- Die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydło schickt sich an, ein zweiter Viktor Orbán zu werden. Aber auch die EU hat aus der Causa Ungarn gelernt.
Seitdem
in Polen vor knapp zwei Monaten die neue rechtskonservative Regierung
unter Beata Szydło (PiS/AEKR) ins Amt kam, konnte man fast im
Wochentakt neue
schlechte Nachrichten lesen. Zunächst versuchte sie mit
zweifelhaften Mitteln die Ernennung einiger unliebsamer
Verfassungsrichter zu verhindern. Kurz darauf, als das Gericht
dieses Vorgehen zurückwies, entmachtete sie es kurzerhand, indem sie
es durch
eine Verfahrensreform nahezu entscheidungsunfähig machte. Und
zuletzt zog sie auch noch die
Kontrolle über die öffentlich-rechtlichen Medien an sich und
drängte
kritische Journalisten zum Rücktritt. Es kann kein Zweifel
bestehen: Nach dem Ungarn von Viktor Orbán (Fidesz/EVP) sind die
gemeinsamen Grundwerte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nun
auch in einem zweiten Mitgliedstaat der Europäischen Union in
Gefahr.
Kritik
aus SPE und EVP
Immerhin:
Die Reaktion der EU-Partner ließ nicht allzu lange auf sich warten.
Zunächst waren es vor allem Sozialdemokraten, die die Entwicklungen
in Polen mit harten Worten kritisierten: Parlamentspräsident Martin
Schulz (SPD/SPE) sprach von einem „Staatsstreich-Charakter“;
der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn (LSAP/SPE) sah das
Land auf einem „Kurs,
den auch diktatorische Regime gegangen sind“. Der für
Grundrechte zuständige Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans
(PvdA/SPE) äußerte dann als erster EU-Vertreter in einem Schreiben
an die polnische Regierung auch
förmlich Bedenken.
Zuletzt
war allerdings auch aus der Europäischen Volkspartei Kritik zu
hören. Fraktionschef Manfred Weber (CSU/EVP) etwa bezeichnete die
Politik der polnischen Regierung als „höchst
problematisch“; der Kommissar für Digitale Wirtschaft Günther
Oettinger (CDU/EVP) forderte gar, „Warschau
unter Aufsicht zu stellen“. Diese härtere Gangart der
Christdemokraten ist umso bemerkenswerter, als sie im vergleichbaren Fall Ungarn bis jetzt stets
Viktor Orbán die Stange gehalten haben.
Der
entscheidende Unterschied ist offenbar, dass Orbáns Fidesz selbst
der Europäischen Volkspartei angehört, während die polnische
Regierungspartei PiS auf europäischer Ebene Mitglied der
rechtskonservativen AEKR ist. Szydłos einziger Parteifreund im
Europäischen Rat ist deshalb der britische Regierungschef David
Cameron (Cons./AEKR) – und der hat derzeit jedenfalls andere
Sorgen.
Geschärfter
Blick für die Handlungsoptionen der EU
Der
Druck auf die polnische Regierung wächst also, und es ist gut
möglich, dass sich die EU-Institutionen diesmal tatsächlich für
Gegenmaßnahmen zum Schutz ihrer demokratischen Grundwerte
entscheiden. Dabei könnte auch helfen, dass die Entwicklungen in
Ungarn in den letzten Jahren gezeigt haben, wie schwer es fällt,
eine einmal in Gang gekommene Autoritarismus-Spirale wieder zu
stoppen.
Zudem
hat die Debatte über Ungarn den Blick für die Optionen geschärft,
die die EU im Umgang mit demokratisch problematischen Mitgliedstaaten
hat. Diese Optionen sind begrenzt, aber sie existieren und sind nicht
banal. Hier eine Übersicht.
Artikel
7 EUV: die „nukleare Option“
Die
einzige Maßnahme gegen einen Mitgliedstaat auf demokratischen
Abwegen, die explizit im EU-Vertrag genannt wird, ist zugleich die
härtestmögliche: Art.
7 Abs. 2-3 EUV ermöglicht es, bei einer „schwerwiegenden und
anhaltenden Verletzung“ der EU-Grundwerte
wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit „bestimmte Rechte
auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den
betroffenen Mitgliedstaat herleiten“.
Welche
Rechte dabei in Frage kommen, ist nicht weiter spezifiziert.
Ausdrücklich erwähnt wird nur das Stimmrecht im Ministerrat;
denkbar ist aber beispielsweise auch die Einbehaltung von
EU-Fördermitteln, die dem Land eigentlich zustünden. Im Extremfall
kommt Artikel 7 faktisch einem (im Vertrag nicht vorgesehenen)
Ausschluss aus der EU gleich: Der betreffende Mitgliedstaat müsste
zwar weiterhin alle Pflichten der Mitgliedschaft erfüllen, seine
Rechte wären jedoch suspendiert.
Dass
es jemals zur Anwendung dieser „nuklearen Option“ kommt, ist
allerdings unwahrscheinlich. Voraussetzung dafür wäre nämlich,
dass sich die Staats- und Regierungschefs aller übrigen
Mitgliedstaaten im Europäischen Rat einstimmig dazu entschließen.
Der polnischen Regierung genügt ein einziger Verbündeter, um
Sanktionen zu verhindern – beispielsweise Viktor Orbán.
Art.
7 Abs. 1 EUV: die nicht ganz so nukleare Option
Etwas
realistischer ist hingegen
die Anwendung einer Vorstufe der „nuklearen Option“, die in
Art. 7 Abs. 1 EUV beschrieben wird. Demnach
kann der Europäische Rat „eindeutige Gefahr einer
schwerwiegenden Verletzung“ der EU-Grundwerte durch einen
Mitgliedstaat feststellen. Anders als für die Sanktionen nach
Abs. 2-3 ist dafür keine Einstimmigkeit, sondern nur eine
Vier-Fünftel-Mehrheit notwendig. Die konkreten Auswirkungen einer
solchen Feststellung halten sich allerdings in Grenzen: Der
Europäische Rat kann auf dieser Grundlage lediglich „Empfehlungen“
an die betreffende Regierung richten, ohne dass es irgendwelche
rechtlichen Folgen hätte, falls diese die Empfehlungen einfach
ignoriert.
Worauf
Art. 7 Abs. 1 EUV tatsächlich abzielt, ist deshalb eher ein
Diskurs-Effekt. Sollten wirklich vier Fünftel der nationalen
Regierungschefs einen ihrer Kollegen so klar brüskieren, so dürfte
das in der öffentlichen Meinung des betroffenen Landes hohe Wellen
schlagen – und, so die Hoffnung, demokratischen Kräften Auftrieb
geben.
Gleichzeitig
allerdings wäre bei einer solchen Maßnahme natürlich auch der
diplomatische Fallout zwischen den Mitgliedstaaten gewaltig. Man
müsste davon ausgehen, dass eine solcherart bloßgestellte Regierung
bei nächster Gelegenheit zurückschlägt: Da sie weiterhin ihr
Stimmrecht im Rat behält, könnte sie etwa Beschlüsse der
EU-Außenpolitik blockieren, bei denen jeder Mitgliedstaat ein
Vetorecht hat. Darauf aber werden es die anderen Regierungschefs kaum
ankommen lassen. Auch Art. 7 Abs. 1 EUV dürfte deshalb in der
Realität kaum je zur Anwendung kommen.
Die
Kommission wird aktiv: der „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“
In den letzten Jahren hat die Europäische Kommission deshalb ein
neues, niedrigschwelligeres Verfahren entwickelt. Dieser neue
„Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“
wurde im März 2014 präsentiert und sieht eine dreistufige Vorgehensweise
vor: Im ersten Schritt sammelt die Kommission Material, formuliert in
einem Schreiben ihre „Bedenken“ und gibt der betroffenen
Regierung eine Möglichkeit zur Antwort. Ist die Kommission damit
nicht zufrieden, veröffentlicht sie als zweiten Schritt eine
„Empfehlung“ und setzt der Regierung eine Frist zur Umsetzung.
Bleibt auch dies erfolglos, schlägt sie im dritten Schritt dem
Europäischen Rat Maßnahmen nach Artikel 7 vor.
Auch
der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus setzt also nicht auf harte
Sanktionen, sondern auf diskursiven Druck – indem er zum einen
Öffentlichkeit herstellt und zum anderen durch die langsame
Eskalation eine Anwendung von Artikel 7 plausibler macht. Wenn die
Kommission in ihrer Sitzung am kommenden Mittwoch beschließt, den
Mechanismus gegen die polnische Regierung einzuleiten, wäre das also
nur der erste Schritt auf einem längeren Weg, der vor allem in einer
verstärkten öffentlichen Auseinandersetzung über die europäischen
Werte und die Lage in Polen bestünde.
Zweifel
an der Legitimität der Kommission
Dass
die Kommission in dieser Auseinandersetzung eine solch zentrale Rolle
übernimmt, stieß zuletzt allerdings auch auf Kritik. Verschiedene
Akteure bezweifeln ihre politische Legitimität, um die demokratische
Qualität nationaler Regierungen zu überprüfen – mit Argumenten,
die kaum gegensätzlicher sein könnten.
Auf
der einen Seite wird der Kommission dabei vorgeworfen, dass sie
selbst nicht demokratisch gewählt sei. In diesem Sinne reagierte etwa der polnische Außenminister Witold Waszczykowski (PiS/AEKR) vor
einigen Tagen auf den Brief des Kommissionsvizepräsidenten Frans Timmermans: „Da
schreibt ein EU-Beamter, der durch politische Beziehungen ins Amt
kam, einer demokratisch gewählten Regierung. Woher nimmt er das
Recht dazu?“
Ein
unabhängiger Grundrechtebeauftragter?
Auf
der anderen Seite hingegen wird kritisiert, dass die Kommission in
Wirklichkeit sehr wohl gewählt ist und sich deshalb nach bestimmten
parteipolitischen Mustern zusammensetzt. Dies könnte dazu führen,
dass mit bestimmten nationalen Regierungen härter umgesprungen werde
als mit anderen – ein Vorwurf, der gerade angesichts des direkten
Vergleichs mit dem EVP-Mitglied Viktor Orbán nicht unplausibel
wirkt.
Verschiedentlich
wurde deshalb in letzter Zeit vorgeschlagen, anstelle der Kommission
andere Institutionen mit der Überwachung von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedstaaten zu beauftragen. Die
europäischen Grünen etwa forderten
in ihrem Europawahlprogramm 2014 ein neues unabhängiges
Spezialgremium, das ausschließlich zu diesem Zweck dienen sollte;
die deutsche Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner buchstabierte
diese Idee jüngst
noch detaillierter aus. Der deutsche Europa-Staatssekretär
Michael Roth (SPD/SPE) wiederum setzte sich bereits 2013 für
die Einsetzung eines unabhängigen EU-Grundrechtebeauftragten ein.
Den EuGH ins Spiel bringen
Diese
Vorschläge dürften allerdings nicht nur für den konkreten
Problemfall Polen zu spät kommen; sie übersehen auch, dass es in
der EU schon längst ein unabhängiges Organ gibt, das für die
Durchsetzung von Rechtsstaatsprinzipien geradezu prädestiniert ist:
den Europäischen Gerichtshof. Eine Reihe anderer Überlegungen
stellte deshalb in den letzten Jahren die Frage in den Mittelpunkt,
wie man im Umgang mit demokratisch problematischen Mitgliedstaaten
den EuGH ins Spiel bringen könnte.
Ein
Ansatz setzt dabei auf Vertragsverletzungsverfahren,
mit denen die Europäische Kommission Mitgliedstaaten, die gegen
EU-Recht verstoßen, vor dem EuGH verklagen kann. Im Zusammenhang mit
geringeren Rechtsbrüchen gehören solche Verfahren längst zum
europäischen Alltag. Verstöße gegen die Grundwerte in Art.
2 EUV jedoch wurden noch nie auf diese Weise geahndet – obwohl
keine offensichtlichen rechtlichen Argumente dagegen sprechen.
Wie
ein solches Vertragsverletzungsverfahren aussehen könnte, habe ich
selbst Anfang 2013 auf
diesem Blog skizziert; einige Monate später präsentierte die
Rechtswissenschaftlerin Kim Lane Scheppele einen ähnlichen,
detaillierteren Vorschlag. Ob der EuGH diesem Ansatz folgen und
Art. 2 EUV tatsächlich als justiziabel ansehen würde, ist offen.
Damit er sich dazu äußern kann, müsste allerdings erst einmal die
Kommission ein entsprechendes Verfahren einleiten.
Einsatz der EU-Grundrechtecharta
Andere
Ansätze wiederum versuchen gegen Übergriffe der nationalen
Regierungen auf Rechtsstaatsprinzipien die EU-Grundrechtecharta zum
Einsatz zu bringen, die 2009 mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft trat. Das Problem daran ist
allerdings, dass die Charta nach ihrem Artikel 51 für die
EU-Mitgliedstaaten „ausschließlich
bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt
– also nicht bei rein nationalen Gesetzen.
Bereits
2012 präsentierte der Rechtswissenschaftler Armin von Bogdandy
deshalb einen Vorschlag, der als „umgekehrte
Solange-Doktrin“ bekannt wurde. Er spielt auf
die Solange-Rechtsprechung
an,
mit
der sich das deutsche Bundesverfassungsgericht
für die Zukunft vorbehält, EU-Rechtsakte selbst auf die Einhaltung von
Grundrechten zu überprüfen, falls die EU keinen eigenen wirksamen
Grundrechtsschutz sicherstellen sollte. Bogdandy zufolge ließe sich
dieses Prinzip auch umgekehrt anwenden,
indem
der EuGH sich
selbst dafür zuständig erklärt,
nationale Gesetze
von
Mitgliedstaaten, die auf nationaler Ebene keinen wirksamen
Grundrechteschutz mehr bieten, anhand der EU-Grundrechtecharta zu
überprüfen. Dies könnte etwa der Fall sein, wenn wie jetzt in Polen das nationale Verfassungsgericht so entmachtet wird, dass es als Kontrollinstanz faktisch ausfällt.
Der EuGH ist diesem (aus juristischer Sicht
recht gewagten) Schritt bislang
nicht gefolgt. Er ging allerdings in den letzten Jahren ganz allgemein dazu über, den Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ – und damit auch den Geltungsbereich der Grundrechtecharta – sehr weit zu interpretieren. Damit haben sich die Richter einen Spielraum eröffnet, der sich
wenigstens im Prinzip auch gegen grundrechtsfeindliche Maßnahmen der
ungarischen oder polnischen Regierung nutzen lässt. Voraussetzung ist lediglich, dass sich ein Anknüpfungspunkt zwischen diesen Maßnahmen und einem Rechtsakt der Europäischen Union finden lässt.
Demokratie
und Grundrechte gehören zum EU-Verfassungsrecht
Fazit: Dafür, dass sich die Europäische Union als „Wertegemeinschaft“ versteht, hat sie nicht allzu viele direkte Möglichkeiten, um die Einhaltung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedstaaten zu garantieren. Artikel 7 EUV, der scheinbar diese Funktion erfüllen soll, dürfte in der Praxis kaum je zur Anwendung kommen, und auch der neue „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“ der Kommission ist eher ein Werkzeug zur Anregung der öffentlichen Debatte als ein echtes Kontrollinstrument.
Ganz zahnlos ist die Union gegenüber den autoritären Versuchen in Polen trotzdem nicht. Vor allem der Europäische Gerichtshof hat das Potenzial, in dieser Sache künftig zu einem wichtigeren Akteur zu werden. Klar ist: Die gemeinsamen demokratischen Werte und die Grundrechte sind Bestandteil des europäischen Verfassungsrechts selbst. Es wäre nur logisch, wenn das höchste Gericht der EU die Aufgabe übernähme, über ihre Einhaltung auch in den Mitgliedstaaten zu wachen.
Bild: By Platforma Obywatelska RP [CC BY-SA 2.0], via Flickr.
Mittlerweile wird niemand mehr widersprechen, wenn man sagt, dass die EU-Osterweiterung ein Fehler war. Wenn zu Beginn tatsächlich eine Begeisterung für Europa in diesen Ländern vorhanden war, interessiert der europäische Gedanke heute dort niemanden mehr. Der einzige Grund, weshalb diese Länder noch nicht wieder aus der EU ausgetreten sind, dürfte wohl eine ganz nüchteren Rechnung sein: Solange man einen finanziellen Nutzen aus der EU-Mitgliedschaft ziehen kann, bleibt man Mitglied. Das Ziel eines europäischen Bundesstaates ist mit diesen Ländern sicher nicht zu erreichen. Um dieses Ziel tatsächlich irgendwann noch zu erreichen, bleibt wohl wirklich nur die Idee eines Kerneuropas oder ein radikalerer Schritt, der auch ab und zu mal disskutiert wird. Deutschland (und andere EU-Mitglieder, die wirklich noch an einem europäischen Bundestaat interessiert sind) treten aus der EU (und der Eurozone) aus und gründen eine neue Union. Bei allen Krisen, die die EU derzeit zu bewältigen hat, hätte diese Idee einen gewissen Charme. Mit den Ländern, die nicht dabei sein wollen, könnte dieser Bundesstaat eine Freihandelszone gründen, was sicher Großbritannien entgegen kommen würde. Und natürlich bleibt dieser Bundesstaat auch gegenüber neuer Mitglieder offen. Die Frage wäre nur, welche Länder aktuell eigentlich noch in Frage kämen, diese neue Union zu gründen, sprich welche Länder wollen den diesen europäischen Bundesstaat tatsächlich noch?
AntwortenLöschenDoch, ich würde widersprechen, wenn man sagt, dass die EU-Osterweiterung ein Fehler war und dass der europäische Gedanke dort "niemanden" mehr interessierte. Die EU-Osterweiterung hat Millionen Menschen in West und Ost neue Freiheiten und Möglichkeiten eröffnet, und es gibt selbstverständlich auch in den neuen EU-Mitgliedstaaten viele Menschen, denen am "europäischen Gedanken" einer überstaatlichen Bürgerunion gelegen ist. Auch wenn die polnische Regierung mit absoluter Mehrheit gewählt wurde, sollte man nicht so tun, als ob die gesamte Bevölkerung des Landes ihre politischen Ziele teilte – denn damit überlässt man nur jenen das Feld, die sich Nationen als homogene Blöcke und die nationalen Regierungen als deren einzig legitime Vertreter vorstellen.
LöschenAuch einen kerneuropäischen Reboot, wie er in dem Kommentar beschrieben wird, halte ich nicht für einen allzu überzeugenden Lösungsvorschlag. Zum einen halte ich die Vorstellung für falsch, dass "Deutschland" ganz und gar proeuropäisch-föderalistisch wäre und die Hindernisse auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat allein in Osteuropa, Großbritannien oder anderswo zu suchen wären. Und zum anderen würde ein EU-Austritt integrationsfreundlicher Länder zunächst einmal nur dazu führen, dass in Europa neue Grenzen entstehen – unter denen am meisten gerade jene Menschen leiden würden, die ihr Leben schon heute "europäisch" gestaltet haben.
Nein: Die Demokratie in Ungarn oder Polen geht alle Unionsbürger etwas an – und zwar gerade deshalb, weil wir in einem gemeinsamen politischen System leben, das Menschen nicht auf ihre nationale Herkunft reduziert und sich auch nicht so einfach wieder entlang nationaler Grenzen rückabwickeln lässt. Die Antwort auf autoritäre Entwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten kann nicht darin bestehen, diese Länder einfach fallen zu lassen, sondern nur darin, den Grundwerten der EU auch dort wieder zur Geltung zu verhelfen.
Hallo Herr Müller,
Löschenvielen Dank für die Antwort auf meinen Kommentar. Ich hatte ja geschrieben, dass die Gründung einer neuen Union ein radikaler Schritt wäre. Aber aktuell gibt es auch von einigen überzeugten Europapolitiker die Aussage, dass das Scheitern der EU durchaus eine realistische Möglichkeit ist. Eine kleinere Union integrationswilliger Staaten wäre da sicher das kleinere Übel. Wobei das Scheitern der EU natürlich nicht wünschenswert ist.
Sie werden mir aber sicher recht geben, dass ein gemeinsames Voranschreiten aller 28 Mitgliedstaaten utopisch ist. Insofern bliebe dann eben doch nur ein Europa der 2 (oder noch mehr) Geschwindigkeiten.
Ich bin gespannt wo wir am Ende des Jahres 2016 stehen werden und ob es gelingt Lösungen für die derzeitigen Krisen zu finden.
Hallo Herr Müller,
AntwortenLöschenIn Anbetracht Ihrer Ausführungen ist die Feststellung angebracht, dass die gegenwärtigen Ereignisse in Polen eventuell sogar als Chance zu verstehen sind, dem Europäischen Gerichtshof, sich mehr Spielraum in Bezug auf die Durchsetzung der Grundrechte (und zwar in Einklang mit "eigentlich" in den nationalen Verfassungsgericht festgeschriebenen Grundrechten) zu erarbeiten. Ich verfolge die Debatte in Polen nur am Rande, aber jene Informationen über die Natur des Diskurses, die ich erhalte, sind sehr unschön. Dennoch ist es gerade deswegen wichtig, solche Inhalte zur Disposition zu stellen und vor allem daran zu erinnern, dass die EU im Gegensatz der populistischen Annahmen nicht dazu existiert, sich über nationales Recht hinweg zu setzen, sondern nationales Recht zu schützen. Ich sehe wie gesagt in diesem Konflikt eine gewaltige Chance.