D(e)F:
Wenn Sie eines an der Funktionsweise der Europäischen Union ändern
könnten, was wäre es?
Gesine
Schwan: Ich würde verlangen, dass während des Europäischen
Semesters neben dem Europäischen Rat auch das
Europäische Parlament über die zukünftige Wirtschaftspolitik
mitentscheiden kann. Derzeit arbeitet die Europäische Kommission
die länderspezifischen Empfehlungen immer auf Grundlage einer
Entscheidung des Europäischen Rates aus, bevor sie an die nationalen
Parlamente gehen. Ich wäre dafür, dass in diesem Verfahren gleich
am Anfang des Jahres auch das Europäische Parlament eine
Stellungnahme abgibt, die der Europäische Rat einbeziehen muss.
Außerdem
wäre ich dafür, dass sich das Europäische Parlament mit Vertretern
der nationalen Parlamente zusammensetzt, wenn es sein Votum über das
Europäische Semester abgibt. Auf diese Weise gäbe es eine
Rückkopplung zwischen der europäischen und den nationalen
Öffentlichkeiten. An die Stelle der Idee eines europäischen
Zweikammersystems mit dem Europäischen Parlament als erster und dem
Ministerrat als zweiter Kammer – die ich für falsch halte –
träte so die Kombination aus Europäischem Parlament und nationalen
Parlamenten.
Mehr Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten
D(e)F: Nun
werden die länderspezifischen Empfehlungen, die am Ende des
Europäischen Semesters stehen, bis jetzt von den Mitgliedstaaten oft
gar nicht umgesetzt. Müsste man ihnen nicht
außerdem noch mehr Biss verleihen, damit sie überhaupt eine Wirkung
entfalten?
Schwan: Im
Moment gibt es die Idee einer europäischen Wirtschaftsregierung und
eines europäischen Finanz- oder Wirtschaftsministers. Das würde
aber heißen, dass eine gemeinsame Politik von oben durchgedrückt
würde. Daran glaube ich nicht, denn dann halten sich die Länder
einfach nicht daran. Man kann ihnen ja (wenn sie nicht gerade hoch
verschuldet sind) nicht einfach ihre souveräne Hoheit über die
Wirtschaftspolitik nehmen.
Deshalb
bin ich eher dafür, durch eine bessere Zusammenarbeit zwischen dem
Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten eine breite
Basis für die Koordination der Wirtschaftspolitiken zu schaffen. So
könnte man auch erreichen, dass die länderspezifischen Empfehlungen
nicht alle stromlinienförmig neoliberal sind – schließlich
müssten sich die nationalen Parlamente darauf nicht einlassen. Durch
diese Freiwilligkeit wäre auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass
die Empfehlungen tatsächlich befolgt werden.
Politik
nicht durch rechtliche Automatismen ersetzen
Natürlich
betrifft das nicht nur das Europäische Semester. Spätestens seit
der Finanzkrise dominiert nicht nur in der Europäischen Union der
Europäische Rat, sondern auch innerhalb des Europäischen Rats die
deutsche Bundesregierung. Politische Entscheidungen werden deshalb
nicht wirklich ausgehandelt; den unterschiedlichen Positionen – zum
Beispiel in der Frage „Sparpolitik oder Investitionspolitik?“ –
wird nicht genügend Rechnung getragen. Diese Positionen ließen sich
pragmatisch kombinieren. Stattdessen hat die deutsche Regierung aber
in den letzten Jahren immer wieder nur versucht, ihre eigene Linie
durchzusetzen.
Zudem
droht Deutschland immer wieder mit juristischen Sanktionen und
versucht, Politik durch rechtliche Automatismen zu ersetzen. Ich
denke, dass das ein völlig falscher Weg ist. Stattdessen müsste man
viel mehr miteinander über Alternativen diskutieren und auf diesem
Weg zu einer gemeinsamen Linie gelangen. Europa wird nur vorankommen
mit mehr Zusammenarbeit, mehr Freiwilligkeit, mehr positiven
Anreizen.
Aushandlung
und Konsensfindung brauchen mehr Raum
D(e)F: Offenbar
setzen Sie stark auf Kommunikation und Konsenssuche. Zu einem
demokratischen, pluralistischen System gehört aber ja auch das Recht
auf Dissens. Angenommen, in einem EU-Mitgliedstaat würde ein
Parlament gewählt, dessen Mehrheit grundsätzlich andere
wirtschaftspolitische Vorstellungen hat als der Rest, und es gelingt
deshalb nicht, zu einem Konsens zu kommen – wie würde man damit
umgehen?
Schwan: Ich
habe einen Großteil meiner wissenschaftlichen Arbeit, vor allem vor
1989, der Wahrung des Pluralismus gewidmet und bin beim Recht auf
Dissens völlig Ihrer Meinung. In den letzten Jahrzehnten habe ich
allerdings mehr und mehr den Eindruck, dass die Idee der
Mehrheitsregel auch nicht immer funktioniert. Pluralität und
Opposition müssen erhalten bleiben, aber auch Aushandlung und
Konsensfindung brauchen sehr viel mehr Raum. Wir müssen mehr nach
Win-Win-Situationen suchen, was sachlich oft auch möglich wäre.
In
der direkten Konfrontationssituation müsste es allerdings möglich
sein, dass sich ein einzelnes Land gegebenenfalls ausklinkt – nicht
aus der EU, aber aus bestimmten Entscheidungen. Wenn beispielsweise
bestimmte Defizitgrenzen bei der Staatsverschuldung durchgesetzt
werden sollen, aber das Parlament eines Landes sagt: „Nein, das
können wir nicht, das werden wir nicht mitmachen“, dann wird
dieses Land einfach abweichen. Was die Verschuldungsquote angeht,
kommt das ja auch jetzt schon vor.
Ein
Lernprozess
D(e)F: Das
Prinzip, dass man miteinander spricht, aber niemanden zu etwas
zwingen möchte, hatte man auch früher schon. Da etwa Deutschland
dabei vor allem auf Exportüberschüsse, andere Länder dagegen auf
mehr Binnenkonsum setzten, hat das zu enormen Ungleichgewichten
geführt und zur Eurokrise beigetragen. Wenn man nun auf
Freiwilligkeit baut und den Ländern die Möglichkeit lässt, von
der gemeinsamen Linie abzuweichen, wäre dann nicht das Risiko groß,
wieder genau da zu enden?
Schwan: Mein
Lehrer Richard
Löwenthal hat immer gesagt: „Demokratie ist das
System, in dem man am meisten lernen kann und lernen muss.“ Vor der
Krise sind diese Ungleichgewichte vielleicht einigen Theoretikern
präsent gewesen, aber nicht der allgemeinen Politik. Zunächst haben
davon ja auch alle profitiert, einschließlich Deutschland. In den
Jahren seit 2008 ist die Europäische Union dagegen immer mehr in
Bedrängnis gekommen, weil die dominante Macht Deutschland nicht
solidarisch gehandelt hat. Stattdessen hat sie einer bestimmten
Wirtschaftsphilosophie folgend versucht, politische Entscheidungen
nach Möglichkeit durch rechtliche Regeln zu ersetzen, und so getan,
als wäre das objektiv notwendig und nicht eine politische Option
unter anderen.
Wir
sind heute weiter als während der Krise
In
den letzten Jahren haben wir aber auch erlebt, dass in Europa ein
Lernprozess stattgefunden hat: Was während der Krise in Deutschland
über Griechenland verbreitet wurde, ging ja auf keine Kuhhaut. Im
Fernsehen kamen da immer wieder nur die deutschen Korrespondenten zu
Wort, nie ein griechischer Minister. Und welcher Blödsinn wurde da
von allen nachgeplappert! Inzwischen sind wir viel weiter und sehen
sehr viel genauer hin; inzwischen hat in der Bundesregierung auch die
SPD eine andere Meinung als das CDU-geführte Finanzministerium. Es
wissen jetzt viel mehr Deutsche, wie hoch die Rentenkürzungen in
Griechenland schon waren oder wie stark das Bruttoinlandsprodukt dort
zurückgegangen ist. Dieses wechselseitige Kennenlernen ist das, was
allmählich eine europäische Öffentlichkeit schafft.
Wir
brauchen deshalb vor allem eine Änderung in Stil und Kommunikation.
Das sind weiche Aspekte, aber ich denke, dass darin die einzige
Chance liegt, die Europäische Union zusammenzuhalten. Nur dadurch
können dann auch wieder gemeinsame Interessen erkannt werden und
Vertrauen entstehen.
Aus
der Flüchtlingskrise eine Wachstumschance machen
D(e)F: Und
Sie hoffen darauf, dass mit mehr Vertrauen beispielsweise auch
Deutschland bereit wäre, freiwillig solidarisch zu sein?
Schwan: Sicher.
Nehmen wir einen konkreten Fall in der jetzigen Flüchtlingssituation.
Der italienische Premierminister Matteo Renzi hat vorgeschlagen,
gemeinsame
EU-Anleihen auszugeben, um die Aufnahme von Flüchtlingen zu
finanzieren. Innerhalb Italiens gibt es bereits einen
Fonds, für den sich Gemeinden bewerben können, die Flüchtlinge
aufnehmen. Auch die Europaabgeordnete Maria João Rodrigues hat für
die EU schon einmal einen ähnlichen Vorschlag gemacht. Der Gedanke
dahinter ist, aus der Flüchtlingskrise eine Wachstumschance zu
machen. Ich halte das für eine sehr gute Idee, weil sich dadurch das
Humanitäre mit dem Ökonomischen verbinden lässt.
Frau
Merkel hingegen hat das sofort abgelehnt, sie will keine europäischen
Anleihen. Letztlich macht sie dadurch – auch wenn sie das nicht
ehrlich zugibt – ihre ganze Flüchtlingspolitik davon abhängig,
dass die Balkanroute geschlossen bleibt, denn sonst kämen die
Flüchtlinge schnell wieder in Deutschland an. Der Versuch, eine
europaweite Umverteilung der Flüchtlinge durch Druck auf die anderen
Mitgliedstaaten zu erreichen, ist gescheitert. Stattdessen betreibt
man nun eine Aussperrpolitik, durch die aber die europäischen Werte
vor die Hunde gehen.
An
dieser Stelle würde Solidarität für die deutsche Bundesregierung
nur bedeuten, dass sie offen sagt: „Ja, wir wollen, dass die
anderen Staaten uns in der Flüchtlingskrise unterstützen, und
deshalb sind wir auch interessiert daran, dass es dort wieder
Wirtschaftswachstum gibt.“ Ich glaube, dass Renzi, aber auch die
Griechen, Portugiesen und Spanier dazu bereit wären. Der einzige
Weg, Europa zusammenzuhalten, sind solche Verhandlungslösungen.
Die EU nicht in Analogie zum Nationalstaat denken
D(e)F: Offensichtlich
sind bei der Wirtschafts- und der Flüchtlingspolitik alle
Mitgliedstaaten sehr stark voneinander abhängig. Müsste nach der Idee
des Subsidiaritätsprinzips dann nicht eigentlich in
diesen Fragen die Kompetenz auf der supranationalen Ebene liegen? Sie
hatten am Anfang das Europäische Parlament erwähnt, allerdings nur
in einer Art Broker-Funktion zwischen den nationalen Parlamenten.
Wenn aber die nationalen Parlamente ohnehin keine Entscheidungen mehr
treffen können, ohne alle anderen mit zu beeinflussen, sollte man
dann nicht direkt auf die gesamteuropäische Demokratie setzen?
Schwan: Ich
denke nicht, dass das die Schlussfolgerung sein muss. Natürlich ist
es sehr schwer, die Europäische Union als Gemeinwesen anders als in
Analogie zum Nationalstaat zu denken, aber ich glaube, man muss das
versuchen. In Straßburg oder Brüssel allein könnten nicht die
Besonderheiten aller Länder erkannt werden, einfach weil dafür zu
viele Informationen verarbeitet werden müssten. Außerdem würde
dadurch eine völlige Entfremdung zwischen der europäischen
Gesetzgebung und den Mitgliedstaaten entstehen. Ich halte deshalb die
Idee, einen europäischen Zentralstaat zu errichten, für abwegig.
Das
Europäische Parlament sollte aber nach meiner Vorstellung auch nicht
einfach nur ein Broker, sondern ein Ort sein, an dem sich Vertreter
der Mitgliedstaaten treffen, um zu erfahren, was eigentlich in
anderen Ländern los ist. Ich denke, dass man gerade jetzt in Europa
nicht darauf verzichten kann, geduldig aufeinander zuzugehen, um sich
zuzuhören und zu lernen, welche Probleme es anderswo gibt.
Transnationale
Verfahren, um transnationale Probleme zu lösen
D(e)F: Trotzdem
bleibt es so, dass die nationalen Parlamente jeweils nur ihrer
nationalen Wählerschaft verantwortlich sind. Schafft das nicht einen
strukturellen Anreiz, grenzüberschreitende Solidarität zu
verweigern?
Schwan: Sie
sprechen da ein ganz zentrales Problem nicht nur der Europäischen
Union, sondern der Globalisierung allgemein an. Bisher sind die
nationalen Wahlen die Nadelöhre, durch die in Demokratien alle
politische Macht konstituiert wird. Das ist einer der wichtigsten
Gründe dafür, dass die globalen Herausforderungen nicht genug
angegangen werden. Man muss also nach transnationalen Akteuren, Orten
und Verfahren suchen, um die transnationalen Probleme zu lösen.
Aber
blicken wir noch einmal auf den konkreten Fall eines möglichen
europäischen Fonds für die Aufnahme von Flüchtlingen. Mit einem
solchen Fonds könnten wir den europäischen Gemeinden Unterstützung
anbieten, wenn sie Flüchtlinge aufnehmen wollen, so wie es Renzi
schon jetzt in Italien macht. Dadurch würden nicht die
Nationalstaaten entmachtet, aber es würden andere Akteure gestärkt
– und zwar, wenn sich die Gemeinden auf diese Weise dann auch noch
vernetzen, transnational.
Eine
Bottom-up-Lösung in der Flüchtlingspolitik
D(e)F: Und
wenn nun eine Regierung wie die von Ungarn oder Polen sich einfach
weigert, Flüchtlinge aufzunehmen?
Schwan: Dann
bewerben sie sich nicht, und dann bekommen die Gemeinden auch kein
Geld aus dem Fonds. Ich kenne aber zum Beispiel in Polen eine sehr
dynamische Gemeinde, Słupsk, die wahrscheinlich
sofort bereit wäre, Flüchtlinge aufzunehmen und sich auf so einen
Fonds zu bewerben. Nun stellt sich die Frage, ob aus
rechtlicher Sicht die Nationalstaaten das Einwanderungskontingent
bestimmen müssen – das müsste geklärt werden, auch im Licht der
schon beschlossenen, aber nicht umgesetzten europaweiten Umverteilung
von 160.000 Flüchtlingen.
Vor allem aber: Wenn es einen Konflikt gibt zwischen der nationalen
Regierung und der Gemeinde, dann wird wenigstens deutlich, dass es in
einem Land unterschiedliche Positionen gibt. Und wenn sich gleich
vier, fünf polnische Gemeinden öffentlichkeitswirksam bei einem
europäischen Flüchtlingsfonds bewerben würden, könnte das auch
eine politische Dynamik auslösen. Und es würde unseren Eindruck von
den Ländern pluralisieren, die ja nicht so homogen sind, wie es von
außen wirkt.
Es
geht mir nicht darum, den Nationalstaat zu zerstören oder in Frage
zu stellen, aber doch darum, eine sinnvolle Bottom-up-Lösung zu
erreichen. Immer nur über die Nationalstaaten zu gehen, ist gerade
in der Flüchtlingspolitik nicht erfolgversprechend, weil viele
nationale Politiker den Aufstieg rechtsradikaler Parteien fürchten.
Aber auch eine Marine Le Pen wird schwer etwas dagegen sagen können,
wenn französische Gemeinden von sich aus erklären, dass sie
Flüchtlinge aufnehmen wollen – weil es vor Ort weniger Vorbehalte
gibt und weil die Gemeinden auch ein positives Interesse daran haben,
mit den Flüchtlingen etwas Neues zu schaffen.
Gesine Schwan
ist Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform sowie Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. Zuvor war sie unter anderem von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder sowie von 2005 bis 2009 Koordinatorin der deutschen Bundesregierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit. 2004 und 2009 kandidierte sie für das Amt der deutschen Bundespräsidentin.
Dieses Interview wurde am 9. Mai 2016 geführt.
Bild: By Olaf Kosinsky/Skillshare.eu [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons
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