- David Cameron und Alexis Tsipras stellen die EU vor Herausforderungen. Aber ihre Fälle sind nicht identisch.
Eine
Karikatur
in der aktuellen Ausgabe des Economist bringt
es auf den Punkt: David Cameron (Cons./AECR)
ist darin als stolzer Ritter zu sehen, der hoch
zu Ross in geschwungener
Sprache verkündet, nach seinem jüngsten Wahlsieg hätten „Angela
Merkel und ihre EU-Freunde“ jetzt gar keine andere Wahl, als ihre
Niederlage einzugestehen und sich auf Neuverhandlungen
über den Status von Großbritannien in der EU einzulassen. Ihm
entgegen kommt Alexis Tsipras (Syriza/EL), durchgeprügelt und mit gebrochener Lanze: „Du bist
dran, Kumpel.“
Es liegt nahe, die Rollen, die der britische und der griechische Premierminister derzeit in der EU spielen, miteinander zu vergleichen. Der nationalkonservative Cameron und der linke Tsipras sind die einzigen Regierungschefs im Europäischen Rat, die nicht der informellen Großen Koalition aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen angehören. Beide wurden in den letzten Monaten in heftig umkämpften nationalen Wahlen ins Amt gewählt (Tsipras) oder entgegen allen Umfragen darin bestätigt (Cameron). Beide schlugen in ihrem Wahlkampf auch europakritische Töne an und versprachen ihren Wählern, durch eine harte Linie gegenüber den anderen EU-Mitgliedstaaten einen besseren Deal für ihr jeweiliges Land aushandeln zu wollen. Und beide ließen sich damit auf ein Feiglingsspiel ein, an dessen Ende der Austritt stehen könnte: aus der Eurozone im Fall Griechenlands, aus der ganzen EU im Falle Großbritanniens.
Zwei
Austrittsreferenden
Tatsächlich könnte es in den nächsten anderthalb Jahren in beiden Ländern zu einem Referendum kommen, in dem explizit oder implizit über genau diesen Austritt abgestimmt wird. Was Großbritannien betrifft, ist das wohl unausweichlich. Unter dem Druck der rechtspopulistischen UKIP (ADDE) und der Europaskeptiker in seiner eigenen Partei hat Cameron eine Volksabstimmung über den „Brexit“ schon Anfang 2013 in sein Programm aufgenommen. Als Termin dafür strebt die britische Regierung offenbar Sommer oder Herbst 2016 an.
Ob Cameron selbst dann einen Austritt oder einen Verbleib in der EU unterstützen wird, macht er davon abhängig, ob sich die übrigen Mitgliedstaaten auf eine Reihe von Forderungen einlassen, die er Ende Juni auf dem Europäischen Rat präsentieren will. In seiner „Vision für eine neue Europäische Union“, die er 2013 zusammen mit dem Referendumsplan ankündigte (Wortlaut),
ging es unter anderem
darum, die Kompetenzen der supranationalen Institutionen
einzuschränken und die
nationalen Parlamente als
„die wahre Quelle echter demokratischer Legitimität und
Verantwortlichkeit in der EU“ ins
Zentrum der europäischen
Politik zu stellen.
Darüber hinaus forderte
die britische Regierung zuletzt vor
allem eine Einschränkung der Unionsbürger-Freizügigkeit.
Ob sich der Rest der EU
darauf einlassen wird, ist allerdings
fraglich.
Griechische
Volksabstimmung über die Kreditbedingungen
Im Falle Griechenlands ist die Lage noch etwas komplizierter. Der Austritt aus der Währungsunion, der „Grexit“, steht dort offiziell überhaupt nicht zur Debatte. Allerdings lehnt die Regierung Tsipras bislang die Bedingungen ab, mit denen die Hilfskredite verknüpft waren, die die übrigen Mitgliedstaaten Griechenland in der Eurokrise gewährten. Da ihr Versuch einer Neuverhandlung im Europäischen Rat jedoch weitgehend erfolglos blieb, brachten im März erst der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis und Ende April dann auch Tsipras selbst ein Referendum ins Gespräch. Die griechische Bevölkerung solle dann selbst darüber abstimmen, ob sie die Forderungen der Kreditgeber akzeptiert oder nicht.
Sollte die Volksabstimmung negativ ausgehen, wäre allerdings nicht nur der griechische Staat bankrott. Auch die griechischen Privatbanken könnten die Staatsanleihen ihres Landes dann nicht mehr nutzen, um sich bei der Europäischen Zentralbank zu refinanzieren. Um eine katastrophale Pleitewelle zu verhindern, gäbe es deshalb womöglich keinen anderen Ausweg, als dass die nationale Zentralbank auf eigene Faust einspringt. Das aber wäre faktisch der „Grexit“, den offiziell niemand will.
Was genau Tsipras und Varoufakis mit dem Referendum anstreben, ist unklar. Einerseits kann es als Druckmittel gegen die EU dienen, Griechenland keine härteren Bedingungen abzuverlangen, als die griechische Bevölkerung tatsächlich zu tragen bereit ist. Andererseits könnte es der griechischen Regierung aber auch helfen, um selbst eine Kehrtwende einzuleiten und den Widerstand des Hardliner-Flügels innerhalb der Syriza zu brechen. Auch in der Eurogruppe ist man sich deshalb über den Vorschlag uneins: Während der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) ein Referendum unterstützt, lehnt der Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem (PvdA/SPE) es ab.
Nachgeben
oder hart bleiben?
Zwei nationale Referenden also, in denen die Integrität der Europäischen Union bzw. der Eurozone auf dem Spiel steht: Natürlich zwingt das auch die EU als Ganze dazu, Position zu beziehen. Soll sie nachgeben, um Großbritannien und Griechenland mit an Bord zu halten? Oder soll sie hart bleiben, weil es nicht angehen kann, dass einzelne Mitgliedstaaten die Union mit Austrittsdrohungen erpressen?
Immerhin haben die europäischen Institutionen, die die bisherige politische Linie der EU beschlossen haben, ihre eigene Legitimation: Das Europäische Parlament ist bei der Europawahl gewählt worden, der Ministerrat repräsentiert die nationalen Regierungen aller Mitgliedstaaten und die Kommission wurde von Parlament und Ministerrat gemeinsam ernannt. Wenn der Kommissions-Vizepräsident für Wirtschaft Jyrki Katainen (Kok./EVP) kurz nach der griechischen Parlamentswahl im Januar erklärte, dass die Kommission „ihre Politik nicht in Abhängigkeit von [nationalen] Wahlen ändert“, so klingt das zwar auf Anhieb nicht besonders demokratisch. Letztlich aber verbirgt sich dahinter nur die Erkenntnis, dass die Kommission eben nicht den Wählern eines einzelnen Landes dienen soll, sondern den Bürgern der Europäischen Union insgesamt.
Andererseits liegt der ganze Sinn der europäischen Integration ja vor allem darin, die Europäer zu vereinen. Wenn die Bevölkerung eines Mitgliedstaates nun aber so unzufrieden mit der gemeinsamen Politik ist, dass sie lieber aus der Union austreten würde als ihr weiter zu folgen, muss das dann nicht auch für die EU als Ganzes ein Alarmzeichen sein? Sollte sie dann nicht auch selbst zu Kurskorrekturen bereit sein, um wieder die Grundlagen für ein politisches Miteinander zu schaffen?
Was unterscheidet Griechenland und Großbritannien?
Wer dieses Blog regelmäßig liest, wird feststellen, dass ich diese Frage in vergangenen Artikeln für Griechenland und Großbritannien unterschiedlich beantwortet habe. Schon kurz vor Camerons erster Referendumsankündigung schrieb ich hier Anfang 2013, dass ein britischer Austritt zwar schlecht,
aber nicht das Schlechteste wäre, und die EU sich deshalb nicht auf die Forderungen der britischen Regierung einlassen dürfe. Der drohende griechische Euro-Austritt hingegen erschien mir schon 2012 nicht
nur als griechisches, sondern als gesamteuropäisches Versagen. Und erst kürzlich war hier zu lesen, dass die EU zwar nicht gerade dem Syriza-Kurs folgen, aber doch jedenfalls die Fehler, die sie in der Griechenland-Krise gemacht hat, offen
eingestehen und korrigieren sollte.
Wie aber ist dieser Gegensatz zu erklären? Warum wäre der Brexit nur bedauernswert, der Grexit aber ein Debakel für ganz Europa?
Policy
und Polity
Was in meinen Augen den wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Ländern ausmacht, ist die Art der Forderungen, die die Regierungen der beiden Länder jeweils erheben. Die Unzufriedenheit in Griechenland nämlich richtet sich nicht gegen die Europäische Union als solche, sondern gegen deren politischen Kurs in einem einzelnen, spezifischen Politikfeld – eben das Ausmaß der Sparmaßnahmen, die dem Land im Gegenzug zu den Hilfskrediten in der Eurokrise abverlangt wurden.
Den Europaskeptikern, die den politischen Diskurs in Großbritannien prägen, ist hingegen die Funktionsweise des europäischen politischen Systems insgesamt ein Dorn im Auge: die Verlagerung von Hoheitsrechten auf eine überstaatliche Union und die Vorstellung, dass Demokratie nicht nur auf einzelstaatlicher Ebene möglich ist, sondern auch das Europäische Parlament dank der Europawahl eine eigene politische Legitimität besitzt. Stattdessen drängt die britische Regierung darauf, nationale Souveränitätsrechte zurückzugewinnen. 95 konservative Abgeordnete forderten Anfang 2014 gar ein
generelles
britisches Vetorecht gegen jeglichen europäischen Beschluss.
Würden die übrigen Mitgliedstaaten sich auf den griechischen Kurs einlassen, so würden die Lasten der Eurokrise etwas anders verteilt; die Währungsunion aber könnte wie bisher weiterexistieren. Die britischen Forderungen hingegen würden das Wesen der EU selbst verändern. Politikwissenschaftlich formuliert: Während der Konflikt um Griechenland nur eine policy betrifft, geht es in
der Auseinandersetzung mit Großbritannien um die polity der Europäischen Union.
Die
EU muss Gegensätze in Sachfragen aushalten können
Eine anhaltende und tiefgreifende Uneinigkeit über die Art, wie das politische System funktionieren soll, erscheint mir tatsächlich ein guter und nachvollziehbarer Grund, um über einen Austritt nachzudenken. Der Supranationalismus – die Idee einer gesamteuropäischen Demokratie, aber auch gesamteuropäischer Bürgerrechte wie der Freizügigkeit – ist als Verfassungsprinzip zu wichtig, um auf dem Altar der britischen Mitgliedschaft geopfert zu werden. Wenn die britische Bevölkerung nicht bereit ist, diesen Weg mitzugehen, könnte ein einvernehmlicher Brexit für beide Seiten das Beste sein.
Anders sähe es hingegen aus, wenn in Griechenland die bloße Diskrepanz über spezifische politische Maßnahmen zum Euro-Austritt führen sollte. Jedes funktionierende politische System muss interne Gegensätze in policy-Fragen aushalten können, ohne daran zu zerbrechen. Dass die europäische Währungsunion genau dazu offenbar nicht in der Lage ist, habe ich hier vor einigen Wochen als die tiefere Ursache für die Eskalation des Griechenland-Streits beschrieben.
Sollte es deshalb zuletzt tatsächlich zum Grexit kommen, so läge der Grund dafür nicht allein in dem Konflikt über die Bedingungen der Hilfskredite. Vielmehr wäre er ein Zeichen für die systemische Unfähigkeit der EU, politische Opposition demokratisch zu kanalisieren – und damit ein Fanal für alle künftigen Fälle, in denen eine Minderheit der Europäer nicht bereit ist, den Kurs der Mehrheit mitzutragen.
Allzu
wahrscheinlich ist ein Austritt nicht
Wenn man den Umfragen Glauben schenken darf, so würde derzeit eine
deutliche Mehrheit der Briten bei einem Referendum für eine
weitere Mitgliedschaft in
der EU stimmen. Und
auch in Griechenland wollen
gut
drei Viertel der Bevölkerung in der Währungsunion verbleiben
(und fast zwei Drittel lehnen es ab, überhaupt in einer Volksabstimmung zu den Hilfskrediten befragt zu werden). Allzu wahrscheinlich ist ein Austritt also in keinem der beiden Fälle.
Und doch sollten wir Europäer die möglichen Austrittsreferenden in Griechenland und Großbritannien zum Anlass nehmen, um uns darüber bewusst zu werden, was uns an der Europäischen Union eigentlich wirklich wichtig ist: an welcher Stelle wir die rote Linie ziehen, über die wir nicht zu verhandeln bereit sind – und in welchen Bereichen wir Verfahren entwickeln müssen, die politische Vielfalt erlauben, ohne gleich den Zusammenhalt des politischen Systems als Ganzes zu gefährden.
Bild: By European Council [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
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