Nun
also auch Deutschland: Am gestrigen Sonntag führte die
Bundesregierung unter Angela Merkel (CDU/EVP), die in den Tagen zuvor
dank
ihrer großzügigen Aufnahmepolitik gegenüber syrischen
Kriegsvertriebenen enorme Popularität gewonnen hatte, Kontrollen
an der Grenze zu Österreich ein – mit dem expliziten
Ziel, den Zustrom an Flüchtlingen zu begrenzen. Laut dem
bayrischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU/EVP) sollen diese
Kontrollen „mindestens einige Wochen lang“ dauern, laut
CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sogar „solange
nicht ganz konkrete Beschlüsse in Europa gefasst werden“, um
Asylbewerber neu zwischen den EU-Staaten zu verteilen.
„Schengen“
ist kein Abkommen, sondern eine EU-Verordnung
Was
die Rechtsgrundlage dieser Grenzkontrollen betrifft, blieb das
Bundesinnenministerium freilich eher vage. Bekanntlich gilt in der EU
eigentlich der „Schengener
Grenzkodex“, der systematische Kontrollen an den
innereuropäischen Grenzen verbietet. Da die wesentlichen Inhalt des
Kodex 1985 zunächst außerhalb des EU-Rechts als völkerrechtlicher
Vertrag einiger Mitgliedstaaten beschlossen wurden, ist er in den
Medien bis heute meist als „Schengener Abkommen“ bekannt.
Tatsächlich
aber wurde das Abkommen bereits mit dem Vertrag von Amsterdam 1999 in
EU-Recht überführt, sodass der Kodex heute nicht mehr die Form
eines völkerrechtlichen Vertrags, sondern einer EU-Verordnung hat.
Damit sind zwei wesentliche Implikationen verbunden, die in der
öffentlichen Debatte oft untergehen: Zum einen unterliegen die
Schengen-Regelungen inzwischen dem ordentlichen
EU-Gesetzgebungsverfahren, das heißt, sie können nur durch einen
vom Europäischen Parlament und dem Ministerrat gemeinsam
verabschiedeten Rechtsakt geändert werden.
Zum
anderen – und noch wichtiger – lässt sich der Schengener
Grenzkodex nicht einfach einseitig „suspendieren“, wie dies bei
einem völkerrechtlichen Abkommen der Fall wäre. Als EU-Verordnung
gilt er vielmehr unmittelbar und geht nationalem Recht vor. Die
Wiedereinführung von Kontrollen an innereuropäischen Staatsgrenzen
ist deshalb grundsätzlich nur im Rahmen der Ausnahmeregelungen
möglich, die im Grenzkodex selbst festgelegt sind.
Dürre
Rechtfertigung vom Bundesinnenministerium
In
der Pressemitteilung, die das deutsche Bundesinnenministerium zu den
neuen Kontrollen an der österreichischen Grenze veröffentlicht hat,
widmet es diesem Punkt allerdings nur wenige dürre Worte. Konkret
heißt es darin:
Deutschland führt in diesen Minuten vorübergehend wieder Grenzkontrollen an den Binnengrenzen ein. Der Schwerpunkt wird zunächst an der Grenze zu Österreich liegen. Ziel dieser Maßnahme ist es, den derzeitigen Zustrom nach Deutschland zu begrenzen und wieder zu einem geordneten Verfahren bei der Einreise zurückzukehren. Das ist auch aus Sicherheitsgründen erforderlich. Und so sieht es der Schengener Grenzkodex vor.
Was
aber sieht der Schengener Grenzkodex wirklich vor? Unter
welchen Umständen dürfen Mitgliedstaaten die allgemeine Freiheit
zum Übertritt der
europäischen Binnengrenzen einschränken? Und
insbesondere: Ist eine unerwartet große Zahl von Flüchtlingen, die
in kurzer Zeit in einem Land eintreffen, dafür schon Argument genug?
Schon 2011 gab es im Schengen-Raum eine Flüchtlingskrise
Tatsächlich
war genau diese Frage vor
vier
Jahren schon einmal ein großes Thema für
die Europäischen Union. Mit
dem arabischen Frühling und
den darauffolgenden politischen Wirren in Nordafrika verstärkte sich
2011 der
Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer, was
in Italien –
das nach
der Dublin-Verordnung als
Erstankunftsstaat für die
Bearbeitung der Asylanträge
zuständig wäre – zu einer akuten Überlastung führte.
In der Hoffnung, dass die Flüchtlinge in andere EU-Staaten weiterreisen würden, begann die italienische Regierung unter Silvio Berlusconi (PdL/EVP) daraufhin, Touristenvisa auszustellen. Darauf wiederum reagierte die französische Regierung unter Nicolas Sarkozy (UMP/EVP) mit der Wiedereinführung von Kontrollen an der Grenze zu Italien. Und auch die dänische Regierung von Lars Løkke Rasmussen (V/ALDE), zu dieser Zeit im Wahlkampf und unter Druck des rechtspopulistischen Koalitionspartners, nutzte die Gelegenheit, um vorübergehend die Reisefreiheit aufzuheben – obwohl es dafür keinerlei konkreten Anlass gab.
In der Hoffnung, dass die Flüchtlinge in andere EU-Staaten weiterreisen würden, begann die italienische Regierung unter Silvio Berlusconi (PdL/EVP) daraufhin, Touristenvisa auszustellen. Darauf wiederum reagierte die französische Regierung unter Nicolas Sarkozy (UMP/EVP) mit der Wiedereinführung von Kontrollen an der Grenze zu Italien. Und auch die dänische Regierung von Lars Løkke Rasmussen (V/ALDE), zu dieser Zeit im Wahlkampf und unter Druck des rechtspopulistischen Koalitionspartners, nutzte die Gelegenheit, um vorübergehend die Reisefreiheit aufzuheben – obwohl es dafür keinerlei konkreten Anlass gab.
Wenig
später war der Spuk zwar wieder vorbei: Italien
und Frankreich kamen zu einer Einigung, und Løkke
Rasmussen verlor
die Wahl, woraufhin die neue Regierung Thorning Schmidt (S/SPE) die
Kontrollen wieder aufhob.
Dennoch
machte der Vorfall klar, dass die Bestimmungen im Schengener
Grenzkodex,
nach denen jeder
Mitgliedstaat
„im
Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder
inneren Sicherheit“
nach
eigener Entscheidung wieder Kontrollen einführen durfte, zu
missbrauchsanfällig
waren.
Die
Schengen-Reform von 2012
Ein
Jahr später kam
es deshalb zu einer großen Reform des
Kodex (über
die ich damals hier,
hier
und hier
ausführlich geschrieben habe). Ziel
war dabei, die Bedingungen für die Wiedereinführung
von Grenzkontrollen klarer
zu fassen. Wie
das genau aussehen sollte, war zwischen den nationalen Innenministern
einerseits und der Kommission sowie dem Europäischen Parlament
andererseits umstritten. Zuletzt
aber einigte man sich auf einen Kompromiss, der bis heute gilt und
sich hier
im Wortlaut nachlesen lässt.
Im
Einzelnen blieb es dabei bei der schwammigen Formulierung, die eine
Wiedereinführung von Grenzkontrollen erlaubt, wenn „die
öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem
Mitgliedstaat ernsthaft bedroht“ ist – jedoch
nur
„als letztes Mittel“ sowie nach
vorheriger Konsultation
mit
der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten (Art.
24
Grenzkodex).
In
Fällen, in denen „sofortiges Handeln“ nötig ist, kann diese
Konsultation auch
entfallen.
Allerdings
müssen die Grenzkontrollen dann zunächst auf zehn Tage beschränkt
bleiben und können maximal auf zwei Monate verlängert werden (Art.
25 Grenzkodex).
Einwanderung
allein ist keine Gefahr für die öffentliche Ordnung
Aber
was bedeutet das nun, wenn auf einmal eine große Anzahl Flüchtlinge
durch die EU reist? Auch hierzu gab die Schengen-Reform, deren Anlass
ja gerade so eine Flüchtlingskrise gewesen war, eine Antwort. In den
Erwägungsgründen 5 und 6 der
Änderungsverordnung heißt es dort
explizit:
(5) Migration und das Überschreiten der Außengrenzen durch eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen sollte nicht an sich als Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit betrachtet werden.(6) Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist eine Abweichung vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit eng auszulegen und setzt der Rückgriff auf den Begriff der öffentlichen Ordnung auf jeden Fall voraus, dass eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
Unter den
Voraussetzungen der Jahre 2011/12 lässt sich diese Formulierung
natürlich als Kritik an der französischen
und dänischen Regierung verstehen, die
damals die
Flüchtlingskrise in Italien vorschnell
als Anlass für
einseitige Kontrollmaßnahmen
ergriffen hatten: Dass
in kurzer Zeit viele Menschen
aus anderen Ländern in Europa eintreffen, kann
für sich allein noch kein Grund sein, die
Reisefreiheit im Schengen-Raum zu beschränken – umso
mehr als für Asylanträge ja (wenigstens
in der Theorie) nach der Dublin-Verordnung
ohnehin immer der Erstankunftsstaat
zuständig ist.
Die Binnengrenzen sind Angelegenheit der ganzen EU
Was
nun aber, wenn die
Erstankunftsstaaten ihren
Aufgaben nicht nachkommen, etwa
weil
sie mit
der Registrierung von Asylbewerbern überfordert
sind oder weil
sie schlicht
die Kosten für
das Asylverfahren
an
andere Mitgliedstaaten abwälzen
wollen?
Nun,
auch dafür
hat
der reformierte Grenzkodex eine Antwort:
Wenn
„aufgrund anhaltender
schwerwiegender Mängel bei den Kontrollen an den Außengrenzen […]
das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen
insgesamt gefährdet ist“, muss zunächst
geprüft werden,
ob dem Problem auch durch Hilfsmaßnahmen
der EU-Grenzschutzagentur
Frontex, des Europäischen
Unterstützungsbüros für Asylfragen EASO oder des
Europäischen
Polizeiamts
Europol abzuhelfen ist. Wenn nicht, ist
auch in diesem Fall die
Einführung von Kontrollen
an
den Binnengrenzen gestattet
(Art. 26 Grenzkodex).
Die
Entscheidung hierüber liegt
jedoch – und
dies war ein Kernbestandteil der Schengen-Reform – nicht
bei den einzelnen Mitgliedstaaten. Vielmehr
muss der Vorschlag dafür
von der Europäischen Kommission ausgehen und
anschließend vom EU-Ministerrat
beschlossen werden. Als obligatorische
Grundlage dient dabei der sogenannte
„Schengener
Evaluierungsmechanismus“, der ebenfalls mit der Reform neu
eingeführt wurde. Dahinter
stand eine klare
politische Aussage: Die Reisefreiheit
im Schengen-Raum und die damit verbundene
Kontrolle der Außengrenzen sind
eine gemeinsame Angelegenheit der gesamten
EU – und nichts, worüber die einzelnen
nationalen Regierungen nach Gutdünken
verfügen könnten.
Die
jüngste Krise des Dublin-Systems
Und
heute? Die
Entwicklungen der letzten Wochen waren ohne
Zweifel ein monumentaler Stresstest für die Schengen-Reform, und
wie es aussieht, kein
erfolgreicher. Auslöser
war dabei wie 2011 eine Krise des Dublin-Systems,
nach der Flüchtlinge nur im Erstankunftsstaat
einen
Asylantrag stellen können. Aufgrund
der Kriege im Nahen Osten nahm die Zahl der Vertriebenen in kurzer
Zeit enorm zu,
was
zu einer massiven
Überforderung Griechenlands,
Italiens und Ungarns führte.
Ein erster
Vorschlag der
Kommission, dem
durch die Umverteilung von 40 000 Asylbewerbern auf die übrigen
Mitgliedstaaten abzuhelfen, scheiterte am Widerstand mehrerer
nationaler Regierungen.
Anfang
September erklärte die
deutsche
Bundesregierung
daraufhin,
sie
würde
syrische
Migranten
entgegen
der Dublin-Verordnung nicht
mehr
in andere EU-Staaten zurückzuschicken. Dies
führte
dazu,
dass
noch mehr Flüchtlinge versuchten, die
Erstankunftsstaaten Richtung Deutschland zu verlassen. Auch
dass
die Bundesregierung hinterher klarstellte, sie
habe sich nur auf
solche Syrer bezogen, die sich
bereits
zuvor in Deutschland befunden
hätten, konnte
die Wanderungsbewegung nicht mehr stoppen.
Faktisch ist die Dublin-Verordnung damit derzeit schlicht nicht mehr durchsetzbar.
Die Kommission reagierte mit einem neuen Umverteilungsvorschlag, diesmal
für 160 000 Asylbewerber, um
die drei hauptbetroffenen Staaten zu entlasten.
Nachdem
das Europäische Parlament diesen Vorschlag bereits
positiv
aufgenommen
hat,
wird er
heute
vom
Innenministerrat diskutiert; doch
vor
allem aus den östlichen Mitgliedstaaten kommt dagegen weiter
Widerstand.
Domino-Effekt einseitiger Aktionen
Dass Deutschland unmittelbar vor diesem Ratstreffen einseitig
Grenzkontrollen
einführt, verstößt
offensichtlich gegen den Geist der
Schengen-Reform:
Da
das Problem ja durch
eine Krise an den Außengrenzen verursacht wurde, wären
eher gemeinsame
Maßnahmen
nach Art. 26 Grenzkodex
angebracht.
Um darüber
zu sprechen
–
und
die
notwendigen Kontrollen dann,
wenn man sie
tatsächlich
für
notwendig
erachtet, gemeinschaftlich
zu beschließen –, wäre
das Ratstreffen genau
das richtige Forum gewesen.
Stattdessen
beruft
sich
die Bundesregierung offenbar auf Art. 25
Grenzkodex,
die
Notwendigkeit „sofortigen Handelns“ wegen einer Gefährdung der
inneren Sicherheit – und
löste
damit einen
Domino-Effekt
mit weiteren
einseitigen
Aktionen anderer Mitgliedstaaten aus. In
den letzten Stunden jedenfalls führten auch die Niederlande,
Tschechien, Polen und
die Slowakei wieder
Grenzkontrollen ein, Dänemark und Österreich hatten diesen Schritt
schon zuvor vollzogen. Außer
Dublin ist damit auch das Schengen-System akut in einer tiefen Krise.
Alles
nur ein politisches Druckmittel?
Wird
es daraus
wieder
herausfinden? Verschiedentlich
ist
zuletzt die Vermutung zu hören, dass die deutschen
Grenzkontrollen letztlich nur als politischen Druckmittel vor der
heutigen Ratssitzung dienen sollten: Indem
die Bundesregierung signalisiert, dass sie gegebenenfalls bereit ist,
ihre nationalen Grenzen abzuriegeln, sollen
die östlichen Mitgliedstaaten dazu gebracht werden, doch noch die
von der Kommission vorgeschlagene Asylbewerber-Umverteilung
zu akzeptieren.
Sobald diese erst einmal beschlossen ist, würde
sich die Lage europaweit entspannen, und sowohl
Dublin als auch Schengen hätten
wieder
eine Zukunft.
Aber selbst wenn dem so sein sollte: Der
Idee eines europäischen
Raumes ohne Binnengrenzen hat
die Bundesregierung schon jetzt
durch ihr einseitiges Vorgehen einen
Bärendienst erwiesen.
Die zentrale
Logik
der Schengen-Reform vor
drei Jahren bestand
darin, die Verantwortung für die zeitweise Wiedereinführung von
Binnengrenzkontrollen von
der nationalen auf die EU-Ebene zu heben. Deutschland
jedoch hat
gezeigt, dass es solche Entscheidungen nach wie vor lieber
alleine trifft.
Und was fast noch trauriger ist: Die
Europäische Kommission scheint das noch nicht einmal zu stören.
Bild: von Mike Knell from Zürich, Switzerland (Grenze) [CC BY-SA 2.0], via Wikimedia Commons.
Schöner Beitrag, danke.
AntwortenLöschenDie Frage ist aber auch, was die Folgen von Grenzkontrollen sein sollen. Es dürfte juristisch kaum ertretbar sein, die Flüchtlinge abzuweisen. Bei dem größten Teil der Flüchtlinge (Syrer) macht Deutschland ohnehin von seinem Selbsteintrittsrecht nach Dublin gebrauch, sodas es die Asylverfahren selbst durchführt. Andere Flüchtlinge dürfe aber auch nur in das Land des Ersteintritts zurückgeschoben warden. Ersteintrittsland war aber wohl kaum Österreich. Damit scheint mir aber die Abweisung an der deutschen Grenze rechtswidrig.Grenzkontrollen sind also nur dann sinnvoll, wenn sie rechtswidrig durchgeführt werden. Seltsam ist, dass de Österreicher darauf nicht entsprechend reagiert haben.
Dem Dank für den Beitrag (ja, nicht nur für diesen) schließe ich mich an. Es ist immer wieder erhellend, auf den Boden der (Rechts-)Tatsachen gebracht zu werden.
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