Bis Ende 2017 will Großbritannien ein Referendum über den Austritt aus der EU durchführen; zuvor aber fordert Premierminister David Cameron eine
Reform der Union, über die der Europäische Rat im kommenden Dezember
beraten wird. Wo liegen in der „British Question“ die Interessen der EU
selbst und wie sollte sie auf Camerons Wünsche reagieren? In einer losen Serie von Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft
und Zivilgesellschaft hier auf diese Frage. Heute: Valentin Kreilinger. (Zum Anfang der Serie.)
- „Mit der Forderung einer ‚roten Karte‘ zur Stärkung der nationalen Parlamente wird Cameron schwer Ergebnisse erreichen. Die EU sollte sich darauf konzentrieren, das heutige System zu verbessern.“
Einer der
britischen Reformvorschläge für die Europäische Union ist die
Stärkung der nationalen Parlamente. In seiner Bloomberg-Rede vom 23. Januar 2013, sagte Premierminister David Cameron: „Wir
brauchen eine größere und bedeutendere Rolle für nationale
Parlamente“, und in jüngerer Zeit berichtete der Sunday
Telegraph,
dass eine der britischen Forderungen ein „Rote-Karte“-System sein
würde, das „Gruppen von nationalen Parlamenten die Macht gibt,
EU-Gesetze […] zu stoppen“.
Dies deutet
an, dass der britische Premierminister, vielleicht in Sorge vor den
europaskeptischen Abgeordneten seiner Conservative Party, Forderungen
nach einer stärkeren Kontrolle der nationalen Europapolitik durch
das britische Parlament widersteht, stattdessen aber alle nationalen
Parlamente in der EU stärken und sie zu einem kollektiven Akteur auf
EU-Ebene machen möchte. Die Idee der „roten Karte“ baut auf die
existierenden „Gelbe-Karte“- und „Orange-Karte“-Verfahren
auf, die mit dem Lissabon-Vertrag 2009 in Kraft getreten sind. Was
aber denken die EU-Institutionen und die anderen Mitgliedstaaten
darüber, wenn das Vereinigte Königreich Karten spielen möchte? Wo
sind die möglichen Kompromisslinien?
Der
existierende „Frühwarnsystem“
Mit dem
sogenannten „Frühwarnsystem“ kann ein nationales Parlament
derzeit eine „begründete Stellungnahme“ an die Europäische
Kommission schicken, wenn es zu einem Gesetzgebungsvorschlag
Subsidiaritätsbedenken hat. Wenn ein Drittel der nationalen
Parlamente denkt, dass eine bestimmte Angelegenheit besser auf
nationaler (und nicht auf europäischer) Ebene geregelt werden
sollte, ist die Schwelle für eine „gelbe Karte“ erreicht. Die
Kommission muss dann entscheiden, ob sie den Gesetzgebungsvorschlag
ändert, zurückzieht oder beibehält; auf jeden Fall aber muss sie
ihre Entscheidung begründen.
Seit der
Lissabon-Vertrag diesen Mechanismus
der Subsidiaritätskontrolle
2009 einführte, wurde er zweimal ausgelöst. Die erste gelbe Karte
richtete sich 2012 gegen den Kommissionsvorschlag für eine
Verordnung
über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver
Maßnahmen
(auch bekannt als „Monti II“). Die Kommission zog den Vorschlag
zurück, erklärte
aber,
dass kein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip vorgelegen habe.
Die zweite gelbe Karte folgte 2013 gegen den Kommissionsvorschlag für
eine Verordnung
über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft.
In diesem Fall kam die Kommission jedoch zu dem Schluss, dass der
Vorschlag dem Subsidiaritätsprinzip entspreche, und beschloss,
ihn aufrechtzuerhalten.
Aktive und
passive Parlamente
Wenn mehr als
die Hälfte der nationalen Parlamente Subsidiaritätsbedenken äußern,
erreichen sie die Schwelle für eine „orange Karte“. In diesem
Fall genügt eine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat oder eine
einfache Mehrheit im Europäischen Parlament, um die Kommission zu
einer Rücknahme ihres Vorschlags zu zwingen. Dies ist bislang noch
nicht vorgekommen.
In Bezug auf
ihre Aktivität im Rahmen des Frühwarnmechanismus unterscheiden
sich die verschiedenen nationalen Parlamente allerdings sehr.
Im Durchschnitt senden sie eine begründete Stellungnahme pro Jahr.
Das schwedische Parlament ist dabei sehr aktiv (mehr als 40
begründete Stellungnahmen seit 2009), andere nationale Parlamente
hingegen sind eher passiv: Bundestag und Bundesrat reichten von 2009
bis 2013 insgesamt 13 begründete Stellungnahmen ein, und im Jahr
2014 gab es beispielsweise drei begründete Stellungnahmen vom
britischen House of Commons, aber keine einzige vom House of Lords.
Ein starker
„Rote-Karte“-Mechanismus würde das Verfassungsgleichgewicht in
der EU bedeutend verändern und nationalen Parlamenten eine echte
Vetoposition verschaffen, in der sie einen EU-Gesetzgebungsprozess
zum Halten bringen können. Für David Cameron mag diese Hoffnung auf
eine machtvolles kollektives Auftreten der nationalen
Parlamente innenpolitisch günstiger sein als eine Stärkung der
europapolitischen Kontrollrechte seiner eigenen Abgeordneten im House
of Commons. Doch wie bei seinen anderen Forderungen nach einer
EU-Reform wird er feststellen, dass er mit dieser Forderung nur
schwer konkrete Ergebnisse erreichen kann.
Jüngere
Studien zeigen, dass wohl nur zwei weitere Mitgliedstaaten die „Rote-Karte“-Idee unterstützen werden:
die Niederlande und Ungarn. Die meisten anderen Mitgliedstaaten
nehmen
eine abwartende Haltung ein
und wollen erst den Regeln im Lissabon-Vertrag eine Chance geben.
Sowohl die Europäische Kommission als auch das Europäische
Parlament betrachten die „rote Karte“ als einen Angriff auf ihre
Rechte und lehnen die Idee ab. Zudem würde falscher Pragmatismus im
Sinne eines „Wenn sie darauf bestehen, sollen sie eben das neue
Spielzeug haben“ lediglich den jetzigen „Gelbe-Karte“-Mechanismus
mit seinen Unzulänglichkeiten verdoppeln. Für eine Stärkung der
nationalen Parlamente in der EU würde das mehr Schaden als Nutzen
bringen.
Probleme
des derzeitigen Systems
Das
Hauptrisiko des derzeitigen Systems ist seine Wirkungslosigkeit, da
die erforderliche Schwelle innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens von
acht Wochen nur schwer zu erreichen ist und es keine Verpflichtung
für die Kommission gibt, die Bedenken zu berücksichtigen (und den
Gesetzgebungsvorschlag zurückzuziehen), wenn eine gelbe Karte
ausgelöst wird.
Zudem erlaubt
das Frühwarnsystem den nationalen Parlamenten nur, die
EU-Integration zu bremsen. Einige Unterstützer einer stärkeren
Rolle der nationalen Parlamente, darunter das House of Lords, das
dänische und das niederländische Parlament, bevorzugen deshalb
einen „Grüne-Karte“-Mechanismus,
mit dem nationale Parlamente der Europäischen Kommission Vorschläge
für neue (Gesetzgebungs-)Initiativen machen könnten.
Ein
möglicher Kompromiss: das heutige System verbessern
Entsprechend
diesen Überlegungen sollten die EU-Institutionen und die anderen
Mitgliedstaaten sich darauf konzentrieren, das heutige System zu
verbessern. Die Kommission könnte versprechen, gelbe Karten künftig
ernster zu nehmen – oder Rat und Europäisches Parlament könnten
sich politisch
darauf festlegen, Kommissionsvorschläge fallen zu lassen,
wenn die nationalen Parlamente sie ablehnen –, und die
Acht-Wochen-Frist könnte ausgeweitet werden.
Zusätzlich
könnte die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten im
Frühwarnmechanismus ausgebaut werden: Wenn jedes nationale
Parlament schon im Voraus wüsste, welche Dossiers die anderen
Parlamente wegen möglicher Subsidiaritätsbedenken intensiv prüfen,
könnte dies wesentlich dazu beitragen, die Schwelle zu erreichen.
Die derzeitigen Informationsflüsse sind oft unzureichend:
Abgeordnete sollten kooperieren und sich stärker mit ihren
Amtskollegen aus anderen Mitgliedstaaten austauschen.
Wie die
Verhandlungen zwischen der EU und ihrem Problem-Mitglied
Großbritannien wirklich ausgehen, wird vor allem davon abhängen, in
welchem Ausmaß die 27 anderen EU-Mitglieder es dem britischen
Premierminister erlauben, die Einigung (die sie wahrscheinlich
irgendwann im Jahr 2016 erreichen werden) als eine „rote Karte“
für die nationalen Parlamente zu verkaufen. Für den Erfolg des
verbesserten Mechanismus kommt es jedoch darauf an, wie die
EU-Institutionen und die nationalen Parlamente ihn verwenden und ihm
folgen.
Valentin Kreilinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Jacques Delors Institut Berlin und Doktorand an der Hertie School of Governance. Er arbeitet zu Themen wie der differenzierten Integration, dem Europäischen und den nationalen Parlamenten und der Reform der Wirtschafts- und Währungsunion. Er twittert als @tineurope und nutzt sein eigenes Blog für alles, was nicht in 140 Zeichen passt.
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Serienübersicht
1: Vor dem Austrittsreferendum: Wie soll die EU auf die britischen Forderungen reagieren?
2: Verdient das Vereinigte Königreich eine „besondere Behandlung“? [DE/EN] ● Simon Usherwood
3: Wie die EU auf Camerons „Nachverhandlung“ reagieren sollte [DE/EN] ● Michael Emerson
4: Großbritannien will Karten spielen: Stärkere nationale Parlamente in der EU [DE/EN] ● Valentin Kreilinger
5: Italien und der Brexit [DE/EN] ● Eleonora Poli
1: Vor dem Austrittsreferendum: Wie soll die EU auf die britischen Forderungen reagieren?
2: Verdient das Vereinigte Königreich eine „besondere Behandlung“? [DE/EN] ● Simon Usherwood
3: Wie die EU auf Camerons „Nachverhandlung“ reagieren sollte [DE/EN] ● Michael Emerson
4: Großbritannien will Karten spielen: Stärkere nationale Parlamente in der EU [DE/EN] ● Valentin Kreilinger
5: Italien und der Brexit [DE/EN] ● Eleonora Poli
Übersetzung aus dem Englischen: Manuel Müller
Bilder: vonderauvisuals [CC BY-NC 2.0], via Flickr; privat [alle Rechte vorbehalten].
Bilder: vonderauvisuals [CC BY-NC 2.0], via Flickr; privat [alle Rechte vorbehalten].
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