26 April 2015

Nur ein griechisches Problem? Die Fehler der EU in der Eurokrise – und warum es besser wäre, sie offen einzuräumen

Die Griechenland-Krise nimmt keinen guten Kurs. Kann die EU ihn korrigieren oder begnügt sie sich damit, Syriza die Schuld zu geben?
Wieder einmal taumelt Griechenland dem Staatsbankrott entgegen, und es ist einfach – allzu einfach –, die Schuld dafür vor allem bei der griechischen Regierung zu suchen. Ende Februar hatten die Mitgliedstaaten vereinbart, das laufende Hilfsprogramm bis Juni fortzusetzen. Im Einzelnen sollte die Regierung unter Alexis Tsipras (Syriza/EL) bis Ende April ein Programm vorlegen, wie sie die von ihrer Vorgängerregierung mit den Kreditgebern vereinbarten Reformen umsetzen möchte. Im Gegenzug sollte sie die verbleibenden 7,2 Milliarden Euro erhalten, die (hauptsächlich in Form von Krediten) noch im Hilfsprogramm vorgesehen sind. Seitdem aber passierte nicht mehr viel: Eine Reformliste, die die griechische Regierung Anfang April vorlegte, werteten die übrigen Mitgliedstaaten als zu unkonkret; und die verlangten Nachbesserungen blieben bislang aus.

Als nächstes Schlüsseldatum gilt jetzt der Finanzministerrat am 11. Mai. Unmittelbar danach muss Griechenland einen großen Kredit an den Internationalen Währungsfonds zurückbezahlen, und obwohl die Regierung gerade die letzten Reserven zusammenkratzt, könnte sie dann zahlungsunfähig sein. Und selbst wenn sie diesen Termin übersteht, ist völlig unklar, wie es weitergehen soll, wenn im Juni das aktuelle Hilfsprogramm endet. 

Frust in der Eurozone 

Im Rest der Eurozone ist der Frust über diese Entwicklung groß. Bei einem Ratstreffen am gestrigen Freitag musste sich Finanzminister Yanis Varoufakis (Syriza/EL) jedenfalls heftige Kritik anhören; sein österreichischer Kollege Hans Jörg Schelling (ÖVP/EVP) erklärte, er sei „schon einigermaßen genervt“. Gerne wird jetzt darauf verwiesen, dass die griechische Wirtschaft 2014 erstmals seit Ausbruch der Krise wieder ein wenig gewachsen war. Sollen nun alle Bemühungen vergeblich gewesen sein?


Fast scheint es, als richtete sich der Rest der EU darauf ein, dass Griechenland nun einmal nicht zu retten ist, und konzentrierte sich nur noch darauf, die Verantwortung für die erwartete Katastrophe ganz in Athen abzuladen. Mit solch unzuverlässigen, ungeschickten und planlosen Partnern wie der Syriza-Regierung lässt sich die Eurozone nun einmal nicht retten, so der Eindruck, der sich zunehmend auch in Qualitätsmedien und bei politisch links stehenden Europabloggern verbreitet. 

Hundert-Tage-Frist für Syriza? 

Aus zwei Gründen fällt es mir schwer, mich dieser Deutung anzuschließen. Zum einen scheint es mir allzu leicht, die griechische Regierung zum Buhmann zu machen. Gewiss, mit einigen vollmundigen und später nicht eingehaltenen Ankündigungen haben Tsipras und Varoufakis in den letzten Wochen kaum den Eindruck von besonderer Verlässlichkeit und Professionalität erweckt. Andererseits entspricht es guter demokratischer Sitte, einer neugewählten Regierung erst einmal hundert Tage Vertrauensvorschuss zu geben, um sich einzuarbeiten und mit der Komplexität des Amtes vertraut zu werden – umso mehr, wenn die Koalitionsparteien selbst noch jung sind und über keinerlei Regierungserfahrung aus der Vergangenheit verfügen.

Und auch wenn die Aufregungen der letzten Monate vielleicht einen anderen Eindruck erwecken: Im Fall von Syriza würde diese Hundert-Tage-Frist erst am kommenden 7. Mai enden. Nun konnte Tsipras angesichts der akuten Finanzprobleme und der desolaten sozialen Lage Griechenlands natürlich nicht damit rechnen, dass sein Amtsantritt allzu gemütlich ausfallen würde; die Erwartungen an seine Regierung waren in Griechenland wie im Rest der Eurozone mit gutem Grund von Anfang an ungewöhnlich hoch. Hinzu kommt, dass auch Tsipras in der Opposition nicht mit harter Kritik an der Vorgängerregierung und an der EU gespart hat. Trotzdem sollte man Syriza eine gewisse Lernphase zugestehen und nicht ihre Unerfahrenheit zum Sündenbock machen, wo die Eurozone insgesamt versagt. 

Nur ein nationales Problem? 

Und dies ist der zweite Grund, aus dem es mir schwerfällt, die Schuld für die jüngsten Entwicklungen allein in Griechenland zu suchen: Zu leicht verleitet dieses Argument den Rest der Mitgliedstaaten zu einer passiv-resignativen Haltung. Dadurch verstellt es ihnen den Blick auf Fehler, die gemacht wurden, Handlungsspielräume, die noch immer existieren, und strukturelle Probleme, die nicht spezifisch diesem Politiker oder jener Partei angelastet werden können, sondern in der Funktionsweise der Eurozone und der EU insgesamt begründet sind.

Viele der Argumente, die in letzter Zeit zu hören sind, scheinen mir jedenfalls darauf hinauszulaufen, dass „wir“ Europäer ja alles getan haben, um „den“ Griechen zu helfen – dass wir aber auch nichts tun können, wenn „die“ Griechen sich nicht helfen lassen wollen. Damit aber werden das soziale Elend, der drohende Staatsbankrott und der mögliche Euro-Austritt Griechenlands als ein rein nationales Problem definiert, was nicht nur ökonomisch ziemlich sicher unzutreffend ist: Die nationalen Wirtschaftsräume sind so eng miteinander verflochten, dass ein griechischer Euro-Austritt für den Rest der Eurozone jedenfalls mit enormen Risiken verbunden wäre. 

Gemeinsame politische Verantwortung der EU

Darüber hinaus stehen die Mitgliedstaaten der EU auch in einer gemeinsamen politischen Verantwortung: Schon seit dem ersten Hilfspaket 2010 wurde der griechische Spar- und Reformkurs weitgehend von den übrigen Euro-Mitgliedstaaten sowie der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds vorgegeben und dann in einem Memorandum of Understanding mit der griechischen Regierung festgehalten. (Ein Überblick aller offiziellen Dokumente findet sich hier).

Dass die EU für die Vergabe der Hilfskredite strenge Bedingungen formulierte, war legitim; schließlich handelt es sich dabei um das Geld der europäischen (bzw., was den IWF betrifft, der globalen) Steuerzahler. Aber es bedeutet eben auch, dass die übrigen Mitgliedstaaten für die Auswirkungen dieses Spar- und Reformkurses mit in der Verantwortung stehen – und damit auch dafür, dass sich Griechenland fünf Jahre später noch immer am Rand des Zusammenbruchs befindet. 

Fehler der Vergangenheit 

Dass EU und IWF dabei einige große Fehler gemacht haben, ist inzwischen offensichtlich. Insbesondere besteht unter Ökonomen international weitgehend Einigkeit, dass der Sparkurs, den die Kreditgeber Griechenland verordneten, letztlich mehr Schaden als Nutzen anrichtete: Die öffentlichen Kürzungen ließen die Wirtschaft schneller schrumpfen, als sie den Haushalt konsolidierten, sodass die griechische Schuldenquote dadurch nicht sank, sondern stieg. Der IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard hat diesen Fehler bereits Anfang 2013 in einer Studie eingeräumt; die Europäische Kommission hingegen wehrte sich lange gegen die neue Erkenntnis. 

Inzwischen freilich ist von Sparen kaum noch die Rede, schon allein, weil die griechische Regierung seit einiger Zeit einen Primärüberschuss erwirtschaftet und neue Kredite nur noch aufnimmt, um alte zurückzubezahlen. Im Zentrum der Debatte stehen jetzt die sogenannten „Strukturreformen“, also Maßnahmen wie die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte durch geringeren Kündigungsschutz oder der Abbau von bürokratischen Hürden, die neuen Unternehmen den Marktzugang erschweren. Viele solche Reformen hat Griechenland in den letzten Jahren bereits umgesetzt, doch angesichts der schlechten Lage des Landes fordert die EU noch mehr davon. 

Auch Strukturreformen sind kein Allheilmittel 

Dass Strukturreformen, die den Wettbewerb fördern, langfristig gut für die Produktivität und das Wirtschaftswachstum sind, ist unter Ökonomen breiter Konsens. Auch sie sind jedoch kein Allheilmittel gegen die Krise: Zum einen zeichnet sich ab, dass bestimmte Strukturreformen deflationär wirken und deshalb (speziell in Zeiten sehr niedriger Inflation, wie sie die Eurozone derzeit durchmacht) kurzfristig das Wachstum bremsen können. Unter den griechischen Kreditgebern ist es wieder einmal der IWF, der diese Einsicht als Erster vertritt.

Zum anderen setzen ökonomische Strukturreformen auch die Gesellschaft eines Landes unter einen enormen Anpassungsdruck: Durch eine Reduzierung des Kündigungsschutzes steigt oft erst einmal die Arbeitslosenzahl; durch eine Öffnung der Märkte können kleine, wenig effiziente Unternehmen unrentabel werden und pleitegehen. Für viele Menschen sind die Reformen also mit Unsicherheit und der Notwendigkeit einer Neuorientierung verbunden. Damit diese Anpassung nicht zu sozialen Verwerfungen führt, wäre es nötig, sie sozialpolitisch abzufedern – etwa durch die Einführung einer Grundsicherung, wie es sie derzeit in Griechenland nicht gibt. 

Auch Syriza hat nicht nur die Schwächsten im Blick 

Dass die Art, in der die vereinbarten Strukturreformen in Griechenland seit 2010 umgesetzt wurden, nicht sozialverträglich war, ist freilich nicht allein die Schuld der EU. Auch die griechischen Regierungen zeigten keinen allzu großen Eifer, die nötigen sozialpolitischen Mechanismen einzuführen, die notwendig gewesen wären, damit die Hauptlast der Strukturreformen von den sozial Schwachen auf die Eliten des Landes umverteilt wird.

Und selbst die Gesetzgebungspläne der linken Syriza haben offenbar nicht immer nur die Schwächsten im Blick: So existiert in Griechenland schon seit einigen Jahren ein Gesetz, das Zwangsversteigerungen von Wohneigentum armer Haushalte (mit einem Jahreseinkommen unter 35.000 Euro und einem Vermögen unter 270.000 Euro) verbietet. Syriza plante diese Regelung auch auf Mittelschichtshaushalte mit einem Einkommen bis 50.000 Euro und einem Vermögen bis 500.000 Euro auszuweiten, was die Europäische Zentralbank jüngst in einer Stellungnahme als „likely to be perceived as unfair from a social perspective“ kritisierte. Statt verschuldete Mittelschichtshaushalte zu entlasten, so die EZB, solle Griechenland zur Bekämpfung der humanitären Krise besser ein echtes soziales Sicherungsnetz aufbauen.

Eine Debatte über die soziale Ausgestaltung von Strukturreformen 

Wie ungewöhnlich diese Stellungnahme der EZB in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, zeigte nicht zuletzt die ZEIT, die auf Twitter kommentierte: Die neoliberale Troika wirft der linksradikalen Regierung vor, eine Politik für die Reichen zu machen.“ Tatsächlich könnte in dieser Auseinandersetzung aber auch eine Chance für die Zukunft liegen: Eine Debatte darüber, wie die notwendigen ökonomischen Strukturreformen in Griechenland und anderswo so ausgestaltet werden können, dass es nicht zu sozialen Verwerfungen kommt, ist längst überfällig.

Indessen hat die EU in dieser Debatte erst einmal einen denkbar schweren Stand. Indem sie soziale Belange in den ersten Jahren der Krise völlig ignorierte (bzw. allein als eine Angelegenheit der nationalen Regierungen betrachtete), hat sie in der öffentlichen Wahrnehmung stark an Glaubwürdigkeit und Legitimität verloren. Für linke wie rechte Nationalpopulisten ist es darum ein Leichtes, sich als Verteidiger des Sozialstaats aufzuspielen – gleichgültig, ob ihre Vorschläge tatsächlich den Schwächsten nützen würden oder nicht.

Kann die EU ihre Fehler offen eingestehen? 

Wenn die EU-Institutionen das Heft des Handelns wieder in die Hand bekommen wollen, wäre es deshalb die beste Strategie, auch öffentlich einen Kursschwenk zu vollziehen. Mit einem ehrlichen Bekenntnis dazu, dass die bisherige Krisenstrategie wenigstens teilweise falsch war, dass Griechenland weniger hart sparen, weiterhin durch Strukturreformen den Wettbewerb fördern, zugleich aber auch ein soziales Sicherungsnetz aufbauen sollte, könnte es der EU womöglich gelingen, auch die griechische öffentliche Meinung auf ihre Seite zu bringen. Zugleich böte sie so der Syriza einen gesichtswahrenden Ausweg und könnte die derzeitige verfahrene Situation überwinden.

Wird es dazu kommen? Hier bin ich nun eher pessimistisch. Denn ein öffentliches Fehlereingeständnis ginge natürlich zu Lasten der amtierenden nationalen Regierungschefs der übrigen Mitgliedstaaten, die – wie die Deutsche Angela Merkel (CDU/EVP) oder der Niederländer Mark Rutte (VVD/ALDE) – die Krisenpolitik der letzten Jahre wesentlich vorgegeben oder ihr – wie der Spanier Mariano Rajoy (PP/EVP) – trotz des Murrens der eigenen Bevölkerung nichts entgegengesetzt haben. Wenigstens öffentlich werden sich die Kreditgeber deshalb wohl auch weiterhin stur stellen und darauf beharren, dass Syriza das vorgegebene Reformprogramm akzeptiert.

Und so taumelt Griechenland wieder einmal dem Staatsbankrott entgegen, und es ist nicht klar zu erkennen, wie er dieses Mal verhindert werden soll. Es ist einfach, allzu einfach, die Schuld dafür allein bei der überforderten oder unwilligen griechischen Regierung zu suchen. Sollte die Eurozone scheitern, dann wäre das aber auch ein Versagen der europäischen Institutionen selbst, die die sozialen Probleme ihrer Strategie zu spät erkannten und nicht in der Lage waren, ihren Kurs rechtzeitig zu korrigieren.

Bild: By Theophilos Papadopoulos [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

1 Kommentar:

  1. In diesem Bereich muss sich grundsätzlich etwas ändern, denn neben Griechenland wird es mit der Zeit noch viele andere Länder treffen.

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