EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht)
könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf
europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur
selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen,
und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln
antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und
Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Michael Kaeding und Niko Switek. (Zum Anfang der Serie.)
- „Obwohl die Forschung zu europäischen Parteien Fahrt aufgenommen hat, bleibt sie ein untererforschtes Feld mit reichlich Rohdiamanten.“
Die meisten Wissenschaftler sind sich einig, dass
politische Parteien eine notwendige Bedingung für moderne
Demokratien sind. Sich mit Fragen der transnationalen
Demokratisierung der Europäischen Union zu beschäftigen bedeutet
deshalb auch, die politischen Parteien auf europäischer Ebene in den
Blick zu nehmen. Schon in ihren Kinderschuhen als transnationale
Parteienbündnisse wurden sie als mögliche Katalysatoren für mehr
europäische Demokratie und eine tiefere Integration gesehen. Ihre
Entwicklung war allerdings langsam, und in der wissenschaftlichen
Forschung blieben sie ein Nischenthema (Ladrech, 1999, Gaffney,
1999). Doch seitdem echte transnationale europäische Parteien in
jüngerer Zeit in einen „Zustand des Werdens“ (Day, 2014)
eingetreten sind, wenden sich auch Forscher verstärkt diesen recht
eigenartigen „Parteienparteien“ zu.
Im Licht der Sonderserie dieses Blogs über die
europäischen Parteien werfen wir einen Blick auf den Stand der
wissenschaftlichen Forschung dazu. Wir identifizieren vier zentrale
Bereiche des akademischen Interesses: Die organisatorische
Entwicklung der europäischen Parteien, ihre interne Organisation,
ihr Einfluss auf die EU-Politikgestaltung und ihre Rolle beim
transnationalen Aufbau von Parteien in neuen Demokratien. Obwohl die
Forschung zu europäischen Parteien auffällig Fahrt aufgenommen hat,
bleibt sie ein untererforschtes Feld mit reichlich Rohdiamanten.
Organisatorische Entwicklung
Die
institutionellen Reformen der EU haben auch die organisatorische
Entwicklung er europäischen Parteien in den letzten Jahrzehnten
stark geprägt (Johansson, 2005). Die Einführung von Artikel 138A in
den Maastricht-Vertrag erkannte erstmals explizit die Rolle von
„politischen Parteien auf europäischer Ebene“ an. Doch nur die
Einfügung von Artikel 191 in den EG-Vertrag und seine Überarbeitung
in Nizza ermöglichten ein europäisches Parteienstatut mitsamt
Regeln zu deren Finanzierung (Lightfood, 2006).
Danach
entwickelten besonders zwei transnationale Gruppen, die Europäische
Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE)
genuin europäische Parteistrukturen, eine Entwicklung, die Bardi als
„Parteiensystem der zwei Geschwindigkeiten [mit] einem zunehmend
institutionalisierten Kern und einer wechselhaften und instabilen
Peripherie“ beschreibt (1996: 99). Einige Autoren sahen die
EU-Osterweiterung ab 2004 als eine größere Herausforderung für die
Parteien und erwarteten eine Verwässerung ihrer weltanschaulichen
Kohärenz aufgrund struktureller Unterschiede zwischen westlichen und
östlichen Parteien. Im Gegensatz dazu sieht Bressanelli eine
stärkere Organisation und eine Zunahme der Kohärenz: „Alles in
allem haben die europäischen Parteien ein klares Potenzial, eine
repräsentative Rolle im politischen System der EU zu spielen, wie es
der Vertrag von Lissabon vorsieht“ (Bressanelli, 2014: 163).
Im Jahr 2016 gibt
es nun 15
anerkannte europäische Parteien,
von denen jedoch nur vier größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit
auf sich gezogen haben: die EVP (Hanley, 2004; Johansson, 2016), die
SPE (Ladrech, 1993; Moschonas, 2004; Külahci und Lightfood, 2014),
die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE:
Sandström, 2004; Smith, 2014) und die Europäische Grüne Partei
(EGP: Van de Walle, 2004; Huan, 2009).
Interne Organisation
Die europäischen
Parteien bestehen im Wesentlichen aus nationalen Parteien. Ihre
interne Organisation hängt vor allem von ihren nationalen
Mitgliedsparteien und deren jeweiliger interner ideologischer
Kohäsion ab. Auch wenn die europäischen Parteien die größeren
politischen Ideologien widerspiegeln und etablierte Parteifamilien
abbilden, umfassen sie ein breites Spektrum nationaler Parteien mit
jeweils spezifischen Programmen. Die Mitgliedschaft einiger größerer
Parteien, wie der Labour Party in der SPE, Forza Italia oder Fidesz
in der EVP oder der schwedischen Grünen in der EGP, kann zu internen
Spannungen führen, die den „Identitätskompromiss“ zerbrechen
lassen (Delwit et al., 2004) und dadurch die Möglichkeit zerstören,
eine gemeinsame Linie zu finden und politischen Einfluss auszuüben.
Im Fall der ALDE
(Sandström, 2004) führen unterschiedliche Auffassungen von
Liberalismus systematisch zu schwierigen Beziehungen zwischen
nationalen Mitgliedsparteien in Bezug auf die Links-Rechts-Dimension,
was den ideologischen Zusammenhalt gefährdet. Im Fall der EGP
wiederum haben vor allem Uneinigkeiten in Bezug auf die europäische
Integration lange Zeit die Entwicklung gehindert (Van de Walle,
2004).
Angesichts
dieser starken internen ideologischen Heterogenität untersuchen
Klüver und Rodon (2013), wie europäische Parteien dennoch zu
gemeinsamen Politikpositionen kommen. Um die Positionsbildung
innerhalb der europäischen Parteien zu erklären, argumentieren sie,
dass nationale Parteien miteinander in dem Versuch konkurrieren, um
ihre eigenen Politikpositionen auf ihre europäische Partei zu
übertragen. Klüver und Rodon schließen, dass ihre Fähigkeit, bei
diesen Versuchen Erfolg zu haben, von ihren legislativen Ressourcen
abhängt, d.h. von ihrem Sitzanteil im Europäischen Parlament.
Was die
Organisationsstruktur betrifft, teilen alle europäischen Parteien
mehr oder weniger die gleichen internen Organe: ein Kongress, Räte,
ein Generalsekretariat. Diese Art von organisatorischem Mimikry ist
das Ergebnis von Entwicklungen im europäischen institutionellen
Kontext. Dasselbe gilt für die Prozesse der Politikformulierung,
d.h. für die Formulierung von Wahlprogrammen (Sigalas et al., 2010).
Doch auch wenn man identische Organisationsmerkmale in den
verschiedenen europäischen Parteien findet, unterscheidet sich ihr
Einfluss auf die Politikgestaltung der EU beträchtlich.
Einfluss auf
die EU-Politikgestaltung
Wie
einflussreich die europäischen Parteien in Bezug auf die
EU-Politikgestaltung sind, ist stark umstritten. Während Johansson
postuliert, dass sie inzwischen zu „relevanteren Akteuren“
geworden sind (2005: 515), sehen Külahci und Lightfood nur einen
„schwachen Einfluss“ (2014: 71), was an ihrer Unfähigkeit liegt,
sich geschlossen zu positionieren und zu handeln (Külahci 2010:
1283).
Van
Hecke (2010) stimmt dem zu, hebt aber den Unterschied zwischen
europäischen und nationalen Parteien hervor, der zu einem anderen
Verständnis davon führen muss, was Einfluss bedeutet. Europäische
Parteien haben schließlich nicht die Macht, eine Regierung zu
wählen, und die nationale Parteipolitik bestimmt nach wie vor die
Europawahlen. Europäische Parteien spielen aber eine Rolle, indem
sie parteipolitische Verbindungen zwischen den verschiedenen
EU-Institutionen anbieten und zur wachsenden Politisierung der EU
beitragen. Eine interessante Entwicklung sind in dieser Hinsicht die
europäischen politischen Stiftungen, die nach dem Vorbild der
deutschen parteinahen Stiftungen geformt sind und sich als Thinktanks
zur Unterstützung ihrer jeweiligen Partnerpartei positionieren
(Gagatek und Van Hecke, 2014).
In
der Konsequenz ist jeder Einfluss europäischer Parteien auf die
Politikgestaltung der EU eng mit ihrem Verhältnis zu den
europäischen Institutionen verbunden (Delwit et al., 2044: 8-11). In
dieser Hinsicht ist die Beziehung von EVP, SPE und ALDE mit dem
Europäischen Rat und der Europäischen Kommission einer der
wichtigsten Faktoren, angesichts ihres politischen Gewichts in den
nationalen Regierungen. Vor Tagungen des Europäischen Rats halten
EVP, SPE und ALDE Treffen von Regierungschefs ihrer jeweiligen Partei
ab (Hix,
1995; Hanley, 2004; Moschonas, 2004),
bei denen die einflussreichsten Mitglieder derselben politischen
Familie zusammenkommen.
Die
Europäischen Grünen wiederum bevorzugen Beziehungen zum Ministerrat
und zum Europäischen Parlament. Die schwache Rolle der übrigen
europäischen Parteien erklärt sich daraus, dass sie im Europäischen
Rat, im Ministerrat und in der Europäischen Kommission kaum
vertreten sind. Insgesamt sehen wir, dass vor allem die folgenden
Faktoren den Einfluss der europäischen Parteien auf die
Politikgestaltung der EU bedingen: ihre zahlenmäßige Größe, das
Ausmaß ihrer Geschlossenheit und ihr nationaler politischer Kontext
(Lefkofridi
and Katsanidou, 2014; Johansson, 2016).
Eine
grundlegende Änderung der Europawahl 2014 waren die
Spitzenkandidaten, die mit Unterstützung der europäischen Parteien
um das Amt des Kommissionschefs konkurrierten (auf Grundlage von Art.
17 Abs. 7 EUV).
Wenn diese Innovation auch 2019 erhalten bleibt (was wesentlich davon
abhängt, wie
die Arbeit Junckers wahrgenommen wird),
bleibt die Verbindung zwischen der Wahl und der Ernennung des
Kommissionspräsidenten erhalten. Dies wird auf jeden Fall die Rolle
der europäischen Parteien stärken, da diese für die Auswahl und
Nominierung der Kandidaten verantwortlich sind. Zugleich werden die
Wahlkampagnen dadurch stärker parteipolitisch geprägt sein, da die
europäischen Parteien sich auf die tatsächliche Relevant ihrer
Spitzenkandidaten stützen können.
Parteienaufbau
in neuen Demokratien
Das
letzte und oft übersehene Forschungsfeld betrifft die Tätigkeiten
der europäischen Parteien, die teilweise die Grenzen der
Europäischen Union überschreiten. Das Engagement der europäischen
Parteien bei der Förderung der Parteientwicklung im
postkommunistischen Europa wurde als ihre „bisher beeindruckendste
Errungenschaft“ bezeichnet (Pridham, 2014: 30).
So
untersuchen mehrere Länderstudien die Beitritt nationaler Parteien
zu europäischen Parteien. Für Bulgarien stellt Spirova (2008) eine
direkte Auswirkung auf die nationale Parteientwicklung fest. Timuş
untersucht die ukrainischen nationalen Parteien und zeigt, dass die
EVP „aufgrund der geringen Anreize, des niedrigen Ausmaßes an
Klarheit über die Voraussetzungen einer Mitgliedschaft sowie
kontextspezifischer Faktoren einen direkten, aber schwachen Einfluss
auf die ukrainischen Mitgliedschaftskandidaten“ hatte (2014: 51).
In einer ausführlichen systematischen Vergleichsstudie zeigt von dem
Berge (2015) überzeugend die Mechanismen, durch die EVP und SPE
erfolgreich die politischen Programme und die Organisationsstrukturen
ihrer Partnerparteien in Ungarn, Rumänien und der Slowakei prägten.
Auch
wenn alle offiziellen EU-Erweiterungsinitiativen wenigstens für die
aktuelle Wahlperiode suspendiert sind, erlaubt die unabhängige Rolle
der europäischen Parteien ihnen, dennoch Verbindungen zu den
Parteien und Parteisystemen der Beitrittskandidaten- und
Nachbarstaaten aufzunehmen. Damit legen sie zum einen die Grundlage
für eine mögliche künftige Annäherung und fördern zum anderen
die Parteiendemokratie in diesen Ländern.
Ausblick
Bei
der Europawahl 2014 stolperten die europäischen Parteien weitgehend
in das neue Spitzenkandidaten-Verfahren hinein. Da nun bekannt ist,
dass der Kandidat der größten Partei eine ernsthafte Chance hat,
die Kommissionspräsidentschaft zu erringen, können wird erwarten,
dass die Parteien ihre Regeln zur Auswahl ihres Spitzenkandidaten für
die nächste Wahl überdenken und neu formulieren. Zugleich wird
diese Position dadurch attraktiver für prominente und erfahrene
Politiker.
Während
es im Vorfeld der Wahl 2014 kaum Koordinierung zwischen den
Kandidaten und der Formulierung des Wahlprogramms gab (Switek, 2015),
werden diese Verfahren bei künftigen Wahlen deutlich enger
miteinander verknüpft sein – unter anderem weil die Kandidaten
selbst daran interessiert sind, ein kohärentes und überzeugendes
Programm für ihre Wahlkampagne zu haben. Die europaweiten
Fernsehdebatten werden mit Sicherheit weitaus mehr Aufmerksamkeit auf
sich ziehen (Dinter und Weissenbach, 2015). Insgesamt wird dies zu
einem Schub in Richtung von mehr innerparteilicher Demokratie führen.
Dies
allein könnte die Rolle der europäischen Parteien im europäischen
institutionellen Rahmen sowie ihre Position gegenüber ihren
Mitgliedsparteien verändern. Diese Entwicklung geht aber auch Hand
in Hand mit einem erhöhten äußeren Druck auf die EU. Der Bailout
für Griechenland hat die Eurokrise gestoppt, aber nicht die
unterschiedlichen Sichtweisen auf Fragen der Austerität und
Haushaltsdisziplin aufgelöst. Hinzu kommt eine historische
Herausforderung in der noch immer andauernden Flüchtlingskrise, die
die europäische Solidarität stark unter Druck setzt und sogar
bislang sakrosankte Prinzipien wie die Freizügigkeit europäischer
Bürger in Frage stellt.
Dies
bietet eine Menge Material für intensive Debatten und für die lang
erhoffte Polarisierung und Politisierung der europäischen Politik
(Bressanelli, 2013). Die europäischen Parteien könnten genau das
richtige Mittel sein, um diese Diskussionen zu kanalisieren und
miteinander um unterschiedliche Politikoptionen zu konkurrieren, die
für die künftige Entwicklung der EU entscheidend sein könnten.
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The
Europarties – Organisation and Influence.
Brüssel: Editions de l’Université de Bruxelles, 185-202.
Michael Kaeding ist Professor für Europäische
Integration und Europapolitik am Institut für Politikwissenschaft der
Universität Duisburg-Essen und Inhaber eines Jean-Monnet-Lehrstuhls „ad
personam“.
| |
Niko Switek ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der
Universität Duisburg-Essen (Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt „Politisches
System der Bundesrepublik Deutschland und moderne Staatstheorien“).
|
Die Zukunft der europäischen Parteien
1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat
1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat
Bilder: By Unknown USGS employee [Public domain], via Wikimedia Commons; privat; privat.
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