Bis
Ende 2017 will Großbritannien ein Referendum über den Austritt aus der
EU durchführen; zuvor aber fordert Premierminister David Cameron eine
Reform der Union, über die der Europäische Rat im kommenden Dezember
beraten wird. Wo liegen in der „British Question“ die Interessen der EU
selbst und wie sollte sie auf Camerons Wünsche reagieren? In einer losen
Serie von Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft
und Zivilgesellschaft hier auf diese Frage. Heute: Eleonora Poli. (Zum Anfang der Serie.)
- „Italien wird wohl keine Reformen unterstützen, die zum Hindernis für eine größere Einheit unter den dazu entschlossenen Ländern werden könnten.“
In
dem Brief, den Premierminister David Cameron (Cons./AEKR) am 16.
November 2015 an Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP) schickte, hat
das Vereinigte Königreich eine Liste von Reformen unterbreitet, die
die EU durchführen sollte, um die Briten von dem Nutzen einer
weiteren EU-Mitgliedschaft zu überzeugen. Unter anderem strebt das
Vereinigte Königreich an, dass die EU als eine Union mit mehreren
Währungen anerkannt wird, dass es keine Diskriminierung auf
Grundlage der Währung gibt und dass die Entscheidungen auf EU-Ebene
für die Mitgliedstaaten freiwillig und nicht verpflichtend sein
sollten.
Premierminister
Cameron beschreibt nicht, mit welchen rechtlichen Mitteln genau diese
Reformen umgesetzt werden sollen; diese sollen vielmehr „ein Thema
für die Verhandlungen“ sein. Doch diese Verhandlungen werden
jedenfalls schwierig werden. Unter den europäischen Staaten gibt es
immer weniger Toleranz für die britische Forderung nach weniger
engen europäischen Verknüpfungen, und mit seinen Opt-outs unter
anderem aus dem Euro und aus dem Schengener Raum der Reisefreiheit
erscheint das Vereinigte Königreich in der Union schon jetzt in
einer privilegierten Position.
Italien
will eine Vertiefung der Integration
In
einem Artikel, den der Telegraph im Oktober 2015 veröffentlichte, wurde allerdings Italien als ein Land beschrieben, das einige der
britischen Forderungen unterstützen könnte. Dies scheint etwas
paradox, da sich die italienische Regierung traditionell dafür
einsetzt, den EU-Integrationsprozess zu vertiefen. Tatsächlich hat
sich Italien in einem Papier über Vervollständigung
und Stärkung der Europäischen Währungsunion,
das es im Mai 2015 dem Rat vorlegte, für eine größere Integration
der Fiskal-, Struktur-, Sozial- und Währungspolitik ausgesprochen.
Zudem
sind 72%
der italienischen Bevölkerung der Ansicht,
dass die EU gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitsstrategien
erarbeiten sollte, sodass die italienische Regierung auch
die Entwicklung einer einheitlichen Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik unterstützt,
die die europäischen Grenzen stabilisiert und sich den heutigen
geopolitischen Herausforderungen stellt. In dieser Hinsicht
unterstützt der derzeitige Premierminister Matteo Renzi (PD/SPE)
auch ein gemeinsames
europäisches Asylsystem
und die Entwicklung koordinierter Strategien im Umgang mit der
Einwanderungskrise. Angesichts dessen ist es offensichtlich, dass die
italienische Regierung allgemein gegen die Möglichkeit einzelner
Opt-outs aus der Union sein sollte, wie sie vom Vereinigten
Königreich angestrebt werden.
Sorge
vor einem Präzedenzfall
Dennoch
könnte Italien aus zwei Gründen bereit sein, einigen von Camerons
Forderungen nachzugeben. Zum einen hat ein vollständiger Brexit das
Potenzial, einen politischen Präzedenzfall zu schaffen, der in
Italien zu politischer Instabilität führt, indem er die
europaskeptischen Parteien und Bewegungen legitimiert. Bis jetzt
haben bereits das Movimento
Cinque Stelle
(M5S/EFDD) und die Lega
Nord (LN/BENF) Kampagnen für ein Referendum über den Euro in Italien durchgeführt.
Zum anderen könnte das Zugeständnis von einigen der britischen
Reformforderungen auch nützlich für eine stärkere Integration
sein. Tatsächlich sollte sich die Union aus italienischer Sicht in
Richtung eines Modells „konzentrischer
Kreise“
bewegen, das den Ländern, die das wünschen, ein größere
politische und wirtschaftliche Integration erlauben würde, ohne von
den eher skeptischen Mitgliedstaaten blockiert zu werden. Letztere
würden über den Binnenmarkt und den existierenden acquis
communautaire mit
der EU verbunden bleiben, aber keine weitere institutionelle
Angleichung akzeptieren müssen.
Konzentrische
Integration
Unter
diesem Gesichtspunkt wird Italien wohl keine Reformen unterstützen,
die zum Hindernis für eine größere Einheit unter den dazu
entschlossenen Ländern werden könnten. Die von Cameron geforderte
Errichtung neuer Garantien für Nicht-Euro-Länder beispielsweise
könnte von Italien akzeptiert werden, solange sie nicht die
Währungsunion unterminiert und zu Vetos gegen Politikentscheidungen
der Eurozone führt. In ähnlicher Weise wird Italien nicht dafür
sein, Verfahren einzuführen, die den europäischen
Entscheidungsfindungsprozess, die innereuropäische Migration oder
die Handlungsfähigkeit der EU-Institutionen einschränken. Hingegen
könnte es einer wie auch immer gearteten Ausnahme für das
Vereinigte Königreich von der Vertragsklausel einer „immer engeren
Union“ zustimmen, solange die Klausel selbst erhalten bleibt.
Darüber
hinaus wird die italienische Regierung die Forderung des Vereinigten
Königreichs nach einer wettbewerbsfähigeren und weniger
bürokratischen europäischen Gesetzgebung unterstützen. Zum
Beispiel ist Italien schon jetzt für das Maßnahmenpaket der
Europäischen Kommission zur Besseren Rechtssetzung oder für die
Kapitalmarktunion. Tatsächlich sind dies Schlüsselreformen, um den
gemeinsamen Markt und die wirtschaftliche Entwicklung in allen
Mitgliedstaaten anzukurbeln.
Hoffnung
auf einen Kompromiss
Zusammengefasst:
Auch wenn die Verhandlungen kein einfacher Prozess sein werden,
könnte Italien Cameron einige seiner Forderungen zugestehen.
Tatsächlich würde ein vollständiger Brexit das europäische
Integrationsprojekt stärker beschädigen als ein Europa
konzentrischer Kreise, das eine stärkere Integration unter den
Staaten erlaubt, die dies wünschen. Es gibt jedoch nicht viele
Bereiche, in denen Italien auf der Seite des Vereinigten Königreichs
steht. Die Hoffnung ist, dass es den Mitgliedstaaten gelingt, einen
Kompromiss zu finden, der letztlich auch von großem Vorteil für die
EU sein könnte.
Dr. Eleonora Poli ist Mitarbeiterin am Istituto Affari Internazionali (IAI), wo sie in Forschungsprojekten zu den politischen und institutionellen Implikationen der Eurokrise und zu den politökonomischen EU-Asien-Beziehungen tätig ist. Außerdem ist sie Forschungsmitarbeiterin am City Political Economy Research Centre (CityPerc) und hat als Beraterin für IDS-Thomson Reuters und OSIFE gearbeitet. Eleonora Poli ist Autorin eines jüngst erschienenen Buches, Antitrust Institutions and Policies in the Globalising Economy (Palgrave MacMillan, Oktober 2015).
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Serienübersicht
1: Vor dem Austrittsreferendum: Wie soll die EU auf die britischen Forderungen reagieren?
2: Verdient das Vereinigte Königreich eine „besondere Behandlung“? [DE/EN] ● Simon Usherwood
3: Wie die EU auf Camerons „Nachverhandlung“ reagieren sollte [DE/EN] ● Michael Emerson
4: Großbritannien will Karten spielen: Stärkere nationale Parlamente in der EU [DE/EN] ● Valentin Kreilinger
5: Italien und der Brexit [DE/EN] ● Eleonora Poli
1: Vor dem Austrittsreferendum: Wie soll die EU auf die britischen Forderungen reagieren?
2: Verdient das Vereinigte Königreich eine „besondere Behandlung“? [DE/EN] ● Simon Usherwood
3: Wie die EU auf Camerons „Nachverhandlung“ reagieren sollte [DE/EN] ● Michael Emerson
4: Großbritannien will Karten spielen: Stärkere nationale Parlamente in der EU [DE/EN] ● Valentin Kreilinger
5: Italien und der Brexit [DE/EN] ● Eleonora Poli
Bilder: Number 10 [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; privat [alle Rechte vorbehalten].
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