EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht)
könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf
europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur
selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen,
und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln
antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und
Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Joseph Daul. (Zum Anfang der Serie.)
Jeden Tag wird Europa mit neuen, globalen Herausforderungen konfrontiert. Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die aktuellen Flüchtlingsströme, der Klimawandel, aber auch die fragile Sicherheitslage und Terrorbedrohung sind Themen, mit denen die europäischen Bürger alltäglich konfrontiert werden. Diese Veränderungen beeinflussen unsere Art zu leben. Europa muss eine gemeinsame Strategie finden, um auf diese Herausforderungen entsprechend reagieren zu können. Der Schutz und die Sicherheit unserer Bürger ist unsere oberste Priorität. Globale Probleme können wir mit einer gemeinsamen europaweiten Vision lösen – genau darin liegt der wachsende Stellenwert der europäischen Parteien in der heutigen Zeit.
Europäische
Parteien vermitteln zwischen nationalen Interessen
Die
letzten Monate haben gezeigt, dass eine wirkliche europäische
Debatte zu den entscheidenden europäischen Themen notwendig ist. Die
zahlreichen EU-Krisengipfel sind dazu da, um die Position aller
Mitgliedstaaten zu beleuchten und die bestmöglichen Lösungsansätze
zu finden. Die europäischen Parteien sind entscheidend bei der
Koordination dieser verschiedenen Positionen, die wiederum aus
unterschiedlichen nationalen Interessen entstehen. Diese
supranationalen Parteien haben das europäische Gemeinwohl im Blick
und nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der nationalen
Interessen. Deshalb sind die politischen Parteien zunehmend wichtig
im gesamten Prozess der Konsensfindung auf europäischer Ebene.
Dieser
Entscheidungsfindungsprozess innerhalb der europäischen
Institutionen spiegelt die zwei wichtigsten Richtlinien der
Europäischen Union wider: Demokratie und Integration. Diese zwei
Elemente haben dazu geführt, dass die europäischen Parteien im
Maastrichter Vertrag verankert wurden – das bildete die Grundlage
für den Rechtsrahmen, der im Jahre 2004 gesetzt wurde. Obwohl das
politische Gewicht sowie die rechtliche Bedeutung der europäischen
Parteien seit ihrer Entstehung zunehmend gewachsen sind, müssen sie
sich aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung in Europa nach jeder
Europawahl neu rechtfertigen und ihr Dasein begründen.
Europa
ein Gesicht geben
Die
Veränderungen, die durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon
bei der letzten Europawahl zum ersten Mal zur Anwendung kamen, haben
die europäische Demokratie und die europäischen Wähler gestärkt.
Im Vergleich zu vorangegangenen Europawahlen hat es 2014 erstmalig
eine wirklich europäische Debatte im Wahlkampf gegeben. Die Wähler
haben eine entscheidende Rolle gespielt bei der Auswahl des
Präsidenten der Europäischen Kommission. Der mit qualifizierter
Mehrheit vom Europäischen Rat vorgeschlagene
Präsidentschaftskandidat muss mit absoluter Mehrheit von den
Mitgliedern des Europäischen Parlaments bestätigt werden. Dieser
Kandidat soll nämlich das Ergebnis der Parlamentswahlen
widerspiegeln.
Die
Europäische Volkspartei hatte – im Gegensatz zu den europäischen
Sozialdemokraten – auf europäischer Ebene bei ihrem Parteikongress
in Dublin im Wahljahr 2014 einen Kandidatenwettbewerb durchgeführt.
Der sogenannte „Spitzenkandidatenprozess“ stellt ein stärkendes
Element in der EU-Wahlkampagne dar; er verleiht ihr aufgrund der
diversen Präsidentschaftskandidaten ein wahrhaft europäisches
Momentum. Damit hat man Europa „ein Gesicht“ gegeben; damit hat
man die Europäische Union den Bürgerinnen und Bürgern
nähergebracht.
Wahlrechtsreform
Wollen
die europäischen Parteien bei den kommenden Parlamentswahlen ihre
Vertrauensposition weiter stärken und Gewinne für die Demokratie
sichern, so müssen sie die Bürger noch stärker in diesen Prozess
einbeziehen. Auch die Medien werden bei den Wahlen 2019 noch stärker
als 2014 erkennen, dass tatsächlich einer der Spitzenkandidaten der
europäischen Parteien auch Kommissionspräsident werden wird. Das
wird die Sichtbarkeit der gemeinsamen europäischen Botschaft
verstärken und damit zumindest kleine Schritte in Richtung einer
europäischen Öffentlichkeit gemacht.
Auch
die
neue Wahlrechtsreform kann einen Beitrag zur „Europäisierung“
der Europawahlen leisten. Der im
November 2015 gefasste Beschluss des Europäischen Parlaments
sieht die Spitzenkandidaten gleichzeitig als Kandidaten für die Wahl
ins Europäische Parlament vor. Falls auch der Rat dieser Linie
folgt, so würden sie die gemeinsamen, EU-weiten Wahllisten leiten.
Des Weiteren würden die Neuerungen der Wahlrechtsreform das
Wahlrecht im Ausland stärken, da damit eine elektronische und postalische
Stimmabgabe in allen EU-Mitgliedsländern ermöglicht würde.
Moderne
politische Parteien
Weder
die nationalen noch die europäischen Parteien haben es geschafft,
das Dilemma der niedrigen Wahlbeteiligung zu lösen. Mit den
Erklärungsansätzen hierfür werden sich die einzelnen Parteien bei
der Organisation der nächsten EU-Wahlkampagne in 2019
auseinandersetzen.
Die
Neigungen zur Parteimitgliedschaft sind heutzutage tendenziell
sinkend, weshalb die
feste
Mitgliedschaft zunehmend durch andere Formen der Mitwirkung und
Meinungsbildung ersetzt werden wird. Unsere Gesellschaft wird
zunehmend von Individualismus geprägt, was mit Hilfe des
technologischen und medialen Fortschritts weiter verstärkt wird. In
diesem Kontext sollte noch erwähnt werden, dass jeder Einzelne
sich für kürzere Zeiträume für verschiedene Dinge interessiert
und mobilisiert. Dies wiederum trägt dazu bei, dass die Wählerinnen
und Wähler auch außerhalb des Rahmens einer politischen Partei das
Gefühl haben, gesellschaftlich und politisch engagiert zu sein.
Moderne
politische Parteien sollen die Bürgerinnen und Bürger in Anbetracht
der Fülle von Informationen leiten und ihnen einen
verantwortungsvollen Weg weisen. Dafür müssen die Parteien selbst
mit den Entwicklungen im Bereich der digitalen Demokratie sowie der
Kommunikationsinstrumente mithalten können. Die Europäische
Volkspartei pflegt einen aktiven Kontakt sowie Dialog mit ihren
Mitgliedsparteien, Vereinigungen und Zivilgesellschaft. Darüber
hinaus ermöglicht die EVP den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern
einen einfachen und transparenten Zugang zu allen wichtigen
Informationen auf supranationaler Ebene.
Neue
Kommunikationsstrategien
Eine
moderne sowie transparente Kommunikationsstrategie der europäischen
politischen Parteien wird zukünftig unumgänglich sein. Darauf hat
der Wahlkampf 2014 einen Vorgeschmack gegeben. Nur so können
europäische politische Debatten stärker in den Vordergrund rücken
und für die Bürgerinnen und Bürger in allen 28 Mitgliedsländern
erkenntlich gemacht werden. Und nur so können wir diesen Mangel, der
aus der niedrigen Wahlbeteiligung resultiert, beheben.
Die
mediale Präsenz der Wahl des Europäischen Parlaments und die
Berichterstattung darüber
sind mit dem Umfang der Wahlkampagnen für nationale Wahlen nicht
vergleichbar. Künftige Aufgaben der europäischen Parteien – mit
Hilfe ihrer Mitgliedsparteien – werden ein Bemühen um eine
regelmäßige Präsenz der europäischen Parteien in den nationalen
Medien und ein mögliches Einbringen in gesellschaftlich relevante
Fragestellungen sein. Solches Engagement ist grundlegend für eine
anhaltende Mobilisierung der Wählerschaft und für die Schaffung
einer kohärenten europaweiten Verbundenheit.
Die
nationalen Parteien sollten deutlicher auf den transnationalen
Charakter der politischen Entscheidungen hinweisen und ihre Politiker
sollten vermeiden, die Schuld für eigene Niederlagen der
europäischen Ebene anzulasten oder europäische Erfolge als
nationale Errungenschaften darzustellen. Die europäischen Parteien
werden künftig mit konkreten Stellungnahmen und ausdifferenzierten
Parteiprogrammen arbeiten müssen, um die Wählerschaft von ihrer
Weltanschauung und ihren Lösungsansätzen zu überzeugen.
Eine
stärkere Debattenkultur zu europäischen Themen
Nicht
zuletzt werden die europäischen Parteien auch mit einem
Vertrauensverlust in die nationalen Parteien konfrontiert, was sich
bei den letzten Europawahlen maßgeblich im großen Zugewinn der
sogenannten Anti-System-Parteien manifestierte und die vermehrte
Präsenz populistischer
anti-europäischer
Parteien im Europäischen Parlament zur Folge hatte. Wie auf
europäischer Ebene sind die euroskeptischen Parteien auch bei
nationalen sowie regionalen Wahlen zunehmend erfolgreich. Dadurch ist
das gesamte europäische Projekt ernsthaft gefährdet. Nicht nur die
Unterstützung für die weitere europäische Integration ist in
vielen Mitgliedstaaten gesunken, sondern auch die positive
Wahrnehmung der EU als Projekt.
In
Zeiten, in denen mehr Kooperation zur Stärkung der inneren und
äußeren Sicherheit Europas benötigt wird, um die Grundwerte der
Europäischen Union und unseres Zusammenlebens zu schützen, brauchen
wir eine stärkere Debattenkultur auf europäischer Ebene. Die
europäischen politischen Parteien können einen Beitrag zur
Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit leisten sowie die
Demokratie und Transparenz stärken.
Die Zukunft der europäischen Parteien
1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat
1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat
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