03 März 2016

Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls

EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht) könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen, und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Joseph Daul. (Zum Anfang der Serie.)

Eine moderne Kommunikationsstrategie der europäischen Parteien wird künftig unumgänglich.
Jeden Tag wird Europa mit neuen, globalen Herausforderungen konfrontiert. Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die aktuellen Flüchtlingsströme, der Klimawandel, aber auch die fragile Sicherheitslage und Terrorbedrohung sind Themen, mit denen die europäischen Bürger alltäglich konfrontiert werden. Diese Veränderungen beeinflussen unsere Art zu leben. Europa muss eine gemeinsame Strategie finden, um auf diese Herausforderungen entsprechend reagieren zu können. Der Schutz und die Sicherheit unserer Bürger ist unsere oberste Priorität. Globale Probleme können wir mit einer gemeinsamen europaweiten Vision lösen – genau darin liegt der wachsende Stellenwert der europäischen Parteien in der heutigen Zeit.

Europäische Parteien vermitteln zwischen nationalen Interessen

Die letzten Monate haben gezeigt, dass eine wirkliche europäische Debatte zu den entscheidenden europäischen Themen notwendig ist. Die zahlreichen EU-Krisengipfel sind dazu da, um die Position aller Mitgliedstaaten zu beleuchten und die bestmöglichen Lösungsansätze zu finden. Die europäischen Parteien sind entscheidend bei der Koordination dieser verschiedenen Positionen, die wiederum aus unterschiedlichen nationalen Interessen entstehen. Diese supranationalen Parteien haben das europäische Gemeinwohl im Blick und nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der nationalen Interessen. Deshalb sind die politischen Parteien zunehmend wichtig im gesamten Prozess der Konsensfindung auf europäischer Ebene.

Dieser Entscheidungsfindungsprozess innerhalb der europäischen Institutionen spiegelt die zwei wichtigsten Richtlinien der Europäischen Union wider: Demokratie und Integration. Diese zwei Elemente haben dazu geführt, dass die europäischen Parteien im Maastrichter Vertrag verankert wurden – das bildete die Grundlage für den Rechtsrahmen, der im Jahre 2004 gesetzt wurde. Obwohl das politische Gewicht sowie die rechtliche Bedeutung der europäischen Parteien seit ihrer Entstehung zunehmend gewachsen sind, müssen sie sich aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung in Europa nach jeder Europawahl neu rechtfertigen und ihr Dasein begründen.

Europa ein Gesicht geben

Die Veränderungen, die durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bei der letzten Europawahl zum ersten Mal zur Anwendung kamen, haben die europäische Demokratie und die europäischen Wähler gestärkt. Im Vergleich zu vorangegangenen Europawahlen hat es 2014 erstmalig eine wirklich europäische Debatte im Wahlkampf gegeben. Die Wähler haben eine entscheidende Rolle gespielt bei der Auswahl des Präsidenten der Europäischen Kommission. Der mit qualifizierter Mehrheit vom Europäischen Rat vorgeschlagene Präsidentschaftskandidat muss mit absoluter Mehrheit von den Mitgliedern des Europäischen Parlaments bestätigt werden. Dieser Kandidat soll nämlich das Ergebnis der Parlamentswahlen widerspiegeln.

Die Europäische Volkspartei hatte – im Gegensatz zu den europäischen Sozialdemokraten – auf europäischer Ebene bei ihrem Parteikongress in Dublin im Wahljahr 2014 einen Kandidatenwettbewerb durchgeführt. Der sogenannte „Spitzenkandidatenprozess“ stellt ein stärkendes Element in der EU-Wahlkampagne dar; er verleiht ihr aufgrund der diversen Präsidentschaftskandidaten ein wahrhaft europäisches Momentum. Damit hat man Europa „ein Gesicht“ gegeben; damit hat man die Europäische Union den Bürgerinnen und Bürgern nähergebracht.

Wahlrechtsreform

Wollen die europäischen Parteien bei den kommenden Parlamentswahlen ihre Vertrauensposition weiter stärken und Gewinne für die Demokratie sichern, so müssen sie die Bürger noch stärker in diesen Prozess einbeziehen. Auch die Medien werden bei den Wahlen 2019 noch stärker als 2014 erkennen, dass tatsächlich einer der Spitzenkandidaten der europäischen Parteien auch Kommissionspräsident werden wird. Das wird die Sichtbarkeit der gemeinsamen europäischen Botschaft verstärken und damit zumindest kleine Schritte in Richtung einer europäischen Öffentlichkeit gemacht.

Auch die neue Wahlrechtsreform kann einen Beitrag zur „Europäisierung“ der Europawahlen leisten. Der im November 2015 gefasste Beschluss des Europäischen Parlaments sieht die Spitzenkandidaten gleichzeitig als Kandidaten für die Wahl ins Europäische Parlament vor. Falls auch der Rat dieser Linie folgt, so würden sie die gemeinsamen, EU-weiten Wahllisten leiten. Des Weiteren würden die Neuerungen der Wahlrechtsreform das Wahlrecht im Ausland stärken, da damit eine elektronische und postalische Stimmabgabe in allen EU-Mitgliedsländern ermöglicht würde.

Moderne politische Parteien

Weder die nationalen noch die europäischen Parteien haben es geschafft, das Dilemma der niedrigen Wahlbeteiligung zu lösen. Mit den Erklärungsansätzen hierfür werden sich die einzelnen Parteien bei der Organisation der nächsten EU-Wahlkampagne in 2019 auseinandersetzen.

Die Neigungen zur Parteimitgliedschaft sind heutzutage tendenziell sinkend, weshalb die feste Mitgliedschaft zunehmend durch andere Formen der Mitwirkung und Meinungsbildung ersetzt werden wird. Unsere Gesellschaft wird zunehmend von Individualismus geprägt, was mit Hilfe des technologischen und medialen Fortschritts weiter verstärkt wird. In diesem Kontext sollte noch erwähnt werden, dass jeder Einzelne sich für kürzere Zeiträume für verschiedene Dinge interessiert und mobilisiert. Dies wiederum trägt dazu bei, dass die Wählerinnen und Wähler auch außerhalb des Rahmens einer politischen Partei das Gefühl haben, gesellschaftlich und politisch engagiert zu sein.

Moderne politische Parteien sollen die Bürgerinnen und Bürger in Anbetracht der Fülle von Informationen leiten und ihnen einen verantwortungsvollen Weg weisen. Dafür müssen die Parteien selbst mit den Entwicklungen im Bereich der digitalen Demokratie sowie der Kommunikationsinstrumente mithalten können. Die Europäische Volkspartei pflegt einen aktiven Kontakt sowie Dialog mit ihren Mitgliedsparteien, Vereinigungen und Zivilgesellschaft. Darüber hinaus ermöglicht die EVP den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern einen einfachen und transparenten Zugang zu allen wichtigen Informationen auf supranationaler Ebene.

Neue Kommunikationsstrategien

Eine moderne sowie transparente Kommunikationsstrategie der europäischen politischen Parteien wird zukünftig unumgänglich sein. Darauf hat der Wahlkampf 2014 einen Vorgeschmack gegeben. Nur so können europäische politische Debatten stärker in den Vordergrund rücken und für die Bürgerinnen und Bürger in allen 28 Mitgliedsländern erkenntlich gemacht werden. Und nur so können wir diesen Mangel, der aus der niedrigen Wahlbeteiligung resultiert, beheben.

Die mediale Präsenz der Wahl des Europäischen Parlaments und die Berichterstattung darüber sind mit dem Umfang der Wahlkampagnen für nationale Wahlen nicht vergleichbar. Künftige Aufgaben der europäischen Parteien – mit Hilfe ihrer Mitgliedsparteien – werden ein Bemühen um eine regelmäßige Präsenz der europäischen Parteien in den nationalen Medien und ein mögliches Einbringen in gesellschaftlich relevante Fragestellungen sein. Solches Engagement ist grundlegend für eine anhaltende Mobilisierung der Wählerschaft und für die Schaffung einer kohärenten europaweiten Verbundenheit.

Die nationalen Parteien sollten deutlicher auf den transnationalen Charakter der politischen Entscheidungen hinweisen und ihre Politiker sollten vermeiden, die Schuld für eigene Niederlagen der europäischen Ebene anzulasten oder europäische Erfolge als nationale Errungenschaften darzustellen. Die europäischen Parteien werden künftig mit konkreten Stellungnahmen und ausdifferenzierten Parteiprogrammen arbeiten müssen, um die Wählerschaft von ihrer Weltanschauung und ihren Lösungsansätzen zu überzeugen.

Eine stärkere Debattenkultur zu europäischen Themen

Nicht zuletzt werden die europäischen Parteien auch mit einem Vertrauensverlust in die nationalen Parteien konfrontiert, was sich bei den letzten Europawahlen maßgeblich im großen Zugewinn der sogenannten Anti-System-Parteien manifestierte und die vermehrte Präsenz populistischer anti-europäischer Parteien im Europäischen Parlament zur Folge hatte. Wie auf europäischer Ebene sind die euroskeptischen Parteien auch bei nationalen sowie regionalen Wahlen zunehmend erfolgreich. Dadurch ist das gesamte europäische Projekt ernsthaft gefährdet. Nicht nur die Unterstützung für die weitere europäische Integration ist in vielen Mitgliedstaaten gesunken, sondern auch die positive Wahrnehmung der EU als Projekt.

In Zeiten, in denen mehr Kooperation zur Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit Europas benötigt wird, um die Grundwerte der Europäischen Union und unseres Zusammenlebens zu schützen, brauchen wir eine stärkere Debattenkultur auf europäischer Ebene. Die europäischen politischen Parteien können einen Beitrag zur Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit leisten sowie die Demokratie und Transparenz stärken.
Joseph Daul ist Vorsitzender der Europäischen Volkspartei.

Die Zukunft der europäischen Parteien

1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum NetzwerkReinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN]Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN]Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat

Bilder: European People's Party [CC BY 2.0], via Flickr; European People's Party.

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