Ob
das Comprehensive Economic and Trade
Agreement (CETA)
zwischen der EU und Kanada ein
Freihandelsvertrag oder doch ein „gemischtes Abkommen“ ist,
klingt auf Anhieb nicht nach einer Frage, die allzu viele Gemüter
bewegen müsste. Und doch schlugen die Wellen hoch, als die
Europäische Kommission Mitte Juni
ankündigte, CETA
sei aus ihrer Sicht ein Freihandelsvertrag. Und als sie dann vor
einigen Tagen bekannt gab, sie werde es trotzdem wie ein gemischtes
Abkommen behandeln, da jubelten unter anderem die Grünen im
Europäischen Parlament, das sei „ein
riesiger Erfolg für die Zivilgesellschaft & europäische
Demokratie“ – während der Europaabgeordnete Elmar Brok
(CDU/EVP) warnte, dass die
EU ihre
„Handlungsfähigkeit als Handelsmacht“ verliere.
Um
all die Aufregung zu verstehen, muss man zunächst einmal wissen,
worum es in CETA überhaupt geht. Das
Abkommen wird häufig als
die „kleine
Schwester von TTIP“ bezeichnet, also
von dem
heftig
umstrittenen transatlantischen
Freihandelsvertrag,
der seit einigen Jahren
zwischen der EU und den USA
ausgehandelt wird.
Im Einzelnen soll es
den Handel zwischen der EU und Kanada vereinfachen, indem es die noch
existierenden Zölle zwischen den beiden Wirtschaftsräumen nahezu
komplett abschafft. Außerdem werden unter anderem bestimmte
technische Standards angeglichen, Berufsabschlüsse werden
wechselseitig anerkannt, und europäische Unternehmen können künftig
an allen öffentlichen Ausschreibungen in Kanada teilnehmen.
Darüber
hinaus enthält CETA allerdings auch Regelungen zum
Investitionsschutz – also Bestimmungen, die ausländischen
Unternehmen eine Garantie gegen willkürliche Enteignungen geben
sollen. In der Vergangenheit führten solche
Investitionsschutz-Regeln immer wieder zu heftigen politischen
Konflikten: Zum Beispiel klagte 2012 der Energieversorger Vattenfall
gegen
den deutschen Atomausstieg, da dieser de facto einer
Enteignung der Kernkraftwerksbetreiber gleichkomme.
Besonders dass
Investitionsschutzverfahren bislang
in der Regel vor privaten Schiedsgerichten ausgetragen werden, geriet
in den letzten Jahren stark in die Kritik.
Offene
Ablehnung
Die
EU-Kommission und Kanada reagierten darauf, indem sie Pläne
für ein völlig neues Investitionsschutzsystem
entwickelten: An die Stelle
der privaten Schiedsgerichte soll ein ständiger
internationaler Investitionsgerichtshof treten, und Unternehmen
sollen nur
noch klagen können, wenn sie tatsächlich willkürlich
behandelt oder um die
Eigentumsrechte an ihren Investitionen gebracht werden – und nicht,
wenn eine
Gesetzesänderung
lediglich ihre künftigen Gewinnmöglichkeiten einschränkt.
Für
viele Kritiker ist dies jedoch
noch nicht genug. Auf
Widerstand stößt unter
anderem auch eine sogenannte
Lock-in-Klausel, nach der die Vertragspartner sich
darauf verpflichten, in bestimmten liberalisierten
Wirtschaftsbereichen keine
neuen Regulierungen
einzuführen. Für den Verein Campact zum
Beispiel ist CETA deshalb
nicht weniger als ein „Angriff
auf die Demokratie“. Und
auch die Europäischen Grünen und
die Europäische Linkspartei
sehen
das Abkommen teils mit
Misstrauen, teils
mit offener
Ablehnung.
Für
Außenhandel ist die EU allein zuständig
Die
jüngste Aufregung um CETA
betraf allerdings gar nicht
die Inhalte des Vertrags, sondern – wenigstens vordergründig –
lediglich eine rechtliche
Verfahrensfrage. Konkret ging
es darum,
welche Parlamente an der Ratifikation des Vertrags beteiligt werden
sollen.
Nach
Art. 207 AEUV
besitzt die Europäische
Union die
alleinige Zuständigkeit im
Bereich Außenhandel. Um ein
Freihandelsabkommen mit
anderen Wirtschaftsräumen abzuschließen,
erteilt der Ministerrat ein
Mandat an die Kommission, die das Abkommen dann aushandelt. Das
Ergebnis muss dann vom
Europäischen Parlament und vom Ministerrat ratifiziert werden –
wobei im Fall von CETA nach
Art. 207 Abs. 4 AEUV alle
nationalen Regierungen im Ministerrat zustimmen müssten,
da der Vertrag auch
Regelungen zu Direktinvestitionen und zum geistigen Eigentum enthält.
Die
nationalen Parlamente hingegen haben bei Freihandelsverträgen kein
direktes Mitspracherecht. Wenn
sie Einfluss auf das Ratifikationsverfahren nehmen wollen, dann geht
das lediglich über ihre
jeweiligen nationalen
Regierungen.
Ratifikation in über vierzig Parlamenten
Anders
liegt die Sache bei den
sogenannten „gemischten
Abkommen“, also bei
Verträgen,
deren Inhalte zum Teil in den
Zuständigkeitsbereich der EU fallen, zum Teil aber auch in den der
einzelnen Mitgliedstaaten. Auch
gemischte Abkommen werden von der Kommission ausgehandelt. Sie
müssen aber nicht nur vom Ministerrat
und vom Europäischen Parlament ratifiziert werden, sondern darüber
hinaus auch von den Parlamenten aller Mitgliedstaaten.
Je
nach der nationalen
Verfassung müssen dabei
in vielen Ländern mehrere
Parlamentskammern zustimmen
(in Deutschland zum Beispiel
Bundestag und Bundesrat), in
Belgien unter
Umständen sogar die
regionalen Parlamente
von Flandern
und der Wallonie. Damit
ein gemischtes Abkommen in Kraft treten kann, ist
deshalb das
Einverständnis von insgesamt über
vierzig Parlamenten notwendig.
Und damit nicht genug: In
einigen Ländern kann das Ratifikationsverfahren auch noch durch
einen Volksentscheid
gekippt werden, wie die EU
erst vor wenigen Monaten im
Fall des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine erfahren musste.
Als
gemischtes Abkommen wird CETA fast sicher scheitern
Die
Frage, ob CETA ein reines
Freihandelsabkommen oder
ein gemischtes Abkommen ist, hat
deshalb gravierende
Auswirkungen auf seine Chancen,
jemals in Kraft zu treten. Schon
im ersteren Fall sind die Hürden im
Ministerrat verhältnismäßig
hoch. Wird CETA jedoch
als gemischtes Abkommen
behandelt, so ist sein
Scheitern nahezu sicher: Das
wallonische Parlament hat
bereits
Ende April erklärt, dass es sein
Vetorecht gegen den Vertrag
nutzen wird,
wenn es die Gelegenheit dazu
bekommt.
Unglücklicherweise
ist es jedoch nicht offensichtlich, wie weit die ausschließlichen
EU-Kompetenzen genau reichen und an welcher Stelle der „gemischte“
Bereich beginnt. Dass der
Abbau von Zöllen in die
alleinige Zuständigkeit der EU fällt,
ist klar. Aber ist Investitionsschutz noch
Handelspolitik? Und
wie sieht es mit der
Anerkennung von
Berufsqualifikationen aus?
Am
Ende ruderte die Kommission zurück
Es
ist deshalb kaum verwunderlich, dass die Festlegung
auf einen der beiden Vertragstypen schnell
zum
Politikum wurde. Angesichts
einer wenig CETA-freundlichen Öffentlichkeit drängten zahlreiche
nationale Regierungen
auf
eine Einstufung als gemischtes Abkommen und
legten schon frühzeitig entsprechende
Rechtsgutachten vor.
Die
Kommission definierte
das
Abkommen
hingegen
zunächst
als
„EU
only“.
Der
Ministerrat hätte
diese
Entscheidung revidieren können; dafür
wäre jedoch
ein
einstimmiger
Beschluss nötig
gewesen –
der
nicht zustande kam, da die
italienische Regierung die Kommission unterstützte.
Trotzdem
ruderte
die Kommission
letztlich zurück: Am
vergangenen Dienstag erklärte
sie, sie betrachte
CETA zwar noch immer als ein
Abkommen, das unter die alleinige Zuständigkeit der EU falle.
Angesichts der „politischen
Lage im Ministerrat“ werde sie es jedoch als gemischtes Abkommen
behandeln, „um eine schnelle Unterzeichnung zu ermöglichen“.
Aus
verfassungspolitischer Sicht unglücklich
Kein
Wunder also, dass die CETA-skeptischen Grünen zuletzt
jubelten. Aus
verfassungspolitischer
Sicht jedoch scheint mir die
jüngste Entscheidung der
Kommission aus drei Gründen
unglücklich
zu sein – und zwar ganz
unabhängig davon, wie
man inhaltlich zu
dem Abkommen mit Kanada steht.
Denn
erstens will die Kommission
mit der Anwendung von CETA
nicht warten, bis alle nationalen Parlamente den Vertrag ratifiziert
haben: Schon
sobald der Ministerrat und
das Europäische Parlament zugestimmt haben, soll CETA vorläufig in
Kraft treten. Das
entspricht einerseits der
üblichen Praxis, bringt
andererseits aber gerade
angesichts der erwartbaren Ratifikationsprobleme auch eine hohe
Unsicherheit mit sich. Denn
was passieren
soll, wenn
eines der nationalen
Parlamente die Zustimmung
verweigert, lässt die
Kommission offen.
Am Ende könnte deshalb
dieselbe
Ratlosigkeit stehen wie nach
dem niederländischen
Ukraine-Referendum vor
einigen Monaten.
Die
Kommission schwächt das Europäische Parlament
Zweitens
schwächte
die Kommission mit ihrem Einlenken die
Stellung des Europäischen Parlaments.
Wenn die
Medien in den letzten Wochen
über den CETA-Streit
berichteten,
dann schwang
dabei mal mehr, mal weniger explizit oft
die Vorstellung mit, dass die
Beteiligung der nationalen
Parlamente auch ein
Gebot der Demokratie sei.
Dagegen ging meistens unter,
dass CETA
auch als reines Freihandelsabkommen
nur in Kraft treten kann,
wenn es zuvor durch
das Europäische
Parlament ratifiziert wurde.
Klar:
Wenn CETA ein gemischtes Abkommen ist, dann
muss dem Vertrag Genüge
getan und die nationalen
Parlamente beteiligt werden. Doch
die Kommission bleibt ja
ausdrücklich bei
ihrer Auffassung, dass
es sich um
ein reines EU-Abkommen
handelt.
Wenn sie dennoch die
nationalen Parlamente an der Ratifikation beteiligen will, dann
bestätigt sie
damit indirekt die
Vorstellung, dass nur
diese die notwendige Legitimation dafür
besitzen – und
untergräbt damit die Position der demokratisch
gewählten
Europaabgeordneten.
Die
Zuständigkeitsfrage sollte vor dem EuGH geklärt werden
Und
drittens ist die Entscheidung der Kommission, aus rein politischen Gründen vom einen auf das andere Ratifikationsverfahren umzusteigen,
auch ein Affront gegen den Europäischen Gerichtshof. Denn
es stimmt zwar, dass die
Frage, wo genau
die ausschließliche Zuständigkeit der EU für die Handelspolitik
endet und der Bereich der
„gemischten Abkommen“ beginnt, rechtlich
nicht ohne
Weiteres zu beantworten ist.
Aber das bedeutet ja nicht,
dass es
keine rechtliche Verfahren gäbe, um genau solche Fragen zu klären.
Im
Fall von CETA versteckt sich
dieses Verfahren in Art.
218 Abs. 11 AEUV:
Bevor die EU ein
internationales Abkommen abschließt, kann die Kommission, das
Parlament, der Rat und jeder Mitgliedstaat ein Gutachten beim
Europäischen Gerichtshof in Auftrag geben, das die Vereinbarkeit des
Abkommens mit den EU-Verträgen überprüft. In
diesem Gutachten-Verfahren kann auch geklärt werden,
ob ein bestimmtes Abkommen in
die ausschließliche Zuständigkeit der EU fällt oder nicht.
Die
Kommission riskiert einen langfristigen Imageverlust
Tatsächlich
hat die Kommission erst im Sommer 2015 anlässlich eines
Freihandelsabkommens
mit Singapur genau so
ein Gutachten in Auftrag gegeben. Das
entsprechende Verfahren ist derzeit noch offen,
dürfte aber in absehbarer
Zeit entschieden werden. Letztlich
wird sich das Inkrafttreten
des Freihandelsabkommens dadurch um einige
Monate oder Jahre verzögern. Aber
dafür wird es am Ende
Rechtssicherheit geben, weil
die vorgesehenen Verfahren eingehalten wurden.
Auch im
Fall CETA hätte der Weg zum EuGH die Lösung sein können, um die aufgeheizte politische Debatte über die Beteiligung der nationalen Parlamente zu beruhigen. Stattdessen handelte
die Kommission offen
opportunistisch – und
riskiert damit nicht nur ein
Scheitern des Abkommens, sondern
vor allem auch einen
langfristigen Imageverlust
der europäischen Institutionen. Ganz
egal, wie kritisch man den
Vertrag mit Kanada sehen mag: Wem
die europäische Demokratie
am Herzen liegt, der kann sich nicht
über diese Entscheidung freuen.
Bild: Unterwegs in Berlin [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr.
Gerade vor dem Hintergrund der Post-Brexit-Debatte um die Stärkung europäischer Solidarität führt die Entscheidung, die demokratische Legitimation an die nationalen Parlamente zurückzugeben, sicherlich nicht zu einer Stärkung der demokratisch-bürgerschaftlichen Solidarität zwischen den Bürgerinnen der Mitgliedsstaaten. Im Gegenteil, das EP wird marginalisiert, die „salient issues“ wieder einmal auf der nationalen Ebene verhandelt. Befürchte, dieser Trend wird sich fortsetzen, was meinst du? Zeit, eine andere Solidaritätsquelle aufzutun ;)
AntwortenLöschenAuf der anderen Seite halte ich deine Diagnose, dass die Kommission deswegen gleich einen Imageschaden für die europäischen Institutionen riskiert, für einigermaßen pessimistisch. Sehe das Ausschlacht-Potenzial für Europaskeptiker und Rechtspopulisten, aber immerhin gibt es einen Ermessensspielraum, den kann man nutzen, um dem Elitismus-Vorwurf und dem perzipierten Demokratiedefizit entgegen zu wirken - zumindest vorläufig. Die Alternative, Post-Brexit einfach so zu tun, als wäre nichts passiert, scheint mir politisch noch viel heikler. Ich würde daher nicht von Opportunismus, sondern von politischer Flexibilität sprechen, die m.E. sogar dazu führen kann, das Vertrauen in die Institutionen insoweit zu stärken, als der gemeine EU-Bürger sich wieder stärker ernstgenommen fühlt.
Wulf
Hallo Wulf, mit dem "Imageverlust" meinte ich nicht kurzfristige (Post-Brexit-)Ausschlachtungen durch Europaskeptiker, sondern eben jene Marginalisierung der europäischen Ebene (des EP, aber auch des EuGH) in der öffentlichen Wahrnehmung, der die Kommission, wie du ja auch selbst ansprichst, mit ihrer Entscheidung hier Vorschub verleiht.
LöschenDass sich der "gemeine EU-Bürger" dadurch zuletzt stärker ernstgenommen fühlen könnte, denke ich nicht. In Deutschland zum Beispiel scheinen mir die meisten Medien eher ein "Die Kommission ist vor der Bundesregierung eingeknickt"-Narrativ zu präsentieren. Im schlimmsten Fall zieht der gemeine EU-Bürger daraus die Schlussfolgerung, dass ein hartes Auftreten der nationalen Regierung das beste Mittel ist, um wildgewordene Brüsseler Antidemokraten zu stoppen. Um das Vertrauen in die Institutionen zu stärken, wäre der Weg zum EuGH in meinen Augen definitiv besser gewesen.
Herzliche Grüße,
Manuel
Verstehe deine Sorge, aber das alternative Narrativ "Die halsstarrigen elitistischen EU-Bürokraten kümmern sich einen Dreck um unsere Meinung und erodieren den Rechtsstaat mit Chlorhühnchen und Schiedsgerichten" scheint mir zum. kurzfristig gesehen mindestens ebenso schädlich. Politikstrategisch böten sich andere Themen weitaus mehr an, um eine Konfrontation Supranationalismus vs. Intergouvernementalität auszufechten. Wichtiger schiene mir aber in dem Zusammenhang, Aufklärungsarbeit in Bezug auf die demokratischen Strukturen und Optionen (und auch die Demokratiedefizite) zu leisten… und diese Strukturen wo möglich zu stärken. Dieses Projekt verfolgst du ja seit längerem (theoretisch wie praktisch), aber nicht nur du: http://www.zeit.de/2016/29/eu-krise-brexit-juergen-habermas-kerneuropa-kritik/seite-2
LöschenIch pers. bin aber angesichts der momentanen populistischen Desinformationswelle skeptisch, ob man damit aktuell weit kommt. Und so sehr ich deine Einschätzung teile, dass mit der medialen Aufmerksamkeit auch das Bürgerverständnis und letztlich die öffentliche Akzeptanz des EP einhergehen, so wenig sehe ich im Moment, wie sich der mediale Diskurs in Bezug auf EP und die ganze EU ändern könnte. Wie du ja schön zeigst, würde eine jetzige Europawahl v.a. Rechtskonservativen und Europaskeptikern nützen. Siehst du selbst Alternativen zum „Demokratisierungs- und Öffentlichkeitsarbeits“-Projekt? Ein Habermassches Kerneuropa der Euro-Gruppe?
Hmmm, Kerneuropa...
LöschenWoher kommen deine Zweifel, dass sich der mediale Diskurs über das Europäische Parlament und die EU nicht verändern ließe? Der Brexit jedenfalls scheint mir gerade unter jüngeren Menschen eher eine Welle von Jetzt-erst-recht-Europabegeisterung auszulösen (und ein wenig Bewusstsein dafür, dass all die Vorteile, die die EU bringt, eben doch nicht selbstverständlich sind, sondern einen gewissen politischen Einsatz verlangen).
Ich befürchte, dass der mediale Diskurs momentan durch die schrillen Töne der Populisten in vielen EU-Ländern derart vergiftet ist, dass vielen Bürgern ein confirmation bias a la „What’s the matter with Kansas?“ die Möglichkeit einer offenen Debatte verschließt. Wer nicht sowieso schon meiner Meinung ist, gehört zur „Lügenpresse“ oder ist elitär. Der Versuch der Rechtspopulisten, die Verunsicherung von Teilen der Bevölkerung gnadenlos auszuschlachten, führt m.E. zu einer postdemokratischen medialen Öffentlichkeit. Der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ hat zwar nicht ausgedient, aber was als „gutes Argument“ gelten kann, hat sich doch stark verändert.
LöschenDie jüngsten Krisen haben das Problem noch verschärft, da hier die EU entweder als nicht handlungsfähig (Flüchtlingskrise) oder als unsolidarisch (Finanzkrise) wahrgenommen wurde und unnötige Frontstellungen aufgemacht wurden (Nord gegen Süd in der Finanzkrise, West gegen Ost in der Flüchtlingskrise). Ich pers. traue der medialen Öffentlichkeit mom. nicht zu, das Ruder herumzureißen. Vielmehr denke ich, dass man die EU als Solidargemeinschaft stärken müsste, so dass für die EU-Bürger konkret erfahrbar wird – besonders für die vermeintlich Abgehängten –, wie und wo sie von der EU profitieren. Dazu machst du ja auch einige Vorschläge. Erst wenn dem von sozialem Abstieg bedrohten Engländer der Midlands klar wird, dass die EU greifbar etwas für ihn tut, wird sich sein Blick auch auf die demokratischen Strukturen richten. Die Medien folgen dann quasi von selbst ;)
@Wulf Loh
LöschenInteressanter Zeit-Artikel. Mit meinem Plädoyer für unterschiedliche Integrationsstufen in Europa gehen meine Gedanken in eine ähnliche Richtung.
http://www.mister-ede.de/politik/plaedoyer-ef/5147
Ich denke, wir dürfen vor allem nicht den Glauben daran verlieren, dass die europäische Integration gelingen kann. Solange sich die Welt nicht grundlegend ändert, ist sie nämlich alternativlos. Tauchen Probleme auf, müssen wir Lösungen suchen – und weiter geht’s.
Bei der Wahl des Europaparlamentes hat nicht jede Stimme eines EU-Bürgers das gleiche Gewicht. Ist es dann nicht gut, wenn CETA auch noch u.a. durch den Bundestag ratifiziert wird? Man könnte ja auch mal überlegen, ob das insgesamt künftig für Großvorhaben in der EU eine Idee ist.
AntwortenLöschenZunächst einmal: Die Relevanz der degressiven Proportionalität bei der Europawahl wird in der deutschen Öffentlichkeit stark überschätzt. Es ist zwar richtig, dass es dadurch auch zu Verzerrungen zwischen Stimm- und Sitzanteil der Fraktionen kommt. Diese Verzerrungen sind aber nicht größer als diejenigen, die in vielen nationalen Parlamenten der EU durch das dort jeweils gültige Wahlrecht verursacht werden (einschließlich dem alten deutschen Bundestagswahlrecht).
LöschenAlle "Großvorhaben der EU" (was genau sollte man darunter verstehen?) auch noch durch alle nationalen Parlamente ratifizieren zu lassen, wäre das Ende des Supranationalismus und würde die EU de facto lahmlegen. Die Folge wäre eine Rückkehr zur Herrschaft der Diplomaten - und sicher kein Gewinn für die Demokratie in Europa.
Aber war das alte deutsche Bundestagswahlrecht nicht gerade wegen diesen Verzerrungen grundgesetzwidrig und wurde es nicht deshalb vom Bundesverfassungsgericht am 3. Juli 2008 kassiert?
LöschenWäre dann ja anscheinend doch irgendwie relevant. Vielleicht können wir die Diskussion ja etwas tiefer führen. Ich werde morgen einfach mal bei PXP eine Debatte dazu starten.
Nein, das alte Bundestagswahlrecht war nicht wegen der Verzerrungen grundgesetzwidrig, sondern wegen des negativen Stimmgewichts, das in bestimmten Konstellationen auftreten konnte. Aber das hat mit dem Thema des Artikels hier nicht mehr so besonders viel zu tun.
LöschenDurch das negative Stimmgewicht konnten Parteien durch mehr Stimmen weniger Sitze bekommen – eine ziemliche Stimmenungleichheit, würde ich sagen. Das neue Bundestagswahlgesetzt sieht hingegen sogar eine bis auf die Sperrklausel absolute Stimmengleichheit vor.
LöschenInsofern ist der Bundestag aus meiner Sicht schon etwas anderes als das Europaparlament, das nach 28 verschiedenen Wahlgesetzen mit Stimmen gewählt wird, die einen unterschiedlichen Wert haben. Und solange das so ist, ist es vielleicht gar nicht schlecht, wenn die nationalen Parlamente entscheiden, ob z.B. die geplante CETA-Paralleljustiz eingeführt wird.
Hier habe ich eine Diskussion auf Publixphere angelegt: https://publixphere.net/d/2450
Wenn ich den Beitrag hier mit den Darlegungen von Wilfried Pürsten (http://norberthaering.de/de/27-german/news/641-ceta-poker#weiterlesen) vergleiche, scheint es mir, dass der Förderalist entscheidende Fakten gar nicht nennt, wenn ganz selbsverständlich davon ausgegangen wird, dass die Kommission zum Charakter von Ceta tatsächlich ein "Vorschlagsrecht" hätte.
LöschenPürsten schreibt hingegen:
"Dieses gilt aber nur, sofern die Kommission als Akteur im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren auftritt. Eine Übertragung auf das Verfahren der Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge ist ausgeschlossen. Dieses Verfahren ist in Art. 218 AEUV umfassend und insoweit abschließend geregelt (Streinz, Europarecht, 10. Aufl. 2016, Rdn. 395 und 1241 ff.). Bei Verhandlungen zu völkerrechtlichen Verträgen führt danach der Ministerrat die Regie:
1. Es ist der Ministerrat, der die Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen ermächtigt (Art. 218 Abs. 2 AEUV). Der Ministerrat benennt den Verhandlungsführer (Abs. 3) und erteilt diesem dazu Richtlinien;...
[...]
3. Eine Bindung an den Vorschlag der Kommission zum Rechtscharakter des abgeschlossenen Vertrages besteht nicht. Diese Beurteilung steht grundsätzlich dem Organ (hier: dem Ministerrat) zu, das über die Zustimmung zum Vertrag eigenverantwortlich – wie auch sonst? - zu entscheiden hat. An den hier kolportierten Vorschlag der Kommission ist der Rat umso weniger gebunden, als dieser dem hier erteilten Mandat widerspricht. Das Mandat für CETA lautete ausdrücklich auf den Abschluss eines gemischten Abkommens (s. Vermerk des Rates zur Mandatserweiterung vom 14. 7. 11, Anlage II).
[...]
Das Szenario einer EU-only-Entscheidung mit einem irgendwie gearteten Bestimmungsrecht der Kommission zum Rechtscharakter von CETA ist mit der EU-Verfassung nicht vereinbar."
Wen dem so ist, versuchte Juncker mit seinem Ceta=EU-only rotzfrech die EU-Verfahrensregeln umzukehren/zu umgehen. Er maßt sich Entscheidungsbefugnisse an, welche die Kommission gar nicht besitzt. Typisch Technokrat Juncker, wie Pürsten zitiert:
"Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ (Der Spiegel 27. Dezember 1999)
Eben, 'Weil die meisten gar nicht begreifen', was an Junckers Vorpreschen grundsätzlich faul ist, wie man an den verfehlten Medien- und sonstigen Reaktionen erkennen kann. Er stuft nicht nur Ceta falsch ein, sondern er hat überhaupt keine Zuständigkeit für eine solche Einstufung.
Wenn Pürsten mit seiner Analyse richtig liegt, wären auch die hier auf Förderalist gezogenen Schlüsse bzgl. EuGH usw. nicht zutreffend.
@Valtental: Na ja, was heißt "rotzfrech"? Wilfried Pürsten hat seine Rechtsauffassung, die Kommission hat eine andere - das ist erst einmal völlig legitim. Nach dem geleakten Protokoll der Ratsdiskussion über dieses Thema gab es dazu offenbar auch eine Kontroverse zwischen dem Legal Service des Rates und der Kommission, wobei Italien der Auffassung des Legal Service widersprochen hat. Unter anderem geht es dabei auch um die Frage, ob der Rat ein Abkommen, das dem Inhalt nach "EU-only" ist (auch das ist umstritten, aber wenigstens die Kommission geht davon jedenfalls aus), einfach per Verhandlungsmandat zum "gemischten Abkommen" erklären kann. Auch das würde ja die im Vertrag vorgesehenen Verfahren aushebeln.
LöschenAlles in allem lässt sich festhalten, dass die Rechtslage offenbar strittig ist. Und genau deshalb wäre der Weg zum EuGH richtig gewesen, um Klarheit und Rechtssicherheit zu schaffen.
Im Übrigen hätten ja auch der Rat oder jeder Mitgliedstaat, der mit der Vorgehensweise der Kommission nicht einverstanden war, den EuGH anrufen können. Und wenn ich den letzten Absatz bei Pürsten richtig verstehe, schlägt auch er genau das vor.
"Wilfried Pürsten hat seine Rechtsauffassung, die Kommission hat eine andere [...] Alles in allem lässt sich festhalten, dass die Rechtslage offenbar strittig ist." Nach Pürstens Darlegung der entsprechenden Vertragstexte scheint sie doch eher ziemlich klar zu sein. Zumal die Kommission, wenn sie denn tatsächlich die richtige Rechtsauffassung vertrat, auf ihrem Standpunkt hätte beharren können, was aber nicht geschah. Gerade die im letzten Absatz Ihres Artikels genannten Gründe wären ein MUSS für die Kommission gewesen, den EuGH anzurufen:
Löschen"Auch im Fall CETA hätte der Weg zum EuGH die Lösung sein können, um die aufgeheizte politische Debatte über die Beteiligung der nationalen Parlamente zu beruhigen. Stattdessen handelte die Kommission offen opportunistisch – und riskiert damit nicht nur ein Scheitern des Abkommens, sondern vor allem auch einen langfristigen Imageverlust der europäischen Institutionen."
Dass die Komm. dieses hohe Risiko nun doch eingeht, könnte man als Eingeständnis werten, dass Junker sehr wohl rotzfrech zu bluffen versuchte. Inwiefern dieses Verhalten nun "opportunistisch" sein soll, erschließt sich nicht. Eher hat die Komm. wohl die rechtlichen Realitäten (s. Pürsten) zur Kenntnis genommen.
Worin nun der "Imageverlust der europäischen Institutionen" bei einem Scheitern von Ceta bestehen soll, leuchtet auch nicht ein. Die zahlreichen Ceta-Gegner werden es eher positiv sehen, dass ein solches Abkommen in den Institutionen gestoppt werden kann.
"Ganz egal, wie kritisch man den Vertrag mit Kanada sehen mag: Wem die europäische Demokratie am Herzen liegt, der kann sich nicht über diese Entscheidung freuen." Ganz im Gegenteil: die Komm. akzeptiert die Rechts- und Sachlage (gemischtes Abkommen), was man nur begrüßen kann.