11 April 2015

Die Unterhauswahl, das Brexit-Referendum und die Forderung der britischen Parteien nach einer „EU-Reform“

Ed Miliband (Labour/SPE) will Mitglied des Europäischen Rates werden. Aber das allein wird die Probleme zwischen London und Brüssel auch nicht lösen.
Am kommenden 7. Mai wählt Großbritannien ein neues Parlament, und spätestens seit Regierungschef David Cameron Anfang 2013 angekündigt hat, im Falle seiner Wiederwahl bis spätestens 2017 ein Referendum über den weiteren Verbleib seines Landes in der EU durchzuführen, gilt dieser Urnengang als ein Schlüsselmoment für den gesamten Kontinent. Immerhin stehen Camerons Conservatives (AECR) in den Umfragen bei etwa 30 bis 35 Prozent; dazu kommen weitere rund 15 Prozent für die rechtspopulistische UKIP (ADDE), die schon seit langem einen EU-Austritt fordert, sowie knapp 5 Prozent für die Green Party of England and Wales (EGP), die sich zwar als pro-europäisch versteht, aber dennoch ein Referendum unterstützt. Wird der 7. Mai also zum Startschuss für den „Brexit“, den britischen Abschied aus der Europäischen Union?

Referendumsbefürworter haben keine Mehrheit im Parlament

Um es kurz zu sagen: Im Moment sieht es nicht danach aus. Denn die Parteien, die ein Referendum befürworten, könnten zwar auf eine absolute Mehrheit der Stimmen kommen; von einer Mehrheit der 650 Sitze im Parlament aber sind sie aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts weit entfernt. Aktuelle Kalkulationen sehen die Conservatives bei etwa 270-290 Mandaten, UKIP bei drei bis fünf und die Greens bei einem einzigen.

Demgegenüber kommt die Labour Party (SPE) unter Ed Miliband nach den aktuellen Umfragen ebenfalls auf 270-280 Sitze. Das Zünglein an der Waage für die Regierungsbildung werden deshalb wohl die Liberal Democrats (ALDE) sowie die Scottish Nationalist Party (EFA) sein. Die LibDem können mit rund 8 Prozent der Stimmen und etwa 25-30 Sitzen rechnen; die SNP kommt nur auf etwa 4 Prozent der Stimmen, die sich aber alle im schottischen Landesteil ballen und deshalb in etwa 45-50 Wahlkreisen für einen Sitzgewinn genügen werden.

Beide Parteien stehen Labour politisch näher als den Conservatives – auch wenn die LibDem seit 2010 eine Regierungskoalition mit Cameron bilden. Das derzeit wahrscheinlichste Szenario für die Zeit nach dem 7. Mai ist deshalb eine Labour- oder Labour/LibDem-Regierung, die von der SNP toleriert wird. Alle drei Parteien aber lehnen ein Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft wenigstens für die nächsten Jahre ab.

Also alles in Butter? Wohl kaum. Denn auch wenn der Brexit nach der Wahl wohl erst einmal von der Tagesordnung abgesetzt wird, bleibt der Europadiskurs auf der Insel vergiftet. Und auf den zweiten Blick zeigen die europapolitischen Positionen der großen britischen Parteien mehr Ähnlichkeiten, als der Wahlkampf vermuten lässt.

Auch Cameron will keinen Austritt

Denn zum einen schließt auch die Labour Party ein Referendum nicht pauschal aus. Anfang 2014 erklärte ein Sprecher der Partei lediglich, dass es „nicht dem britischen nationalen Interesse“ entspräche, „sich jetzt auf ein Austrittsreferendum im Jahr 2017 festzulegen“. Eine innerparteiliche Gruppierung namens Labour for a Referendum setzt sich bereits seit 2013 für eine Volksbefragung über die weitere EU-Mitgliedschaft ein. Und das Wahlprogramm, mit dem sich Labour für den 7. Mai präsentiert, kritisiert zwar scharf Camerons Pläne – verspricht dann aber, dass auch Labour keine weitere Übertragung von Kompetenzen an Brüssel zulassen werde, ohne ein britisches Austrittsreferendum durchzuführen.

Und zum anderen haben auch die Conservatives nicht den EU-Austritt an sich zu ihrem Ziel erklärt. In seiner Rede von Januar 2013 (Wortlaut) zielte Cameron vielmehr vor allem darauf ab, seine eigene „vision for a new European Union, fit for the 21st Century“ zu präsentieren, die sich allein auf den Binnenmarkt konzentrieren und andere Kompetenzen an die Mitgliedstaaten zurückgeben sollte und deren Legitimität sich allein auf die nationalen Parlamente stützen würde. Sollten die anderen Mitgliedstaaten zu einer solchen Reform nicht bereit sein, wolle Großbritannien wenigstens für sich allein neue Ausnahmeregelungen erhalten – eine Forderung, die sich so auch im Wahlprogramm der Partei wiederfindet.

Schlüsselbegriff „EU-Reform“

Anders als die UKIP, die sich tatsächlich für einen Austritt aus der EU einsetzt, will Cameron das Referendum also nur als Hebel, um Druck auf die anderen Mitgliedsregierungen auszuüben und die von ihm gewünschte Vertragsänderung durchzusetzen. Der zentrale Begriff für die Conservatives lautet nicht „EU-Austritt“, sondern „EU-Reform“ – eine Reform freilich, die die britischen nationalen Interessen in den Mittelpunkt stellen und die europäische Demokratie schwächen würde. Tatsächlich trägt die von Cameron maßgeblich vorangetriebene Europapartei der Conservatives, die Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten (AECR), dieses Schlüsselwort sogar im Namen.

Aber was sagen Labour und die Liberal Democrats dazu? Sieht man von der Referendumsfrage ab, so könnte es kaum eine größere Übereinstimmung mit den Forderungen der Conservatives geben. Auch die Labour Party spricht in ihrem Wahlprogramm lediglich davon, dass es Großbritannien „at the heart of a reformed EU“ besser gehe als außerhalb. Die Partei verspricht ihren Wählern deshalb, „[to] make the hard-headed, patriotic case […] for reform in Europe“, und zwar mit dem Ziel „to make it work better for Britain“.

Und auch die LibDem, traditionell die europafreundlichste Gruppierung im britischen Parteienspektrum, sprechen von einer „EU reform“ mit dem Ziel eines „better settlement for Britain“. Wie das genau aussehen würde, lässt die Partei zwar weitgehend offen. Auch sie spricht aber nicht von europäischer Demokratie, sondern nur von mehr Macht für die nationalen Parlamente. Am Ende scheint es jedenfalls auch den LibDem nur um das eigene Land zu gehen: „We want a more productive Europe which supports British values, British jobs and the British national interest.“

Einwanderungspolitik und europäische Freizügigkeit

Die Ähnlichkeiten zwischen den Wahlprogrammen setzen sich fort, wenn man die Vorschläge zur künftigen Gestaltung der britischen Einwanderungspolitik betrachtet. Dabei handelt es sich nicht nur um das aus Sicht der britischen Wähler derzeit wichtigste politische Thema überhaupt, sondern auch um eine notorische Streitfrage zwischen der Europäischen Kommission und der britischen Regierung, die Ende 2013 massive Einschränkungen der europäischen Freizügigkeit forderte.

Konkret verlangte Cameron vor einigen Monaten unter anderem, zugewanderten Unionsbürgern für mehrere Jahre den Zugang zu den britischen Sozialleistungen zu versperren sowie kriminelle Unionsbürger leichter abschieben zu können. Sollten diese Forderungen in der EU nicht durchsetzbar sein, so könne er in Bezug auf einen britischen EU-Austritt für nichts garantieren.

Und was steht dazu im Labour-Wahlprogramm? Genau: Die Partei fordert eine Reform des europäischen Freizügigkeitsrechts, „so that people coming to the UK have to wait longer to receive benefits and making it easier to deport those who commit crimes“. Der zentrale Unterschied besteht offenbar nur darin, dass die Conservative Party eine vierjährige, Labour hingegen nur eine zweijährige Frist fordert, bevor Unionsbürger Sozialleistungen erhalten können. Was die Stoßrichtung des Vorschlags und die dahinterliegende Argumentationsweise betrifft, scheint es hingegen, als hätte die Partei von Ed Miliband in diesem Punkt einfach das Programm der Regierung übernommen, die sie am 7. Mai abzulösen plant.

Der britische Europadiskurs verengt sich

Aller Voraussicht nach wird der Brexit nach der Unterhauswahl erst einmal nicht mehr auf der Tagesordnung stehen – aber sehr viel einfacher dürfte das Verhältnis zwischen London und Brüssel wohl auch unter einer Labour-Regierung nicht werden. Wenn die Partei in ihrem Wahlprogramm Cameron vorwirft, er sei „sleepwalking Britain to the exit from the European Union“, dann lässt sich das womöglich auf die gesamte britische Politik übertragen.

Seitdem Margaret Thatcher in den 1980er Jahren das engstirnige Beharren auf der nationalen Souveränität salonfähig machte, hat sich das argumentative Feld im britischen europapolitischen Diskurs immer weiter verengt. Den Befürwortern einer verstärkten Integration ist es niemals gelungen, dagegen ein eigenes, europafreundliches Narrativ zu entwickeln. Stattdessen konzentrierten sie sich darauf, die Vorteile einer Mitgliedschaft in der EU aus Sicht des nationalen Interesses aufzuzählen: etwa die britischen Arbeitsplätze, die durch den europäischen Binnenmarkt entstünden, oder der Verlust an internationalem Einfluss, den Großbritannien bei einem EU-Austritt erleiden würde.

Bezeichnenderweise trägt die wichtigste britische Lobby-Gruppe, die sich für einen Verbleib des Landes in der EU ausspricht, den Namen British Influence. In ihrem Internetauftritt bezeichnet sie sich selbst als „the campaign to keep Britain in a reformed EU“. Das Schlüsselwort der europaskeptischen Konservativen, es hat in Großbritannien sogar den Diskurs der Proeuropäer erobert.

Cameron will den UKIP-Wählern schmeicheln

Und wie groß sind die Hoffnungen, dass sich diese Entwicklung in absehbarer Zeit ändert? Erst einmal dürfte alles wohl eher noch schlimmer werden. Für die europaskeptische UKIP könnte die Unterhauswahl zwar ein Debakel werden: Dass sie trotz des absehbaren großen Stimmenzuwachses höchstens auf eine Handvoll Mandate kommen wird, wird ihren Wählern verdeutlichen, dass diese Partei mit dem geltenden britischen Wahlrecht auf absehbare Zeit keine reale Machtperspektive hat.

Auf der anderen Seite weiß aber natürlich auch die Conservative Party, dass ihre Wahlaussichten nicht zuletzt deshalb so schlecht sind, weil viele ihrer ehemaligen Wähler ihre Stimme derzeit lieber der UKIP geben wollen. Vor einigen Tagen wandte sich Cameron deshalb in einer Wahlkampfrede schmeichelnd an die Sympathisanten der Nationalpopulisten, äußerte Verständnis für deren Positionen in der Einwanderungs- und Europapolitik und versprach, in Zukunft stärker auf ihre Wünsche einzugehen. Gleichgültig, ob Cameron die Wahl letztlich gewinnt oder verliert: Es ist überaus wahrscheinlich, dass der Kurs der Conservatives in den nächsten Jahren schon aus taktischen Gründen noch stärker auf die nationale Souveränität ausgerichtet sein wird.

Der Ball liegt bei Labour

Am Ende wird der Ball dann bei Labour und den LibDem liegen. Sie können einerseits ihre Strategie fortsetzen, mit ihren europapolitischen Positionen jeweils gerade ein Quäntchen gemäßigter als die Conservatives aufzutreten, ansonsten aber die Argumente ihrer Gegner zu übernehmen und einer grundsätzlichen Debatte aus dem Weg zu gehen. In diesem Fall wird Großbritannien wohl weiter dem Austritt entgegentaumeln: ein Hindernis für weitere Einigungsschritte, zugleich aber weitgehend isoliert und unfähig, auf europäischer Ebene seine Forderungen durchzusetzen.

Oder aber die Labour Party ringt sich auch gegenüber der britischen Öffentlichkeit zu der Erkenntnis durch, dass die EU eben nicht dem nationalen Interesse Großbritanniens (oder irgendeines anderen Mitgliedstaates) dienen soll, sondern den europäischen Bürgerinnen und Bürgern, die in ihrer Lebensgestaltung immer häufiger nationale Grenzen überschreiten und die über gemeinsame Angelegenheiten in einem gemeinsamen demokratischen Gemeinwesen entscheiden wollen. Und dass diese EU zwar Reformen braucht, aber sicher nicht die, von denen David Cameron spricht.

Und wenn es doch ein Referendum gäbe?

Übrigens: Seit einigen Jahren gibt es in Großbritannien regelmäßige Umfragen darüber, wie sich die Wähler bei einem möglichen EU-Referendum entscheiden würden. Bis Anfang 2014 zeigte sich dabei fast immer dasselbe Schema: Sollte es der britischen Regierung gelingen, sich in hypothetischen Vertragsverhandlungen mit ihren Forderungen durchzusetzen, so wollte eine Mehrheit der Befragten für den Verbleib in der EU stimmen; andernfalls für den Austritt. Seit etwa einem Jahr hingegen hat sich dieses Bild geändert. Befragt man die Briten heute über ein mögliches Austrittsreferendum, so ist in den meisten Umfragen eine Mehrheit dafür, die EU-Mitgliedschaft fortzusetzen – unabhängig davon, ob es Nachverhandlungen gibt oder nicht.

Mehr nationale Souveränität zu fordern, muss eben auch nicht immer eine Sieger-Strategie sein. Und manchmal wandelt sich die Gesellschaft womöglich schneller, als die Politik vermutet.

Nachtrag, 14.4.2015: Die oben zitierten Passagen stammen aus den verlinkten programmatischen Texten, die die britischen Parteien zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels auf ihren jeweiligen Homepages eingestellt hatten. Inzwischen sind darüber hinaus die offiziellen Wahlmanifeste erschienen; das der Conservatives ist hier, das der Labour Party hier zu finden. Diese Manifeste unterscheiden sich von den hier zitierten Programmtexten in den einzelnen Formulierungen, nicht aber in den wesentlichen Inhalten.

Bild: Plashing Vole [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr.

1 Kommentar:

  1. Gerald Fix12/4/15 15:28

    Matthias Eickhoff schreibt in den "Blättern für deutsche und internationale Politik", dass die SNP darauf bestehe, ein Vetorecht für die vier "home nations" gegen einen EU-Austritt zu erhalten. Damit stünde bei einem Brexit auch der Bestand des UK in Frage. (Gibt es dafür eigentlich auch schon so einen schönen Namen wie Brexit? Brend :-?

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