- Europäische Logos statt europäischer Listen: Bei seinem Entwurf für ein neues Wahlrecht ist das Europäische Parlament nicht allzu ambitioniert.
Zuerst
die gute Nachricht: Am vergangenen Mittwoch hat das Europäische
Parlament endlich seinen Vorschlag
zur Reform des Europawahlrechts verabschiedet. Noch vor
drei Jahren war eine ähnliche Initiative – der sogenannte
Duff-Bericht, über den auch auf
diesem Blog einiges zu lesen war – am fehlenden Rückhalt in der christdemokratischen EVP-Fraktion gescheitert. Nun hingegen wurde der von
Jo Leinen (SPD/SPE) und Danuta Hübner (PO/EVP) ausgearbeitete
Entwurf von der Großen Koalition aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen
gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen.
Die
schlechte Nachricht: Während der Duff-Bericht einige wirklich mutige
Innovationen enthielt, handelt es sich bei dem neuen Vorschlag
bestenfalls um ein Reförmchen. Dies war zum Teil sicher
beabsichtigt; nach dem Fehlschlag von 2012 wollten die Initiatoren
des Entwurfs sichergehen, dass sie diesmal auch wirklich die
notwendige Mehrheit erreichen, und verzichteten deshalb vorerst auf
alles, was ihnen zu kontrovers erschien. Allerdings könnte es sein,
dass sie damit eine hervorragende Gelegenheit verpasst haben. Denn
nach dem Votum im Parlament muss der Vorschlag nun durch den
Ministerrat – und dort dürfte die Bereitschaft, auch
ambitionierteren Reformen zuzustimmen, selten wieder so groß werden
wie jetzt.
Der Direktwahlakt
Aber eins nach dem anderen. Nach Art.
223 AEUV hat das Europäische Parlament das Recht, einen „Entwurf
für die erforderlichen Bestimmungen für die allgemeine unmittelbare
Wahl seiner Mitglieder nach einem einheitlichen Verfahren in allen
Mitgliedstaaten oder im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten
gemeinsamen Grundsätzen“ zu verabschieden. Dieser Entwurf kann
dann vom Ministerrat noch
verändert werden und braucht schließlich die Zustimmung aller
nationalen Regierungen, um in Kraft zu treten.
Bis
heute regelt das europäische Wahlgesetz, der sogenannte
Direktwahlakt,
allerdings nur einige
Minimalanforderungen für das
Wahlverfahren
(hier
ein Überblick), die
genaue Umsetzung bleibt
den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen. Auch
der Entwurf, der nun im Parlament beschlossen wurde, strebt kein einheitliches Verfahren an. Er
führt aber einige neue
Bestimmungen in den Direktwahlakt ein, durch
die die Verfahren in den verschiedenen Mitgliedstaaten zumindest
etwas ähnlicher werden sollen.
Reformvorschläge
Im
Einzelnen sieht der Entwurf
(Wortlaut)
unter anderem vor,
dass Parteien ihre
nationalen Wahllisten
künftig mindestens zwölf Wochen vor der Wahl aufstellen
und dabei auf
parteiinterne Demokratie
und Transparenz achten
müssen. Die gleiche
Frist soll auch für die Nominierung der Spitzenkandidaten der
gesamteuropäischen Parteien für das Amt des Kommissionspräsidenten
gelten. Außerdem sollen
alle Mitgliedstaaten
ihren Bürgern
auch dann
die Möglichkeit zur
Wahlteilnahme einräumen,
wenn diese
außerhalb der EU leben. Ein
besserer Informationsaustausch zwischen den nationalen Wahlbehörden
soll verhindern, dass
Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft unerlaubterweise zweimal
abstimmen.
Und
obgleich es
statt eines einheitlichen Wahltermins weiterhin einen Zeitraum von
vier Tagen (Donnerstag bis Sonntag) geben wird,
innerhalb dessen die Mitgliedstaaten selbst
die Öffnungszeiten der
Wahllokale festlegen, soll
wenigstens der
Endzeitpunkt der Wahl
in allen Mitgliedstaaten
identisch sein: nämlich
Sonntag um 21 Uhr.
Andere
Reformvorschläge fallen etwas schwächer
aus: So haben die
nationalen Parteien bei der Aufstellung der Wahllisten künftig „für
die Gleichstellung von Männern und Frauen zu sorgen“; eine
feste Quote, wie sie vor
allem die Parteien
des linken Spektrums gefordert hatten,
findet sich in dem Entwurf jedoch nicht. Die
Vereinheitlichung des Mindestwahlalters auf 16 Jahre wiederum
erscheint lediglich als
Empfehlung an die Mitgliedstaaten, nicht
als formeller Vorschlag.
Statt
europäischer Listen nur
europäische Logos
Vor
allem aber verzichtet der Entwurf auf den Kernvorschlag
des Duff-Berichts von 2012: die transnationalen Listen, über die
ein Teil der Kandidaten in allen Mitgliedstaaten gleichzeitig zur
Wahl stehen sollte. Obwohl Jo Leinen, einer der Verfasser des neuen
Reformentwurfs, die Schaffung eines „transnationalen Elements“
noch im vergangenen Januar in einem Gastbeitrag
auf diesem Blog als „vorrangiges Ziel“ der Wahlrechtsreform
bezeichnet hatte, überwog nun offenbar die Angst, dafür erneut
keine Mehrheit zu finden. Die gesamteuropäischen Listen finden sich
in dem Entwurf deshalb nur noch als Anregung, die der Ministerrat,
falls er es möchte, zu einem ungenannten künftigen Zeitpunkt in
Kraft setzen könnte:
Der Rat beschließt einstimmig über einen gemeinsamen Wahlkreis, in dem an der Spitze der Listen die Kandidatin bzw. der Kandidat jeder politischen Familie für das Amt des Präsidenten der Kommission steht.
Als
konkrete Maßnahme, um den europäischen Parteien bei der Wahl mehr
Gewicht zu geben, macht der Entwurf hingegen nur einen ungleich
schwächeren Vorschlag: Künftig sollen auf den Wahlzetteln neben den Namen und Logos der nationalen
Parteien auch diejenigen ihrer jeweiligen EU-Mutterpartei aufgedruckt
werden. Ob das genügt, um dem Europawahlkampf eine
wirklich gesamteuropäische Note zu geben, darf freilich bezweifelt werden.
Umstrittene
Sperrklausel
Der
umstrittenste Vorschlag des Hübner/Leinen-Entwurfs schließlich ist
die Pflicht für alle Mitgliedstaaten, eine Sperrklausel
zwischen 3 und 5 Prozent der abgegebenen Stimmen einzuführen – eine Regelung, die lediglich Deutschland und Spanien
betreffen würde, da alle anderen Länder entweder bereits eine
Sperrklausel in dieser Höhe haben oder so wenige Abgeordnete
stellen, dass für ein Mandat faktisch ohnehin ein höherer
Stimmanteil notwendig ist.
Wenig
überraschend waren es deshalb vor allem die Abgeordneten der
deutschen Kleinparteien, von der Familienpartei über die Freien
Wähler bis zur ÖDP, die in der Plenardebatte Ende Oktober
(Protokoll,
Video)
am vehementesten gegen die Sperrklausel protestierten. Dass sie
überhaupt im Europäischen Parlament vertreten sind, verdanken sie
dem Bundesverfassungsgericht, das in zwei
Urteilen
2011 und 2014 erst die Fünf- und dann auch eine Drei-Prozent-Hürde
im deutschen Europawahlgesetz für verfassungswidrig erklärte. Wenn
die Hürde nun über die Reform des europäischen Direktwahlakts neu
eingeführt wird, werden die Kleinparteien bei der nächsten
Europawahl 2019 wohl wieder daran scheitern.
Gleichzeitig
ist die Sperrklausel anscheinend auch der Grund dafür, dass die
Fraktion der Grünen/EFA, die noch vor drei Jahren zu den wichtigsten
Befürwortern des Duff-Berichts gehört hatte, jetzt im Parlament
gegen den neuen Reformentwurf stimmte. Von den sieben deutschen
Kleinparteien im Parlament haben sich zwei (ÖDP und Piraten) der
Grüne/EFA-Fraktion angeschlossen, und auch ihr spanisches Mitglied
Compromís hätte mit einer Drei-Prozent-Hürde kein Mandat erreicht.
Unter den Fraktionen im Parlament sind die Grünen/EFA daher
diejenige, die am meisten unter der neuen Sperrklausel zu leiden
hätte.
Wenig überzeugende
Argumentation mit dem Verfassungsgericht
Enttäuschend
ist allerdings, wie die Gegner der Sperrklausel ihren Standpunkt
argumentierten. In der Plenardebatte nahmen fast alle von ihnen –
von den Sprechern der Grünen/EFA
und der Linksfraktion
GUE/NGL über Ulrike
Müller von den Freien Wählern (ALDE) bis zu Beatrix
von Storch von der AfD und Arne
Gericke von der Familienpartei (beide EKR) – Bezug auf das
deutsche Bundesverfassungsgericht, dessen Urteile die großen
Fraktionen EVP und S&D durch die Direktwahlakt-Reform „umgehen“
wollten. In
einer Pressemitteilung wurde
der grüne Abgeordnete Sven
Giegold sogar
noch drastischer und
behauptete,
die Große Koalition wolle „über
das europäische Wahlrecht das Grundgesetz aushebeln“.
Dieses
Argument ist aus zwei Gründen wenig überzeugend. Zum einen ist es rechtlich irreführend: Art. 223 AEUV ermächtigt das Europäische
Parlament offensichtlich dazu, die Modalitäten im Direktwahlakt
vorzuschlagen, und als Europarecht hat der Direktwahlakt
Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht. Das
Bundesverfassungsgericht stützte sich in seinen Urteilen von 2011
(Rn.
77) und 2014 (Rn.
40ff.) deshalb explizit auch auf die Tatsache, dass es im
Direktwahlakt zu diesem Zeitpunkt eben keine Pflicht zu einer
nationalen Sperrklausel gab. Wenn sich nun die Rechtslage ändert und
eine solche Pflicht neu eingeführt wird, kann auch das
Verfassungsgericht die Hürde nicht mehr ablehnen.
Zum
anderen ist das Argument aber auch politisch ausgesprochen
fragwürdig. Grundlage des Urteils von 2011 war nämlich auch, dass
das Verfassungsgericht die demokratische Relevanz des Europäischen
Parlaments in Zweifel zog: Das Gericht akzeptierte zwar, dass die
Abschaffung der Sperrklausel die Mehrheitsbildung im Parlament
erschwere. Es verwies aber darauf, dass der Ministerrat europäische
Rechtsakte nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren notfalls auch
alleine erlassen könne. Ob das Europäische Parlament handlungsfähig
sei oder nicht, sei
deshalb letztlich belanglos. Es verwundert schon, wenn nun
offenbar etliche Abgeordnete bereit sind, sich dieser verächtlichen
Einschätzung der Richter anzuschließen.
Eine seltene Gelegenheit für eine anspruchsvolle Lösung
Besonders
bedauerlich an der neuen Sperrklausel-Regelung ist indessen etwas
anderes, nämlich ihre Einfallslosigkeit. So wie die Verfasser des
Reformentwurfs beim Thema transnationale Listen auf jede Ambition
verzichteten, wählten sie auch hier offenbar den Weg, bei dem sie
den geringsten Widerstand erwarteten – und das, obwohl sich dem
Europäische Parlament eine seltene Gelegenheit für eine
anspruchsvollere Lösung bot.
Das
wesentliche Hindernis für weitreichende Reformen des
Europawahlrechts sind in der Regel bekanntlich die nationalen
Regierungen im Ministerrat, die nicht wollen, dass der Direktwahlakt
ihren Spielraum für die nationalen Europawahlgesetze allzu sehr
einschränkt. Diesmal aber konnten die Befürworter einer
europaweiten Lösung auf einen starken Unterstützer im Rat rechnen:
die deutsche Bundesregierung, die gerade zu sehr viel bereit wäre,
um eine europäische Sperrklausel durchzusetzen. Tatsächlich war es
der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD/SPE), der
den Vorschlag dazu nach der Europawahl 2014 in einem Interview
mit der FAZ und einem Gastbeitrag
für die Frankfurter Rundschau als
Erster lancierte.
Eine transnationale Sperrklausel
Unter diesen Umständen hätte das Europäische Parlament die Chance gehabt, statt einer
verpflichtenden nationalen Sperrklausel in jedem Mitgliedstaat eine
europaweite, transnationale Sperrklausel durchzusetzen. Wie eine
solche transnationale Sperrklausel aussehen könnte, haben Anfang
dieses Jahres Frank
Decker und ich
selbst in Beiträgen auf diesem Blog beschrieben.
Die Idee dabei ist, dass nur noch solche
Parteien oder Parteibündnisse ins Parlament einziehen würden,
die europaweit
mindestens 3 Prozent der Stimmen erhalten. Diese Hürde ist so
niedrig, dass sie auch für die kleineren
europäischen Parteien durchaus
zu nehmen wäre,
gleichzeitig aber auch so
hoch, dass praktisch keine nationale Partei sie allein überspringen
könnte. Die Parteien wären deshalb gezwungen, sich schon vor der
Wahl einem der europäischen Bündnisse anzuschließen, was
die europäischen Parteien stärken
und zugleich
die Zersplitterung des Europäischen Parlaments reduzieren
würde.
Künftige Reformschritte werden nicht erleichtert
Das
Europäische Parlament aber verzichtet in dem neuen Entwurf auf solch
innovative Lösungen. Stattdessen bietet es dem Rat eine
entkoffeinierte Minimalreform – mit guten Aussichten, dass viele
(wenn auch nicht alle) der jetzt vorgelegten Vorschläge am Ende
tatsächlich in Kraft treten, aber leider auch mit dem Bewusstsein,
dass dadurch weitere Reformschritte eher nicht erleichtert werden.
Berichterstatter Jo Leinen sprach zwar am Ende der Plenardebatte von
einem „Zwei-Stufen-Konzept“:
Die erste Stufe, die möglich ist, jetzt, und dann kommen wir nochmal mit weiteren Vorschlägen, die sehr wahrscheinlich auch in einem Konvent in einer größeren Beratung mit nationalen Parlamenten und den nationalen Regierungen beschlossen werden müssen.
Es
steht aber zu befürchten, dass die deutsche Bundesregierung mit der
Wiedereinführung einer nationalen Drei-Prozent-Hürde dann bereits
alles erreicht haben wird, was sie sich vom europäischen
Direktwahlakt erwünscht. Und dass daher die Stimmung im Ministerrat
künftig wieder weniger reformfreudig sein wird als jetzt.
Es
wäre ein fatales Zeichen, wenn nach dem Duff-Bericht auch dieser
Versuch einer Direktwahlakt-Reform scheitern würde. Dem
Hübner/Leinen-Entwurf ist deshalb ohne Zweifel Erfolg zu wünschen.
Gleichzeitig aber bleibt auch der schale Nachgeschmack einer
verpassten Gelegenheit: Die Wahlrechtsreform, auf die wir gewartet haben, war das noch nicht.
Bilder: European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; eigene Grafik (Quelle: VoteWatch.eu).
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