EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht)
könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf
europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur
selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen,
und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln
antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und
Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Isabelle Hertner. (Zum Anfang der Serie.)
- „Die europäischen Parteien haben einen weiten Weg zurückgelegt. Aber erfüllen sie schon die Rolle, die der Vertrag für sie vorsieht?“
Dieser
Mangel an Wissen über die europäischen Parteien mag überraschend
erscheinen. Immerhin gibt es sie schon seit einer ganzen Weile. Als
lose Bündnisse nationaler Parteien (und unter etwas anderen Namen)
wurden die EVP, die SPE und die Liberalen (Allianz der Liberalen und
Demokraten für Europa, ALDE) schon in den 1970er Jahren gegründet,
vor der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979.
Nicht
erst seit gestern
Seitdem
haben sich die Anführer der europäischen Parteien für einen
offizielleren Status eingesetzt, einschließlich rechtlicher
Anerkennung und größerer Ressourcen. Dank dieser Bemühungen wurden
die europäischen Parteien im Vertrag von Maastricht 1992 erstmals
explizit erwähnt. Der sogenannte „Parteienartikel“ 138a EGV, der
einem ähnlichen Artikel im deutschen Grundgesetz folgte, legte fest:
Politische Parteien auf europäischer Ebene sind wichtig als Faktor der Integration in der Union. Sie tragen dazu bei, ein europäisches Bewusstsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen.
Als
eine Folge dieser rechtlichen Anerkennung gründeten die europäischen
Parteienbündnisse sich Anfang der 1990er Jahre neu und begannen,
sich selbst als Parteien zu bezeichnen. Doch in den Augen der
europäischen Parteien war der Bezug im EU-Vertrag nicht genug. Die
Parteieliten haben seitdem erfolgreich auf mehr Regulierung, stärkere
Rechte und bessere Ressourcen gedrängt.
Geld
und Personal
Vor
allem erhalten die europäischen Parteien aufgrund einer
EU-Verordnung seit Juli 2004 ein
jährliches Budget vom Europäischen Parlament.
Diese Zahlungen können sich auf bis zu 85 Prozent ihrer Ausgaben
belaufen, während der Rest durch ihre eigenen Ressourcen, etwa
Mitgliedsbeiträge der nationalen Parteien oder Spenden, abgedeckt
werden muss. Wie viel Geld eine europäische Partei bekommt, hängt
davon ab, wie viele Sitze sie bei der letzten Europawahl gewonnen
hat. Beispielsweise hat die Europäische Volkspartei, die derzeit die
größte Anzahl an Sitzen einnimmt, 2015 über
acht Millionen Euro vom Europäischen Parlament erhalten.
Die
europäischen Parteien können diese Finanzhilfe für verschiedene
Arten von Ausgaben nutzen: Sitzungen und Konferenzen,
Veröffentlichungen und Werbung, Verwaltungs-, Personal- und
Reisekosten sowie Kosten für den Europawahlkampf. Als Ergebnis der
Verordnung von 2004 haben sich die europäischen Parteien stark
institutionalisiert. Sie kamen in die Lage, ihre Hauptquartiere in
Brüssel mit festen Mitarbeitern auszustatten. Mehr noch, seit 2007
haben sie zudem parteinahe
politische Stiftungen (Thinktanks) gegründet, die Veranstaltungen
organisieren und Politikberichte veröffentlichen.
Die
europäischen Parteien haben seit den frühen 1990er Jahren also
einen weiten Weg zurückgelegt. Aber erfüllen sie auch die Rollen
und Funktionen, die der Maastrichter Vertrag für sie vorsieht?
Inwieweit tragen sie tatsächlich „dazu bei, ein europäisches
Bewusstsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der
Union zum Ausdruck zu bringen“? Um diese Frage zu beantworten,
müssen wir einen genaueren Blick auf ihre jüngsten Aktivitäten und
Errungenschaften werfen.
Politische
Inhalte, Ämter und Stimmen?
Nationale
politische Parteien werden oft als Organisationen beschrieben, die
politische Inhalte, Wählerstimmen und Ämter erreichen wollen. In
ihrem Versuch, „echte“ Parteien zu werden, haben die europäischen
Parteien sich dasselbe Ziel gesetzt.
Als
Organisationen, die politische Inhalte verfolgen, veröffentlichen
sie vor jeder Europawahl immer detailliertere und besser durchdachte
Wahlprogramme mit Politikversprechen. Die nationalen
Mitgliedsparteien sind dabei am Schreibprozess beteiligt und müssen
die europäischen Wahlprogramme auch ratifizieren. Außerdem hat die
Sozialdemokratische Partei Europas 2013 ein „Grundsatzprogramm“
veröffentlicht, in dem sie ihre zentralen Werte und ihre
langfristige Vision für die europäische Integration beschreibt.
Spitzenkandidaten
Wichtig
ist aber, dass die europäischen Parteien in den letzten Jahren auch
im Streben nach Ämtern eine Rolle spielen. In der Vergangenheit
wurden Spitzenposten wie die Präsidentschaft der Europäischen
Kommission von den Regierungschefs hinter den verschlossenen Türen
des Europäischen Rates ausgehandelt. Im Juli 2013 jedoch forderten
die europäischen Parteien diese Praxis erstmals heraus.
Eine
Anzahl von Europaabgeordneten nahm eine Resolution
an, die vorschlug, dass die europäischen Parteien ihre
Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten deutlich vor der
Europawahl 2014 ernennen sollten,
sodass diese einen europaweiten Wahlkampf über europäische Themen
führen könnten. Zudem schlugen die Abgeordneten vor, dass der Name
und das Logo der europäischen Parteien auf dem Wahlzettel erscheinen
sollten, um diese für die Wähler sichtbarer zu machen. Der
Kommissionspräsidentschaftskandidat der größten Fraktion im neu
gewählten Parlament sollte dann aus Sicht der Abgeordneten als
Erster für das Amt in Betracht gezogen werden.
Als
Nächstes wählten alle größeren europäischen Parteien ihre
Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft aus. Diese
„Spitzenkandidaten“ führten 2014 einen europaweiten Wahlkampf
und erschienen
zusammen in Fernsehdebatten.
Dies führte dazu, dass EU-Politiker wie der Präsident des
Europäischen Parlaments Martin Schulz und der frühere
Eurogruppen-Vorsitzende Jean-Claude Juncker weitaus sichtbarer wurden
und EU-Themen in der Kampagne eine zentrale Rolle spielten. So
diskutierten die Spitzenkandidaten zum Beispiel über Fragen wie die
Eurokrise, die Zukunft des Euro oder das Transatlantische
Freihandelsabkommen TTIP.
Nach Ämtern streben
Einige
Regierungschefs, wie etwa der britische Premierminister David
Cameron, lehnten das gesamte Konzept der Spitzenkandidaten ab und
bezeichneten den Auswahlprozess als illegitim
und EU-vertragswidrig.
Trotz dieser Vorbehalte wurde Jean-Claude Juncker, der
Spitzenkandidat der EVP, zum Präsidenten der Europäischen
Kommission gewählt.
Das
Beispiel der Europawahl 2014 zeigt also, dass die europäischen
Parteien zunehmend wie klassische, nach Ämtern strebende Parteien
geworden sind. Es zeigt auch, dass die europäischen Parteien
beginnen, durch ihre Beteiligung am Wahlkampf einen Beitrag zur
Entstehung eines „europäischen Bewusstseins“ unter Europas
Bürgern zu leisten.
Doch
trotz der steigenden Bemühungen der europäischen Parteien,
politische Inhalte zu gestalten und Ämter zu gewinnen, sind ihnen
teilweise durch ihre Mitgliedsparteien die Hände gebunden. Dies wird
deutlich, wenn man die dritte Funktion von Parteien betrachtet: das
Streben nach Wählerstimmen.
Nationale
Parteien sitzen weiterhin am Steuer
Obwohl
die Europawahl 2014 den Aufstieg der Spitzenkandidaten und der
dahinterstehenden europäischen Parteien brachte, waren es weiterhin
die nationalen Parteien, die die Kandidaten für das Parlament selbst
auswählten. Mehr noch, die nationalen Parteien organisierten auch
weiterhin ihre eigenen Wahlkampagnen und identifizierten dafür
selbst die Schlüsselthemen.
Wenig
überraschend nutzten die meisten nationalen Parteien im Wahlkampf
ihr eigenes Wahlprogramm, nicht dasjenige der europäischen Partei.
Nationale Parteien sehen es also weiterhin als ihre Aufgabe an, den
„politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen“
und setzen sich der Stärkung der europäischen Parteien vehement
entgegen.
Die
Frage der Individualmitgliedschaft
Dieser
Widerstand wird noch deutlicher, wenn wir die jüngsten Versuche der
europäischen Parteien betrachten, eine Individualmitgliedschaft
einzuführen. Eine „richtige“ Partei zu sein bedeutet für einige
europäische Parteien, auch Individualmitglieder zu haben. Bis vor
kurzem konnten nur nationale Parteien und einige angeschlossene
Organisationen (etwa Frauenverbände) beitreten. Diese Situation hat
sich geändert, und eine Anzahl europäischer Parteien, etwa EVP,
SPE, ALDE und die Europäische Grüne Partei (EGP), erlauben nun auch
Einzelpersonen den Beitritt, obwohl die Bedingungen für diese
Individualmitgliedschaft je nach Partei stark variieren.
Entscheidend
aber ist, dass sich bisher nur die europäischen Liberalen dazu entschieden haben, ihren Individualmitgliedern das Stimmrecht
beim jährlichen Parteikongress zu geben. Dabei muss man bedenken,
dass es sich hier nicht um die gesamte Individualmitgliedschaft
handelt, sondern um eine Handvoll Delegierte. Pro 500
Individualmitglieder wird ein/e Delegierte/r für den Parteikongress
gewählt
Die
anderen europäischen Parteien laden zwar einige Individualmitglieder
zur Teilnahme am Parteikongress und an bestimmten Arbeitsgruppen ein
und räumen ihnen dort auch das Rederecht ein. Sie haben ihnen jedoch
noch immer keine formalen Stimmrechte gegeben.
Um
dies zu ändern, müssten die Satzungen der SPE, EVP und EGP umgeschrieben werden. Die meisten nationalen Parteien aber wollen das verhindern, um weiterhin selbst die Türwächter der Parteipolitik in der Europäischen Union zu bleiben. Die europäischen Parteien mögen also „im Kommen“ sein – ihre Macht aber wird nach wie vor durch ihre nationalen Mitgliedsparteien beschnitten.
Dr.
Isabelle Hertner lehrt Deutsche und Europäische Politik an der
Universität Birmingham. Sie ist außerdem stellvertretende
Direktorin des Institute for German Studies und Direktorin des
Graduate Centre for Europe. Ihr Forschungsschwerpunkt sind
europäische und nationale Parteien. Derzeit schreibt sie an einem
Buch über sozialdemokratische
Parteien und die Europäische Union.
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Die Zukunft der europäischen Parteien
1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat
1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat
Bilder: European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Isabelle Hertner.
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