„Believe me, I have no romantic attachment to the European Union
and its institutions. I’m only interested in two things: Britain’s
prosperity and Britain’s influence. That’s why I’m going to
fight so hard in this renegotiation, so we can get a better deal and
the best of both worlds.“
David
Cameron, Parteitagsrede,
7. Oktober 2015
- Großbritannien vor dem Absprung? David Camerons Reformforderungen zwingen die EU, vor dem britischen Referendum Stellung zu beziehen.
Cameron
will eine „EU-Reform“ nach britischen Vorstellungen
Hinter
diesem Schweigen steht
freilich nicht
bloße Ratlosigkeit, sondern eine
Strategie, die Cameron in den
letzten Monaten immer wieder offen ausgesprochen hat. Offiziell
möchte der
Premierminister nämlich
keineswegs sein Land aus der
EU führen. Worum es ihm
geht, ist lediglich, dass die
EU in ihrer heutigen Form
nicht den britischen Interessen entspreche. Sein
Ziel ist deshalb, vor dem
Referendum zunächst neue Bedingungen
mit den übrigen Regierungschefs auszuhandeln
– und dann seiner Bevölkerung den Verbleib in einer nach
britischen Vorstellungen veränderten Union
zu empfehlen.
Die
Schlüsselbegriffe der britischen Regierung in dieser
Vor-Referendums-Phase sind dementsprechend
renegotiation und
reform,
„Nachverhandlung“ und
„Reform“ der EU. Falls
die Verhandlungen mit den übrigen Europäern jedoch
unbefriedigend verlaufen
sollten, so
Cameron,
könne er für
nichts garantieren. Der
„Brexit“, der
mögliche Austritt Großbritanniens aus der Union,
wird damit zu seinem
zentralen
Argument, um
den britischen Forderungen in
Brüssel Nachdruck zu
verleihen.
Im
Dezember steht die British Question auf der Tagesordnung
Besonders
weit gediehen freilich scheinen die Nachverhandlungen zwischen
Großbritannien und
dem Rest der EU noch nicht zu
sein. Tatsächlich setzten
viele Kontinentaleuropäer
bis zum vergangenen
Frühjahr auf einen baldigen
britischen Regierungswechsel und
eine Machtübernahme der Labour Party (SPE), die sich
zwar ebenfalls die
„EU-Reform“ auf die
Fahnen geschrieben hatte,
ein Austrittsreferendum
jedoch ausschloss. Als nach
dem Wahlsieg der Conservatives im Mai deutlich
wurde, dass das Referendum
kommen würde, gewann
die Debatte kurzzeitig an Fahrt. Auf
einem Treffen des Europäischen Rates Ende
Juni präsentierte
Cameron erstmals
seine Wünsche.
Etwa
um dieselbe Zeit jedoch eskalierten
auch die
Verhandlungen über neue
Hilfskredite für
Griechenland,
dann folgte die politische
Sommerpause, und schließlich stand
die EU im
September in der
Flüchtlingskrise vor
einer ihrer größten gesellschaftspolitischen Herausforderungen der
letzten Jahrzehnte. Für
eine ausführliche
Debatte über die
britischen Forderungen fehlte
daher bislang schlicht die
Zeit; und
so steht die British Question nun für den kommenden Dezember
erneut auf der Tagesordnung des Europäischen Rates.
Erst danach will Cameron alle
weiteren
Entscheidungen über
den Zeitplan
und seine Wahlempfehlung
für das Referendum treffen.
Die
britischen Kernforderungen
Wie
die Position
der britischen Regierung in
den anstehenden Verhandlungen im
Einzelnen aussehen wird,
ist bis
heute noch etwas unklar. Seit
Cameron Anfang 2013 zum ersten Mal seine
Forderung nach einer „EU-Reform“ mit einem britischen
Austrittsreferendum in Verbindung brachte,
kamen bestimmte
Punkte in seinen Reden
und Wahlprogrammen jedoch immer
wieder vor:
●
Da wäre zunächst einmal die alte
Forderung nach weniger
europäischer Regulierung und nach einer Rückübertragung
von EU-Kompetenzen
auf die nationale Ebene.
Welche Kompetenzen das genau
sein sollten, ist jedoch
offen. Zudem tauchte das
Thema in der Rhetorik der britischen Regierung zuletzt immer seltener
auf und scheint für Cameron insgesamt an Bedeutung verloren zu haben.
●
Stattdessen steht inzwischen meist die Reduzierung der Zuwanderung
nach Großbritannien im Mittelpunkt – und damit die Einschränkung
der europäischen Freizügigkeit. Kernforderung ist dabei,
Unionsbürgern den Zugang zum britischen Sozialsystem so weit wie
möglich erschweren. Ende 2013 erklärte Cameron dies zu
einer „absoluten Bedingung für die Nachverhandlungen“; folge die
EU ihm nicht, könne
er für das Brexit-Referendum „nichts ausschließen“.
●
Ein anderes Ziel ist eher reaktiv: In Folge der Eurokrise kam es in
den letzten Jahren zu einer intensivierten Zusammenarbeit unter den
Mitgliedstaaten der Eurozone; und weitere Integrationsschritte, durch
die die
Währungsunion noch stärker zu einem politischen „Kerneuropa“
würde, sind bereits im Gespräch. Die britische Regierung
fürchtet deshalb, abgehängt zu werden, und möchte von den
Regierungschefs der Euro-Staaten eine Garantie, dass es nicht zu
einer Diskriminierung der britischen Wirtschaft, vor allem des
Bankenstandorts in der City of London kommt.
●
Darüber hinaus setzt sich Cameron für mehr
Blockademöglichkeiten nationaler Parlamente bei der EU-Gesetzgebung
ein. Eine Gruppe konservativer Abgeordneter forderte vor einiger
Zeit sogar, dass das britische Unterhaus alleine ein
generelles Vetorecht gegen jeglichen europäischen
Gesetzgebungsvorschlag haben sollte, eine Forderung, die jedoch
auch einige britische Minister für unrealistisch halten.
●
Eine weitere Forderung schließlich betrifft die Präambel
des EU-Vertrags, in der es heißt, die
Mitgliedstaaten seien „entschlossen, den Prozess der Schaffung
einer immer engeren Union der Völker Europas […] weiterzuführen“.
Obwohl diese Formulierung keine rechtliche, sondern nur symbolische
Bedeutung hat, geht sie Cameron zu weit. Er möchte die „immer engere Union“ deshalb gerne
aus dem Vertrag streichen – oder wenigstens eine Klarstellung
erreichen, dass sie nicht für Großbritannien gilt.
Wie
reagiert die EU?
Wie aber reagiert der Rest der Europäischen Union auf diese Forderungen? Unter den Regierungen der übrigen Mitgliedstaaten stoßen die britischen Wünsche im Einzelnen teils auf mehr, teils auf weniger Zustimmung, ohne dass sich eine ganz
klare Linie abzeichnen würde (einen Überblick über die nationalen Positionen bietet
die Renegotiation
Scorecard des European
Council on Foreign Relations). Und
auch in der Kommission und im Europäischen Parlament gibt
man sich eher verhalten:
Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) etwa sprach nach
Camerons Wahlsieg im Mai von
„konstruktiver Zusammenarbeit“ und einem „fairen Deal“, aber
auch von „roten Linien“, die „nicht verhandelbar“ seien.
Wo
diese roten Linien ganz genau verlaufen, bleibt jedoch eher unklar – tatsächlich scheint es, als folgte die EU in der British Question bislang eher einer passiv-abwartenden Strategie. Damit einher geht, dass auch die europäische Öffentlichkeit außerhalb der britischen Inseln dem Thema bislang nur wenig Aufmerksamkeit zuwendet. Während in Großbritannien selbst die Vor- und Nachteile der EU-Mitgliedschaft schon in den vergangenen
Jahren immer wieder diskutiert worden sind und sich nun im Vorlauf des Referendums das Austritts- und das Verbleiben-Lager auch personell in Stellung bringen, steht im Rest der Europäischen Union die Debatte, wie man sich
gegenüber der britischen Herausforderung positionieren sollte, noch ganz am Anfang.
Die Debatte steht noch ganz am Anfang
Sollte
die EU den britischen Reformwünschen nachgeben, damit das Land auf jeden Fall
Mitglied bleibt? Sollte sie hart bleiben, weil es nicht angehen kann,
dass eine einzelne Regierung alle anderen mit Austrittsdrohungen
erpresst? Wie viel „variable Geometrie“ tut der EU gut, weil
sie dadurch flexibler wird und besser auf die Wünsche der einzelnen Mitgliedstaaten eingehen kann?
An welcher Stelle hingegen würde nationales Rosinenpicken den
Zusammenhalt der Union als Ganzes untergraben?
Könnten die britischen Forderungen womöglich sogar ein Anlass sein, um einen
Europäischen Konvent einzuberufen, der sich auch mit ganz anderen Vorschlägen zur Vertragsreform befasst – zum Beispiel einer tieferen Integration innerhalb der Währungsunion? Und gibt es womöglich einen Punkt, an dem ein Abschied in Freundschaft für beide Seiten die bessere Lösung ist, einfach weil die Vorstellungen, was die EU sein und wie sie funktionieren sollte, in Großbritannien grundsätzlich anders sind als auf dem Kontinent?
Welche
Interessen und Handlungsspielräume hat die EU?
Die europäische Öffentlichkeit neigt bislang
dazu, das angekündigte Austrittsreferendum als eine nationale Angelegenheit Großbritanniens zu behandeln. In
vielen Medienberichten erscheint es als eine Frage, zu der die britischen
Parteien und letztlich die britische Bevölkerung
Position beziehen müssen, aber die sich dem Einfluss und der Entscheidungshoheit der übrigen europäischen Bürger
entzieht. Doch die Reform der Europäischen Union, die Cameron will, geht uns alle an – und
darum ist es nötig, dass wir uns darüber verständigen, wie die EU auf die britischen Forderungen
reagieren soll.
Um
diese Frage soll es in einer Serie von Gastbeiträgen gehen, die
in den kommenden Wochen auf
diesem Blog erscheinen werden. Vertreter
aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft geben darin Antwort
darauf, wo aus ihrer Sicht
die Interessen der
EU in der British Question liegen und
welche Handlungsspielräume sie
hat, um diese durchzusetzen. Den Anfang macht in Kürze Simon Usherwood.
Serienübersicht
1: Vor dem Austrittsreferendum: Wie soll die EU auf die britischen Forderungen reagieren?
2: Verdient das Vereinigte Königreich eine „besondere Behandlung“? [DE/EN] ● Simon Usherwood
3: Wie die EU auf Camerons „Nachverhandlung“ reagieren sollte [DE/EN] ● Michael Emerson
4: Großbritannien will Karten spielen: Stärkere nationale Parlamente in der EU [DE/EN] ● Valentin Kreilinger
5: Italien und der Brexit [DE/EN] ● Eleonora Poli
1: Vor dem Austrittsreferendum: Wie soll die EU auf die britischen Forderungen reagieren?
2: Verdient das Vereinigte Königreich eine „besondere Behandlung“? [DE/EN] ● Simon Usherwood
3: Wie die EU auf Camerons „Nachverhandlung“ reagieren sollte [DE/EN] ● Michael Emerson
4: Großbritannien will Karten spielen: Stärkere nationale Parlamente in der EU [DE/EN] ● Valentin Kreilinger
5: Italien und der Brexit [DE/EN] ● Eleonora Poli
Bild: Vicki Burton [CC BY-SA 2.0], via Flickr.
Dieser Artikel wie viele andere stellt "die EU" da, als wäre sie Verhandlungspartner für das Vereinigte Königreich. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr muss gefragt werden, wie reagieren die Regierungen von 27 Mitgliedstaaten auf Forderungen von einem Mitgliedstaat (der auch Teil der EU ist). Insgesamt haben alle 28 Mitgliedstaaten und ihre jeweiligen Bürger unterschiedliche Auffassungen über die EU. Es gibt keine Meinung "der EU" zu dieser Frage. Genauso wenig geht es um "Handlungsspielräume der EU". Jeder Mitgliedstaat ist aufgefordert, zu schauen wie er sich in dieser Debatte verhält. In der Aussenpolitik oder bei TTIP Verhandlungen kann eher von "EU Positionen" gesprochen werden, nicht aber bei internen Angelegenheiten, die die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten unter sich betreffen.
AntwortenLöschenDas sehe ich anders. "Die EU" ist ja nicht nur die Summe der nationalen Regierungen ihrer Mitgliedstaaten, sondern deutlich mehr: Aus institutioneller Sicht gehören dazu etwa auch die Kommission und das Europäische Parlament, die für die Umsetzung von verschiedenen der britischen Forderungen ebenfalls zustimmen müssten. Und aus politiktheoretischer Sicht versteht sich "die EU" jedenfalls nicht nur als Union ihrer Mitgliedstaaten, sondern auch als Gemeinschaft ihrer Bürger.
LöschenDass diese rund 500 Millionen Bürger nicht alle dieselbe Auffassung haben, was die EU sein und tun sollte, ist klar - aber das ist bei jeder politischen Gemeinschaft so. Von einem "Interesse der EU" zu sprechen ergibt deshalb nicht mehr und nicht weniger Sinn als von einem "nationalen Interesse": Es handelt sich dabei um ein Kollektivinteresse, das nicht objektiv gegeben ist, sondern von den Bürgern untereinander ausgehandelt werden muss. Dafür gibt es zum einen demokratische Verfahren und zum anderen die öffentliche Debatte. Und um genau das - eine öffentliche Debatte darüber, was im besten Interesse der europäischen Bürger liegt - soll es in dieser Serie gehen.
Dass dabei die britischen Bürger in den anstehenden Verhandlungen eine Doppelrolle spielen, ist offensichtlich: Sie werden sowohl (als Briten) von ihrer nationalen Regierung als auch (als Europäer) von den Institutionen der EU repräsentiert. Aber so ist das nun einmal mit den vielschichtigen politischen Identitäten in einem Mehrebenensystem...