Bis Ende 2017 will Großbritannien ein Referendum über den Austritt aus der EU durchführen; zuvor aber fordert Premierminister David Cameron eine Reform der Union, über die der Europäische Rat im kommenden Dezember beraten wird. Wo liegen in der „British Question“ die Interessen der EU selbst und wie sollte sie auf Camerons Wünsche reagieren? In einer losen Serie von Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft hier auf diese Frage. Heute: Simon Usherwood. (Zum Anfang der Serie.)
- „Unsere Unterschiede anzuerkennen könnte auch eine Anerkennung dessen, was wir gemeinsam tun können, deutlich erleichtern.“
Mit David Camerons unerwarteter Wiederwahl im Mai
wurde das lang diskutierte Referendum über die britische Mitgliedschaft in der
Europäischen Union eine Realität. Seitdem ist ein doppelgleisiger Prozess eröffnet
worden: einerseits eine Verhandlung mit den europäischen Partnern, andererseits
der Aufbau einer öffentlichen Debatte im Vorfeld der Abstimmung selbst.
Ehrlicherweise kann man sagen, dass dies alles eine zutiefst
anglo-zentrische Diskussion ist. Die meisten anderen Mitgliedstaaten
sehen darin vor allem eine Situation, die sich das Vereinigte Königreich selbst
eingebrockt hat, nicht als etwas, wozu andere es gezwungen haben. Als der
traditionelle „schwierige Partner“ waren die Briten seit Langem unzufrieden mit
der Entwicklung und Substanz der europäischen Integration, und diese neue Phase
ist nur das nächste Kapitel in einer generell unglücklichen Geschichte.
Geringe Europäisierung der britischen Debatte
Zudem war die Struktur der britischen Debatte sehr nach
innen gerichtet. Die unterschiedlichen Stimmen im Vereinigten Königreich
sprechen hauptsächlich zueinander, statt mit ihren europäischen Gegenübern oder
Partnern. Wenn Europäer versuchen, zu dieser Debatte beizutragen, werden sie
mit einer Mischung aus Argwohn und Geringschätzung betrachtet: Warum sollte es
eine Rolle spielen, was jemand von außerhalb denkt?
Dies spiegelt teilweise die geringe Europäisierung der
britischen politischen Debatte wider. Themen und Fragen werden sehr stark
national gedeutet, mit wenig Rücksicht auf die europäische Dimension, die
„irgendwo anders“ bleibt. Wenn es einen externen Vergleichsmaßstab gibt, dann
sind das die USA, deren politisches Leben sich in Sprache und Verfahren sehr
von Kontinentaleuropa unterscheidet.
Es ist notwendig, all dies zu verstehen, wenn man sich
der Fragestellung in der Überschrift annähert. Eine der
Schlüsselherausforderungen für Cameron (und die andern EU-Spitzenpolitiker)
wird es sein, dass sie die Welt auf sehr unterschiedliche Weise sehen, was ein
für beide Seiten zufriedenstellendes Ergebnis umso schwieriger machen wird.
Eine Bedrohung für die Britishness?
Aus britischer Sicht geht es in der Debatte um Fairness.
Viele in der Conservative Party (und außerhalb von ihr) haben das Gefühl, dass
sie irgendwie dazu verleitet worden sind, einem Club beizutreten, der seitdem
immer mehr Macht auf sich vereint hat, auf britische Kosten sowohl was die
Finanzierung des Budgets als auch den Verlust der Souveränität betrifft. Bei
der Politik der Union, argumentieren sie, gehe es nicht um Konsens, sondern um
eine Homogenisierung, die die Bedeutung der Britishness
selbst bedrohe.
Außerdem verweisen sie auf eine schwankende Eurozone und
eine institutionelle Ordnung, die unfähig zu jeder entscheidenden Handlung
erscheint. Vor allem in Handelsfragen wäre ein allein agierendes Vereinigtes
Königreich in ihren Augen wendiger und könnte bessere Handelsabkommen mit aufstrebenden Wirtschaftsmächten aushandeln, ohne
sich auf all die Kompromisse einlassen zu müssen, die nötig sind, um die
anderen 27 Mitgliedstaaten mit an Bord zu holen.
Umfangreiche Ausnahmeklauseln
Für viele europäische Partner klingt dies alles nach einer
sehr einseitigen Argumentationsweise. Das Vereinigte Königreich hat sich
bereits umfangreiche Ausnahmeklauseln aus dem System gesichert: der Euro,
Schengen, Prüm, der Bereich Justiz und Inneres. Hinzu kommt, dass der
Budget-Rabatt – auch nach seiner Verallgemeinerung auf andere Nettozahler –
noch immer besonders vorteilhaft für das Vereinigte Königreich ist; und auch
der britische Selbstausschluss aus dem Fiskalpakt ist noch gut im Gedächtnis.
Kurz gesagt, fragen sie, was gibt es denn noch, das geändert werden könnte?
Darüber hinaus fragen sich andere Mitgliedstaaten zu
Recht, warum sie nicht dasselbe tun sollten wie die Briten. Dies gilt besonders
für eine mögliche Vertragsreform, was erklärt, warum Cameron in dieser Sache
anscheinend bereits zurückgerudert ist. Mit dem Argument, dass seine selbst
auferlegte Referendumsfrist bis Ende 2017 für eine formelle Neuverhandlung der Verträge zu knapp sei, hatte Cameron immerhin die Einsicht, dass eine
Vertragsreform wahrscheinlich zu Hause
wie außerhalb mehr Probleme schaffen als lösen würde.
Und dies erklärt zum Teil, warum die Wahrnehmung der
Situation so unterschiedlich ist.
Großbritannien hat mehr gestaltet, als die Briten wahrnehmen
Die Struktur der britischen öffentlichen Debatte über die
europäische Integration war vor allem von Gleichgültigkeit geprägt, gefärbt mit
Besorgnis, was mit dem Land geschehen könnte. Im Gegensatz zu vielen anderen
Mitgliedstaaten gibt es keine rechte Vorstellung, dass das Vereinigte
Königreich – als Mitglied – auch selbst Einfluss auf die EU nehmen kann. Die
einzigen Optionen, die sich anzubieten scheinen, sind Blockade oder Ausstieg:
In der langen Geschichte der Mitgliedschaft wurden diejenigen, die wie Tony
Blair eine konstruktive Rolle zu spielen versuchten, oft als verblendet und
irregeführt wahrgenommen.
Die Tragödie daran ist, dass das Vereinigte Königreich
durchaus eine Führungs- und Gestaltungsrolle eingenommen hat, weit mehr als die
Briten wahrnehmen. Ein gutes Beispiel dafür ist Margaret Thatcher.
Für die meisten Skeptiker ist Thatcher das Musterbeispiel
für den Kampf gegen „Europa“ und die Verteidigung der Nation. In Wirklichkeit
war sie jedoch sehr viel überlegter, von ihrer Unterschrift unter die
Einheitliche Europäische Akte bis zu ihrer Unterstützung für die
Osterweiterung. Wenn man sich die Zeit nimmt, ihre berühmte Brügge-Rede von 1988 zu lesen – die damals als eine sehr starke Kampfansage an die Ordnung der Dinge verstanden wurde –, wird man feststellen, dass alle fünf von ihr genannten Kernprinzipien heute Teil der Arbeitsweise der EU sind, von einer
NATO-geführten Verteidigung bis zum Impuls für eine weitere Marktliberalisierung.
Unsere Unterschiede anerkennen
Die britischen Neuverhandlungs- und Referendumspläne
könnten eine ausgezeichnete Gelegenheit für alle Seiten sein, ihr Verständnis
und ihre Rhetorik zur europäischen Integration neu einzustellen. Ja, das
Vereinigte Königreich hat Besonderheiten, die man verstehen und auf die man
sich einlassen muss, da die EU kein auf Zwang basierendes Regierungssystem ist.
Aber dies kann nur durch eine (angemessene) wechselseitige Anerkennung der
Bedürfnisse und Besonderheiten der anderen Mitgliedstaten geschehen. Was auch
immer manche denken mögen, das Ziel der Europäischen Union ist nicht, einen
neuen Staat zu schaffen, sondern die Mitgliedstaaten zu unterstützen und zu
ergänzen.
Wenn das Referendum für das Vereinigte Königreich nicht
nur ein weiterer Zwischenstopp in einer unendlichen Reise ohne Ziel sein soll,
muss sich die Debatte ändern, sowohl im Vereinigten Königreich als auch
anderswo. Unsere Unterschiede anzuerkennen könnte auch eine Anerkennung
dessen, was wir gemeinsam tun können, deutlich erleichtern.
Dr. Simon Usherwood ist Senior
Lecturer für Politikwissenschaft an der University of Surrey. Seine Arbeiten
zur Europaskepsis und zu den britisch-europäischen Beziehungen wurden in
zahlreichen Zeitschriften und Büchern veröffentlicht. Sein Blog zu
diesen Themen ist hier zu finden.
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Serienübersicht
1: Vor dem Austrittsreferendum: Wie soll die EU auf die britischen Forderungen reagieren?
2: Verdient das Vereinigte Königreich eine „besondere Behandlung“? [DE/EN] ● Simon Usherwood
3: Wie die EU auf Camerons „Nachverhandlung“ reagieren sollte [DE/EN] ● Michael Emerson
4: Großbritannien will Karten spielen: Stärkere nationale Parlamente in der EU [DE/EN] ● Valentin Kreilinger
5: Italien und der Brexit [DE/EN] ● Eleonora Poli
1: Vor dem Austrittsreferendum: Wie soll die EU auf die britischen Forderungen reagieren?
2: Verdient das Vereinigte Königreich eine „besondere Behandlung“? [DE/EN] ● Simon Usherwood
3: Wie die EU auf Camerons „Nachverhandlung“ reagieren sollte [DE/EN] ● Michael Emerson
4: Großbritannien will Karten spielen: Stärkere nationale Parlamente in der EU [DE/EN] ● Valentin Kreilinger
5: Italien und der Brexit [DE/EN] ● Eleonora Poli
Übersetzung: Manuel Müller
Bilder: Dave Kellam [CC BY-SA 2.0], via Flickr; privat [alle Rechte vorbehalten].
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