EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht)
könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf
europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur
selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen,
und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln
antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und
Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Julie Cantalou. (Zum Anfang der Serie.)
- „Der erste Schritt, um von bloßen Cocktailpartys zu echten politischen Parteien zu werden, ist eine Mitgliederbasis aufzubauen.“
In einem Kontext der Politikverdrossenheit und der
allgemeinen Kritik am europäischen Projekt über die Zukunft
gesamteuropäischer Parteien zu sprechen, mag als ein müßiges
Unterfangen gesehen werden. Doch Not macht bekanntlich erfinderisch.
Warum also nicht die Zukunft der europäischen Parteien und damit
auch der Europäischen Union diskutieren? Vielleicht werden die
wirtschaftliche, politische und soziale Krise notwendige Änderungen
sowohl des Systems als auch seiner Akteure auslösen. Vielleicht auch
nicht. Ich überlasse diese Frage der Geschichte; aber darum geht es
hier nicht.
Cocktail-Party oder Partei?
Die gesamteuropäischen Parteien haben in der
Entwicklung der Europäischen Union bis jetzt keine signifikante
Rolle gespielt. Die Mitgliedstaaten, und damit die nationalen
Regierungen und Parteien, haben die aufeinander folgenden Änderungen
an Verträgen und Institutionen eingeleitet, ausgehandelt und
verabschiedet, einschließlich der Schaffung der gesamteuropäische
Parteien. Um es ganz unverblümt zu sagen: Europäische Parteien
ähneln eher einer Cocktail-Party als einer politischen Partei. Sie
treten nicht zu Wahlen an, sie entwickeln nur selten
Politikvorschläge und sie sind nicht mitgliederbasiert. Vor allem im
Fall der großen politischen Familien wie den Christdemokraten und
Sozialdemokraten dienen sie eher als Treffpunkt für
Spitzenpolitiker, um Medienaufmerksamkeit auf sich zu ziehen und
Deals auszuhandeln.
Die kleineren politischen Familien sind bis zu
einem gewissen Grad über die Organisation von Cocktailpartys
hinausgegangen, um gemeinsame Positionen und Wahlmanifeste zu
entwickeln. Aber bis heute hat keine der gesamteuropäischen Parteien
mit der wachsenden Rolle und Einfluss der Fraktionen im Europäischen
Parlament Schritt gehalten. Der hauptsächliche Druck für
Veränderung in der Funktionsweise und den Institutionen der EU kam
vom Europäischen Parlament, das seine eigene Rolle zur Geltung
brachte. Zum größten Teil hat das Parlament die Rolle übernommen,
die traditionell von politischen Parteien ausgeübt wurde: Politik zu
betreiben und die Wünsche der Menschen in Politikvorschläge
umzusetzen. Auf EU-Ebene sind die Fraktionschefs oft besser bekannt
und mit ihren Meinungen zu den Herausforderungen und Lösungen für
das europäische Projekt präsenter als die Vorsitzenden ihrer
entsprechenden Parteien. Das kommt in der nationalen Politik nur
selten vor.
Was war zuerst da: die Henne oder das Ei?
Woran liegt es, dass die europäischen Parteien
nicht auf die gleiche Weise arbeiten wie nationale Parteien und auch
nicht die gleiche Rolle dabei spielen, die Meinungen der Bürger in
Politikvorschläge umzusetzen? Um es ganz einfach zu sagen: Ich nehme
an, dass sie weder den Raum noch die Anreize haben, das zu tun. Der
wichtigste Mechanismus, den politische Parteien benutzen, um
Politikvorschläge zu entwickeln, zu testen und zu verwirklichen, ist
die Teilnahme an Wahlen. Ohne Wahlen gibt es keine echte
Parteipolitik.
Politische Parteien auf europäischer Ebene wären
ein wichtiger Schritt, um eine europäische „Polity“ zu
errichten. Europäische Parteien könnten, wenn es gesamteuropäische
Wahlen gäbe, ein großartiger Weg sein, um die Bürger zu animieren,
eine echte europäische Debatte über Politikoptionen zu schaffen und
Menschen zu mobilisieren, sich in die Politik auf EU-Ebene
einzumischen. Gesamteuropäische Parteien zu stärken wäre auch von
großem Vorteil, um der Macht der Mitgliedstaaten etwas
entgegenzusetzen, um die Transparenz der Europapolitik zu erhöhen
und letztlich von der bloßen Politikverwaltung zu einer wirklichen
Debatte über Ideen zu gelangen.
Oder ist es doch andersherum? Sollten wir zuerst
„echte“ gesamteuropäische Parteien aufbauen und erst dann mit
ihnen zu gesamteuropäischen Wahlen antreten? Oder sollten wir erst
die Institutionen und Verfahren ändern, um den europäischen
Parteien einen politischen Handlungsraum zu geben? Ich denke, die
Antwort ist: Beides zugleich. Wir müssen uns weiterhin für
gesamteuropäische Wahlen einsetzen, für wenigstens einen Teil der
Mitglieder des Europäischen Parlaments, während wir zugleich am
Aufbau echter gesamteuropäischer Parteien arbeiten. Und wie sollten
diese Parteien aussehen?
Alle Macht dem Volke
Sie mögen sich fragen, warum ich überhaupt einen
Artikel über die Zukunft der europäischen Parteien schreibe, wenn
mein Bild von ihnen so düster ist. Nun, das Schöne daran, etwas
neues zu errichten, ist die Chance, von anderer Menschen Fehler zu
lernen. Im derzeitigen Klima politischer Apathie, Verdrossenheit und
vor allem wachsender (und oft berechtigter) Kritik an politischen
Parteien in vielen Teilen der EU ist es nicht einfach, eine
Parteistruktur aufzubauen. Jeder, der mit Parteipolitik zu tun hat,
sollte sich selbst fragen: Wie kann ich eine Partei schaffen, die
nicht in diese Falle tappt?
Der erste Schritt, um die europäischen Parteien
von bloßen Cocktailpartys zu „echten“ politischen Parteien
werden zu lassen, ist eine Mitgliederbasis aufzubauen. Die Allianz
der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE-Partei) war die erste
gesamteuropäische Partei, die diesen Schritt getan hat und 2011
einen Status für Individualmitglieder
eingeführt hat. Seitdem sind fast 2000 Menschen von Portugal bis
Estland Direktmitglieder der ALDE-Partei geworden. Über vierzig
Koordinatoren mobilisieren auf dem ganzen Kontinent unsere Ideen,
Initiativen und Expertise unter Führung eines Leitungskomitees
(Steering Committee), dem ich seit 2014 vorsitze.
Die ALDE ist auf dem Weg zu einer wirklich
gesamteuropäischen Partei noch einen Schritt weiter gegangen, als
sie auf dem Parteikongress
im letzten November den
Delegierten der Individualmitglieder das Stimmrecht gab. Die
Einrichtung und Stärkung der Individualmitgliedschaft ist ein
neuartiger Weg für Bürger, sich direkt an der europäischen Politik
zu beteiligen, indem wir gemeinsame Politiken entwickeln und unsere
Vertreter ernennen.
In der Politik der Postmoderne ändern sich die
Rolle, die Funktionsweise und die Form politischer Parteien. Jüngere
Generationen suchen Parteien, die eher Graswurzelbewegungen ähneln
und sich für einzelne Anliegen und Themen einsetzen statt für
Ideologien. Viele enttäuschte Bürger wünschen sich, dass die
Parteien transparenter wären, demokratischer und auf jeden Fall
weniger hierarchisch. Lasst und nicht diese Fehler wiederholen,
sondern Parteien schaffen, die den Erwartungen der Bürger
entsprechen. Das ist nicht nur notwendig, um Mitglieder und Wähler
zu gewinnen, es ist auch gut und richtig.
Julie Cantalou ist Vorsitzende des Leitungskomitees (Steering Committee) der Individualmitglieder der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE).
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Die Zukunft der europäischen Parteien
1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat
1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat
Übersetzung aus dem Englischen: Manuel Müller
Sehr lesenswerter Artikel. Ich denke, daß die geringe Bedeutung Europäischer Parteien im politischen Alltag und im politischen Bewußtsein vieler Wähler auch daher rührt, daß die nationalen Parteien ganz gern und gut mit diesem Umstand leben wollen und können.
AntwortenLöschenStichwort Europawahlen: Zumindest für Deutschland habe ich den Eindruck, daß die Europawahlen im Wahlkampf durch die konkurrierenden Parteien selbst den Anstrich bekommen, sie seien eine "Schutzwahl" gegen Europa und nicht eine Wahl um die beste Vision für Europa. Es wird hauptsächlich mit nationalen Argumenten geworben und dem Ziel sich gegen den Rest Europas zur "Wahrung der deutschen Interessen" durchsetzen zu wollen. Mir konnte zwar noch keiner so richtig erklären worin der Unterschied in den Interessen eines Brandenburger Familienvaters zu denen eines Bretonischen Familienvaters liegen soll. Aber genau dieses diffuse "National-Interesse" an dessen Vorhanden sein als eigenes Bedürfnis viele tatsächlich zu glauben scheinen, trägt zur beklagten Situation bei.
Ein erster, kleiner Schritt, um einem Bewußtsein für die Europäischen Parteien wenigstens den Weg ebnen zu können, wäre vielleicht, den nationalen Parteibezeichnungen in den jeweiligen Ländern die entsprechende Europaparteibezeichnung hinzuzufügen, in jedem Falle aber auf dem Wahlzettel, egal um welche Wahl auf welcher Ebene es sich handelt.
Auch das Thema der Individualmitgliedschaft halte ich für wichtig.
Ich selbst, ein Freund des Europas der Regionen, habe für meine Ansichten in meiner Region keine parteipolitische Entsprechung. Auf europäischer Ebene wäre die EFA (EUROPEAN FREE ALLIANCE) meine politische Heimat. Leider läßt diese keine ordentliche Individualmitgliedschaft zu. Individualmitgliedschaften könnten aber helfen, das Bewußtsein für europäische Parteien zu schärfen. So werbe ich in meinem Umfeld zwar für die Ideen der EFA, allerdings können diese sich im Erfolgsfalle nicht weiter entwickeln, da mangels Mitgliedspartei in unserer Region ein symbolisch bindendes Element, wie so eine Individualmitgliedschaft nicht möglich ist. Ein gebündeltes Vorkommen von Individualmitgliedschaften in einer Region könnte im Falle der EFA helfen, "weiße Flecken" auf der europäischen Parteienlandkarte zu minimieren, da die vereinende Wirkung einer Individualmitgliedschaft durchaus auch zu Neugründungen ordentlicher Mitgliedsparteien führen könnte.
Bei anderen Parteien kännten Individualmitgliedschaft ähnlich wirken oder auch dazu führen, daß bestehende nationale Parteien Zulauf bekämen. Dieser Zulauf allerdings - und das halte ich für sehr vorteilhaft - mit einem ausgesprochen europäischen Hintergrund sich in die Meinungsbildung der Partei einbringt, wenn man es denn zulassen möchte.