- Ed Miliband (Labour/SPE) will Mitglied des Europäischen Rates werden. Aber das allein wird die Probleme zwischen London und Brüssel auch nicht lösen.
Referendumsbefürworter
haben keine Mehrheit im Parlament
Um
es kurz zu sagen: Im Moment sieht es nicht danach aus. Denn die Parteien, die ein
Referendum befürworten, könnten zwar auf eine absolute Mehrheit der
Stimmen kommen; von
einer Mehrheit der 650 Sitze
im Parlament aber sind sie aufgrund des britischen
Mehrheitswahlrechts weit entfernt. Aktuelle
Kalkulationen sehen die Conservatives bei etwa 270-290
Mandaten,
UKIP bei drei bis fünf und die Greens bei einem einzigen.
Demgegenüber
kommt die Labour Party (SPE) unter Ed Miliband nach den aktuellen Umfragen
ebenfalls auf 270-280 Sitze. Das
Zünglein an der Waage für die Regierungsbildung werden deshalb wohl
die Liberal Democrats (ALDE) sowie die
Scottish Nationalist Party (EFA) sein.
Die LibDem können mit rund 8 Prozent der
Stimmen und etwa 25-30 Sitzen rechnen; die
SNP kommt nur auf etwa 4 Prozent der
Stimmen, die sich aber alle
im schottischen Landesteil ballen und deshalb in etwa 45-50
Wahlkreisen für einen Sitzgewinn genügen werden.
Beide
Parteien stehen Labour politisch
näher als den Conservatives
– auch
wenn die LibDem seit 2010
eine Regierungskoalition mit
Cameron bilden.
Das
derzeit wahrscheinlichste Szenario für
die Zeit nach dem 7. Mai
ist deshalb eine Labour- oder
Labour/LibDem-Regierung, die
von
der SNP toleriert wird. Alle
drei Parteien aber lehnen ein Referendum
über die britische
EU-Mitgliedschaft
wenigstens für die nächsten
Jahre ab.
Also
alles in Butter? Wohl kaum.
Denn auch
wenn der Brexit nach der Wahl
wohl erst einmal von der Tagesordnung abgesetzt wird, bleibt der Europadiskurs auf der Insel vergiftet. Und auf den zweiten Blick zeigen die europapolitischen Positionen der großen britischen Parteien mehr Ähnlichkeiten, als der Wahlkampf vermuten lässt.
Auch Cameron will keinen Austritt
Denn zum einen schließt auch die
Labour Party ein Referendum nicht pauschal aus. Anfang 2014 erklärte
ein Sprecher der Partei lediglich, dass es „nicht dem britischen nationalen Interesse“ entspräche, „sich jetzt auf ein Austrittsreferendum im Jahr 2017 festzulegen“. Eine innerparteiliche Gruppierung namens Labour
for a Referendum setzt sich bereits seit 2013 für eine
Volksbefragung über die weitere EU-Mitgliedschaft ein. Und das Wahlprogramm,
mit dem sich Labour für den 7. Mai präsentiert, kritisiert zwar scharf Camerons Pläne – verspricht dann aber, dass auch Labour keine weitere Übertragung von Kompetenzen an Brüssel zulassen werde, ohne ein britisches Austrittsreferendum
durchzuführen.
Und
zum anderen haben auch die Conservatives nicht den EU-Austritt an sich zu ihrem Ziel erklärt. In seiner Rede von Januar 2013 (Wortlaut) zielte Cameron vielmehr vor allem darauf ab, seine eigene „vision for a new European Union, fit for the 21st Century“ zu präsentieren, die sich allein auf den Binnenmarkt konzentrieren und andere Kompetenzen an die Mitgliedstaaten zurückgeben sollte und deren Legitimität sich allein auf die nationalen Parlamente stützen würde. Sollten die anderen Mitgliedstaaten
zu einer solchen Reform nicht bereit sein, wolle Großbritannien wenigstens für sich allein neue Ausnahmeregelungen erhalten – eine Forderung, die sich so auch im Wahlprogramm der Partei wiederfindet.
Schlüsselbegriff
„EU-Reform“
Anders
als die UKIP, die sich tatsächlich für einen Austritt aus der EU
einsetzt, will Cameron das Referendum also nur als Hebel, um Druck auf die anderen Mitgliedsregierungen auszuüben und
die von ihm gewünschte Vertragsänderung durchzusetzen. Der zentrale
Begriff für die Conservatives lautet nicht „EU-Austritt“, sondern „EU-Reform“ – eine
Reform freilich, die die britischen nationalen Interessen in
den Mittelpunkt stellen und die europäische Demokratie schwächen würde. Tatsächlich
trägt die von Cameron maßgeblich vorangetriebene Europapartei der Conservatives, die Allianz der
Europäischen Konservativen und Reformisten (AECR), dieses Schlüsselwort sogar im Namen.
Aber
was sagen Labour und die Liberal Democrats dazu? Sieht
man von der Referendumsfrage ab, so könnte es kaum eine größere Übereinstimmung mit den Forderungen der Conservatives geben. Auch
die Labour Party spricht in ihrem Wahlprogramm lediglich davon, dass es
Großbritannien „at the heart of
a reformed EU“ besser gehe als außerhalb. Die Partei verspricht ihren Wählern deshalb, „[to] make the
hard-headed, patriotic case […] for reform in Europe“, und zwar mit dem Ziel „to make it work better for Britain“.
Und
auch die LibDem, traditionell
die europafreundlichste Gruppierung im britischen Parteienspektrum, sprechen von einer „EU reform“ mit
dem Ziel eines „better settlement for Britain“. Wie das genau aussehen würde, lässt die Partei zwar weitgehend offen. Auch sie spricht aber nicht
von europäischer Demokratie, sondern nur von mehr Macht für die nationalen Parlamente. Am Ende scheint es jedenfalls auch den LibDem nur um das eigene Land zu gehen: „We want a more productive Europe which supports British values, British jobs
and the British national interest.“
Einwanderungspolitik
und europäische Freizügigkeit
Die
Ähnlichkeiten zwischen den
Wahlprogrammen setzen sich fort, wenn man die Vorschläge zur
künftigen Gestaltung der britischen Einwanderungspolitik betrachtet.
Dabei handelt es sich nicht nur um das aus Sicht der britischen
Wähler derzeit
wichtigste politische Thema überhaupt, sondern auch um eine
notorische Streitfrage zwischen der Europäischen Kommission und der
britischen Regierung, die Ende 2013 massive
Einschränkungen der europäischen Freizügigkeit forderte.
Konkret
verlangte
Cameron vor einigen Monaten unter anderem, zugewanderten Unionsbürgern für mehrere Jahre den Zugang zu den
britischen Sozialleistungen
zu versperren sowie kriminelle Unionsbürger leichter abschieben zu können. Sollten diese Forderungen in der EU nicht durchsetzbar
sein, so könne er in
Bezug auf einen britischen EU-Austritt für
nichts garantieren.
Und
was steht dazu im Labour-Wahlprogramm? Genau: Die Partei fordert eine
Reform des europäischen Freizügigkeitsrechts, „so
that people coming to the UK have to wait longer to receive benefits
and making it easier to deport those who commit crimes“. Der zentrale Unterschied besteht
offenbar nur darin, dass die Conservative Party eine vierjährige, Labour hingegen nur eine zweijährige Frist
fordert, bevor Unionsbürger Sozialleistungen erhalten können. Was
die Stoßrichtung des Vorschlags und die
dahinterliegende Argumentationsweise betrifft, scheint es hingegen, als hätte die
Partei von Ed Miliband in diesem Punkt einfach das Programm der Regierung übernommen, die sie am
7. Mai abzulösen plant.
Der
britische Europadiskurs verengt sich
Aller Voraussicht nach wird der Brexit nach der Unterhauswahl erst einmal nicht mehr auf der Tagesordnung stehen – aber sehr
viel einfacher dürfte das Verhältnis zwischen London und Brüssel wohl auch unter einer Labour-Regierung nicht werden. Wenn die
Partei in ihrem Wahlprogramm Cameron vorwirft, er sei „sleepwalking Britain to the exit from the European Union“, dann lässt
sich das womöglich auf die gesamte britische Politik übertragen.
Seitdem Margaret Thatcher in den 1980er Jahren das engstirnige Beharren auf der nationalen Souveränität salonfähig
machte, hat sich das argumentative Feld im britischen europapolitischen Diskurs immer weiter verengt. Den Befürwortern einer verstärkten
Integration ist es niemals gelungen, dagegen ein eigenes, europafreundliches Narrativ zu entwickeln. Stattdessen konzentrierten sie sich darauf, die Vorteile einer
Mitgliedschaft in der EU aus Sicht des nationalen Interesses aufzuzählen: etwa die britischen Arbeitsplätze, die durch den europäischen Binnenmarkt entstünden, oder der Verlust an internationalem Einfluss, den Großbritannien bei einem EU-Austritt erleiden würde.
Bezeichnenderweise trägt die wichtigste britische Lobby-Gruppe, die sich für einen Verbleib des Landes in der EU ausspricht, den
Namen British Influence. In ihrem Internetauftritt bezeichnet sie
sich selbst als „the campaign to keep Britain in a reformed EU“. Das Schlüsselwort der europaskeptischen
Konservativen, es hat in Großbritannien sogar den Diskurs der Proeuropäer erobert.
Cameron
will den UKIP-Wählern schmeicheln
Und wie groß sind die Hoffnungen, dass sich diese Entwicklung in absehbarer Zeit ändert? Erst einmal dürfte
alles wohl eher noch schlimmer werden. Für die europaskeptische UKIP könnte die Unterhauswahl zwar ein
Debakel werden: Dass sie trotz des absehbaren großen Stimmenzuwachses höchstens auf eine Handvoll Mandate kommen wird, wird
ihren Wählern verdeutlichen, dass diese Partei mit dem geltenden britischen Wahlrecht auf absehbare Zeit keine reale Machtperspektive
hat.
Auf der anderen Seite weiß aber natürlich auch die Conservative Party, dass ihre Wahlaussichten nicht zuletzt deshalb so schlecht sind, weil viele ihrer ehemaligen Wähler ihre Stimme derzeit lieber der UKIP geben wollen. Vor einigen Tagen wandte sich Cameron deshalb in einer Wahlkampfrede schmeichelnd an die Sympathisanten der Nationalpopulisten, äußerte
Verständnis für deren Positionen in der Einwanderungs- und Europapolitik und versprach, in Zukunft stärker auf ihre Wünsche einzugehen. Gleichgültig,
ob Cameron die Wahl letztlich gewinnt oder verliert: Es ist überaus wahrscheinlich, dass der Kurs der Conservatives in den nächsten Jahren schon aus taktischen
Gründen noch stärker auf die nationale Souveränität ausgerichtet sein wird.
Der
Ball liegt bei Labour
Am Ende wird der Ball dann bei Labour und den LibDem liegen. Sie
können einerseits ihre Strategie fortsetzen, mit ihren europapolitischen Positionen jeweils gerade ein Quäntchen gemäßigter als die Conservatives aufzutreten, ansonsten aber die Argumente ihrer Gegner zu übernehmen und einer grundsätzlichen Debatte aus dem Weg zu gehen. In diesem Fall wird Großbritannien wohl weiter dem Austritt
entgegentaumeln: ein Hindernis für weitere Einigungsschritte, zugleich aber weitgehend isoliert und unfähig, auf europäischer Ebene seine Forderungen durchzusetzen.
Oder aber die Labour Party ringt sich auch gegenüber der britischen Öffentlichkeit zu der Erkenntnis durch, dass die EU eben nicht dem nationalen Interesse Großbritanniens (oder irgendeines anderen Mitgliedstaates) dienen soll, sondern den europäischen Bürgerinnen und
Bürgern, die in ihrer Lebensgestaltung immer häufiger nationale Grenzen überschreiten und die über gemeinsame Angelegenheiten in einem gemeinsamen demokratischen Gemeinwesen entscheiden wollen. Und dass diese EU zwar Reformen braucht, aber sicher nicht die, von denen David Cameron spricht.
Und
wenn es doch ein Referendum gäbe?
Übrigens: Seit einigen Jahren gibt es in Großbritannien regelmäßige Umfragen
darüber, wie sich die Wähler bei einem möglichen EU-Referendum entscheiden würden. Bis Anfang 2014 zeigte
sich dabei fast immer dasselbe Schema: Sollte es der britischen Regierung gelingen, sich in hypothetischen Vertragsverhandlungen
mit ihren Forderungen durchzusetzen, so wollte eine Mehrheit der Befragten für den Verbleib in der EU stimmen; andernfalls für den Austritt. Seit
etwa einem Jahr hingegen hat sich dieses Bild geändert. Befragt man die Briten heute über ein mögliches Austrittsreferendum, so ist in den meisten Umfragen eine Mehrheit dafür, die EU-Mitgliedschaft fortzusetzen – unabhängig davon, ob es Nachverhandlungen gibt oder nicht.
Mehr nationale Souveränität zu fordern, muss eben auch nicht immer eine Sieger-Strategie sein. Und manchmal wandelt sich die Gesellschaft womöglich schneller, als die Politik vermutet.
Nachtrag, 14.4.2015: Die oben zitierten Passagen stammen aus den verlinkten programmatischen Texten, die die britischen Parteien zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels auf ihren jeweiligen Homepages eingestellt hatten. Inzwischen sind darüber hinaus die offiziellen Wahlmanifeste erschienen; das der Conservatives ist hier, das der Labour Party hier zu finden. Diese Manifeste unterscheiden sich von den hier zitierten Programmtexten in den einzelnen Formulierungen, nicht aber in den wesentlichen Inhalten.
Nachtrag, 14.4.2015: Die oben zitierten Passagen stammen aus den verlinkten programmatischen Texten, die die britischen Parteien zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels auf ihren jeweiligen Homepages eingestellt hatten. Inzwischen sind darüber hinaus die offiziellen Wahlmanifeste erschienen; das der Conservatives ist hier, das der Labour Party hier zu finden. Diese Manifeste unterscheiden sich von den hier zitierten Programmtexten in den einzelnen Formulierungen, nicht aber in den wesentlichen Inhalten.
Bild: Plashing Vole [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr.
Matthias Eickhoff schreibt in den "Blättern für deutsche und internationale Politik", dass die SNP darauf bestehe, ein Vetorecht für die vier "home nations" gegen einen EU-Austritt zu erhalten. Damit stünde bei einem Brexit auch der Bestand des UK in Frage. (Gibt es dafür eigentlich auch schon so einen schönen Namen wie Brexit? Brend :-?
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