalen Parlamenten ratifiziert wurden. Stattdessen würde es
schon genügen, dass vier Fünftel von ihnen (und das Europäische
Parlament) zustimmen – ein Verfahren, das sich an das
Verfassungsänderungsverfahren
der USA anlehnt. Staaten, die eine solcherart beschlossene
Vertragsreform nicht mittragen wollen, bliebe nur noch der Austritt
oder der Status als „assoziiertes Mitglied“.
Am Anfang eines langen Wegs
Verhofstadts Vorschläge, so viel ist klar, würden die EU
demokratischer und handlungsfähiger machen. Nach Jahren des
improvisierten Krisenmanagements wären
sie ein
hinreichend großer Wurf, um
das Heft wieder in die Hand
zu bekommen
und auch für künftige
Schwierigkeiten gewappnet zu
sein.
Die Wahrscheinlichkeit, dass das alles tatsächlich in absehbarer
Zeit Wirklichkeit wird, ist jedoch
nicht besonders
hoch. Denn
natürlich steht Verhofstadts
Berichtsentwurf nur am Anfang
eines langen, steinigen Wegs:
Im nächsten Schritt können
nun die
Mitglieder im Verfassungsausschuss
des Europäischen Parlaments Änderungsanträge einbringen,
ehe sie voraussichtlich im
Herbst darüber abstimmen. Wahrscheinlich
wird einigen
der am weitesten
gehenden Vorschläge schon in
dieser Phase die Spitze genommen werden.
Anschließend geht der Bericht ins Plenum des Parlaments, wo er Ende
des Jahres verabschiedet werden soll.
Danach müsste die Einberufung eines Konvents folgen, die das
Parlament jedoch nicht mehr selbst in der Hand hat: Nach Art.
48 Abs. 3 EUV ist dafür auch die Zustimmung des Europäischen
Rates notwendig. Und selbst wenn es wirklich dazu kommt, wären für
die Vertragsreform noch große politische und rechtliche Hürden zu
nehmen – zum Beispiel das Karlsruher Bundesverfassungsgericht, das
die Aufgabe deutscher Vetorechte in der EU seit
längerem mit überaus skeptischen Augen sieht.
Der Berichtsentwurf eröffnet eine Perspektive
Und dennoch: Die Forderungen des Verhofstadt-Berichts sind so
wichtig, dass es bereits ein Gewinn ist, dass das Europäische
Parlament sie überhaupt ins Spiel bringt. Die Geschichte der
europäischen Integration zeigt, dass wichtige
Demokratisierungsschritte oft erst
beim zweiten, dritten oder vierten Anlauf gelangen. Schon viele
Berichte verschwanden nach ihrer Verabschiedung ergebnislos in der
Schublade, nur um zu einem späteren Zeitpunkt doch noch verwirklicht
zu werden.
Guy Verhofstadts Entwurf eröffnet eine Perspektive, wie die
EU mit ihrer derzeitigen Krise umgehen könnte, wenn wir es ernst
meinen mit der „immer engeren Union“ und der europäischen
Demokratie. Die Möglichkeit dazu ist vorhanden; sie ist nicht nur
bloße Utopie, sondern lässt sich auf konkrete Vorschläge zur
Vertragsänderung herunterbrechen. Wie auch immer die Reaktion der
Mitgliedstaaten auf den Brexit ausfällt: Wer behauptet, dass ihm die
europäische Integration am Herzen liegt, wird sich an dieser
Perspektive messen lassen müssen.
Bild: ALDE Communication [CC BY-ND 2.0], via Flickr.
"Wo die EU Kompetenzen hat, soll die Gesetzgebung von der Kommission ausgehen und von Parlament und Rat gemeinsam jeweils mit Mehrheitsentscheid verabschiedet werden."
AntwortenLöschen"sowie ein Initiativrecht für Parlament und Rat im Gesetzgebungsverfahren"
Das verstehe ich nicht. Geht jetzt die Gesetzgebung von der Kommission aus oder kann sie auch vom Parlament ausgehen?
Richtig erkannt, der Punkt ist nicht ganz eindeutig. Am besten versteht man Verhofstadt wohl so, dass er erst einmal das existierende ordentliche Gesetzgebungsverfahren gegenüber intergouvernementalen Ad-hoc-Verfahren stärken und dann um ein Initiativrecht von EP und Rat ergänzen will.
AntwortenLöschenSo etwas befürchte ich. Es wäre aus meiner Sicht der zweite Schritt vor dem ersten, wenn zunächst der Einfluss des EP ausgeweitet wird und erst dann geschaut würde, wie man das EP dafür auch entsprechend ausrüstet (z.B. Stimmengleichheit, Initiativrecht, überall dasselbe EU-Wahlrecht usw.).
LöschenInsgesamt teile ich zwar die Problemanalyse zur Verschiebung der Macht von Parlamenten zu Regierungen, ich hatte das auch mal in meinem Blog thematisiert ( http://www.mister-ede.de/politik/machtverschiebung-in-der-eu/2913 ), aber was Verhofstadt zur Lösung vorschlägt, halte ich, milde gesagt, für enttäuschend.