24 November 2015

Italien und der Brexit

Bis Ende 2017 will Großbritannien ein Referendum über den Austritt aus der EU durchführen; zuvor aber fordert Premierminister David Cameron eine Reform der Union, über die der Europäische Rat im kommenden Dezember beraten wird. Wo liegen in der „British Question“ die Interessen der EU selbst und wie sollte sie auf Camerons Wünsche reagieren? In einer losen Serie von Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft hier auf diese Frage. Heute: Eleonora Poli. (Zum Anfang der Serie.)

„Italien wird wohl keine Reformen unterstützen, die zum Hindernis für eine größere Einheit unter den dazu entschlossenen Ländern werden könnten.“
In dem Brief, den Premierminister David Cameron (Cons./AEKR) am 16. November 2015 an Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP) schickte, hat das Vereinigte Königreich eine Liste von Reformen unterbreitet, die die EU durchführen sollte, um die Briten von dem Nutzen einer weiteren EU-Mitgliedschaft zu überzeugen. Unter anderem strebt das Vereinigte Königreich an, dass die EU als eine Union mit mehreren Währungen anerkannt wird, dass es keine Diskriminierung auf Grundlage der Währung gibt und dass die Entscheidungen auf EU-Ebene für die Mitgliedstaaten freiwillig und nicht verpflichtend sein sollten.

Premierminister Cameron beschreibt nicht, mit welchen rechtlichen Mitteln genau diese Reformen umgesetzt werden sollen; diese sollen vielmehr „ein Thema für die Verhandlungen“ sein. Doch diese Verhandlungen werden jedenfalls schwierig werden. Unter den europäischen Staaten gibt es immer weniger Toleranz für die britische Forderung nach weniger engen europäischen Verknüpfungen, und mit seinen Opt-outs unter anderem aus dem Euro und aus dem Schengener Raum der Reisefreiheit erscheint das Vereinigte Königreich in der Union schon jetzt in einer privilegierten Position.

Italien will eine Vertiefung der Integration

In einem Artikel, den der Telegraph im Oktober 2015 veröffentlichte, wurde allerdings Italien als ein Land beschrieben, das einige der britischen Forderungen unterstützen könnte. Dies scheint etwas paradox, da sich die italienische Regierung traditionell dafür einsetzt, den EU-Integrationsprozess zu vertiefen. Tatsächlich hat sich Italien in einem Papier über Vervollständigung und Stärkung der Europäischen Währungsunion, das es im Mai 2015 dem Rat vorlegte, für eine größere Integration der Fiskal-, Struktur-, Sozial- und Währungspolitik ausgesprochen.

Zudem sind 72% der italienischen Bevölkerung der Ansicht, dass die EU gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitsstrategien erarbeiten sollte, sodass die italienische Regierung auch die Entwicklung einer einheitlichen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik unterstützt, die die europäischen Grenzen stabilisiert und sich den heutigen geopolitischen Herausforderungen stellt. In dieser Hinsicht unterstützt der derzeitige Premierminister Matteo Renzi (PD/SPE) auch ein gemeinsames europäisches Asylsystem und die Entwicklung koordinierter Strategien im Umgang mit der Einwanderungskrise. Angesichts dessen ist es offensichtlich, dass die italienische Regierung allgemein gegen die Möglichkeit einzelner Opt-outs aus der Union sein sollte, wie sie vom Vereinigten Königreich angestrebt werden.

Sorge vor einem Präzedenzfall

Dennoch könnte Italien aus zwei Gründen bereit sein, einigen von Camerons Forderungen nachzugeben. Zum einen hat ein vollständiger Brexit das Potenzial, einen politischen Präzedenzfall zu schaffen, der in Italien zu politischer Instabilität führt, indem er die europaskeptischen Parteien und Bewegungen legitimiert. Bis jetzt haben bereits das Movimento Cinque Stelle (M5S/EFDD) und die Lega Nord (LN/BENF) Kampagnen für ein Referendum über den Euro in Italien durchgeführt.

Zum anderen könnte das Zugeständnis von einigen der britischen Reformforderungen auch nützlich für eine stärkere Integration sein. Tatsächlich sollte sich die Union aus italienischer Sicht in Richtung eines Modells „konzentrischer Kreise“ bewegen, das den Ländern, die das wünschen, ein größere politische und wirtschaftliche Integration erlauben würde, ohne von den eher skeptischen Mitgliedstaaten blockiert zu werden. Letztere würden über den Binnenmarkt und den existierenden acquis communautaire mit der EU verbunden bleiben, aber keine weitere institutionelle Angleichung akzeptieren müssen.

Konzentrische Integration

Unter diesem Gesichtspunkt wird Italien wohl keine Reformen unterstützen, die zum Hindernis für eine größere Einheit unter den dazu entschlossenen Ländern werden könnten. Die von Cameron geforderte Errichtung neuer Garantien für Nicht-Euro-Länder beispielsweise könnte von Italien akzeptiert werden, solange sie nicht die Währungsunion unterminiert und zu Vetos gegen Politikentscheidungen der Eurozone führt. In ähnlicher Weise wird Italien nicht dafür sein, Verfahren einzuführen, die den europäischen Entscheidungsfindungsprozess, die innereuropäische Migration oder die Handlungsfähigkeit der EU-Institutionen einschränken. Hingegen könnte es einer wie auch immer gearteten Ausnahme für das Vereinigte Königreich von der Vertragsklausel einer „immer engeren Union“ zustimmen, solange die Klausel selbst erhalten bleibt.

Darüber hinaus wird die italienische Regierung die Forderung des Vereinigten Königreichs nach einer wettbewerbsfähigeren und weniger bürokratischen europäischen Gesetzgebung unterstützen. Zum Beispiel ist Italien schon jetzt für das Maßnahmenpaket der Europäischen Kommission zur Besseren Rechtssetzung oder für die Kapitalmarktunion. Tatsächlich sind dies Schlüsselreformen, um den gemeinsamen Markt und die wirtschaftliche Entwicklung in allen Mitgliedstaaten anzukurbeln.

Hoffnung auf einen Kompromiss

Zusammengefasst: Auch wenn die Verhandlungen kein einfacher Prozess sein werden, könnte Italien Cameron einige seiner Forderungen zugestehen. Tatsächlich würde ein vollständiger Brexit das europäische Integrationsprojekt stärker beschädigen als ein Europa konzentrischer Kreise, das eine stärkere Integration unter den Staaten erlaubt, die dies wünschen. Es gibt jedoch nicht viele Bereiche, in denen Italien auf der Seite des Vereinigten Königreichs steht. Die Hoffnung ist, dass es den Mitgliedstaaten gelingt, einen Kompromiss zu finden, der letztlich auch von großem Vorteil für die EU sein könnte.
Dr. Eleonora Poli ist Mitarbeiterin am Istituto Affari Internazionali (IAI), wo sie in Forschungsprojekten zu den politischen und institutionellen Implikationen der Eurokrise und zu den politökonomischen EU-Asien-Beziehungen tätig ist. Außerdem ist sie Forschungsmitarbeiterin am City Political Economy Research Centre (CityPerc) und hat als Beraterin für IDS-Thomson Reuters und OSIFE gearbeitet. Eleonora Poli ist Autorin eines jüngst erschienenen Buches, Antitrust Institutions and Policies in the Globalising Economy (Palgrave MacMillan, Oktober 2015).


Übersetzung aus dem Englischen: Manuel Müller
Bilder: Number 10 [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; privat [alle Rechte vorbehalten].

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