Entspricht
das Verfahren zur Wahl des Europäischen Parlaments noch unseren
Erwartungen an eine europäische Demokratie? In einer losen Serie von
Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und
Zivilgesellschaft hier auf die Frage, wie sie sich ein
besseres Europawahlrecht vorstellen würden. Heute: meine eigenen Gedanken dazu. (Zum Anfang der Serie.)
- Transnationale Listen, degressive Proportionalität und gesamteuropäische Sperrklauseln: Das Europawahlrecht kann noch besser werden.
Je
enger die europäische Gesellschaft zusammenwächst, desto größer
der Bedarf nach gemeinsamen politischen Lösungen. Je größer der
Bedarf nach gemeinsamen Lösungen, desto größer die Macht der
europäischen Institutionen. Je größer die Macht der europäischen
Institutionen, desto wichtiger ihr Wahlverfahren.
Und je wichtiger ihr
Wahlverfahren,
desto notwendiger ein
Europawahlrecht, das hohen demokratischen Standards entspricht
und eine bedeutungsvolle parteipolitische Auseinandersetzung auf
europäischer Ebene ermöglicht.
Aber wie könnte das aussehen? Wenn
über eine Reform
des Europawahlsystems
diskutiert wird, dann stehen meist vor allem drei Aspekte im
Vordergrund.
Drei
Aspekte zur Diskussion
●
Erstens
der Vorschlag „transnationaler“, das heißt gesamteuropäischer
Listen. Bislang hat im
Europäischen Parlament bekanntlich
jeder Mitgliedstaat ein festes Sitzkontingent, für das die jeweils
nationalen Parteien nationale Kandidatenlisten aufstellen, die
sich dann in einem nationalen Wahlkampf präsentieren.
Die Europawahl ist also
aufgeteilt in 28 nationale Einzelwahlen, die zwar ungefähr
zeitgleich stattfinden, aber in
der öffentlichen Wahrnehmung kaum
miteinander verflochten sind.
Ein
erster Schritt, um diesen Zustand zu überwinden und
die gesamteuropäische Dimension der Wahl zu verdeutlichen,
waren die europaweiten
Spitzenkandidaten, die die europäischen Parteien 2014 erstmals
präsentierten. Der
logische nächste Schritt wäre, wenigstens
einen Teil der Europaabgeordneten über
gesamteuropäische
Listen zu
wählen
(wie
dies
hier auch
Jo
Leinen, Andrew
Duff und Christian
Moos gefordert haben).
Diese
Listen würden von den europäischen Parteien oder
den Fraktionen im Europäischen Parlament aufgestellt
und wären
in
allen Mitgliedstaaten identisch.
Transnationale
Listen stärken die europäische Öffentlichkeit
Warum
ich selbst diesen
Vorschlag gut finde, habe ich auf diesem Blog schon öfters begründet
(etwa hier,
hier
oder hier).
Zum
einen müssten die
Kandidaten auf
den
transnationalen Listen
sich
vor einer gesamteuropäischen
Wählerschaft präsentieren,
sodass
sie ihren
Wahlkampf
kaum
mit
rein
nationalen Themen bestreiten könnten. Anstelle
nationaler Nebenschauplätze würden
dadurch
die
gesamteuropäischen
Parteiprogramme
in
der Debatte stärker
in den Vordergrund rücken – und
damit die europäische Öffentlichkeit gestärkt.
Zum
anderen würden transnationale Listen aber auch das Machtverhältnis
zwischen den europäischen
Parteien und ihren nationalen Mitgliedsverbänden verschieben.
Die politische Loyalität von
Abgeordneten gilt strukturell
vor allem jenen Gremien, die
über ihre (Wieder-)Aufstellung
als Kandidat entscheiden. Da
dies bislang allein die
nationalen Parteitage
sind, haben Europaabgeordnete
derzeit einen starken Anreiz,
vor allem auf
die jeweiligen nationalen Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen.
Transnationale Listen hingegen würden den europäischen
Parteien einen wichtigen personalpolitischen Hebel geben – und die
Europaabgeordneten dazu zwingen, sich grenzüberschreitend zu
vernetzen und bei ihrer politischen Positionierung auch auf die
Bedürfnisse der übrigen Mitgliedstaaten einzugehen.
Degressive
Proportionalität
●
Der zweite wichtige Streitpunkt
ist das Prinzip der „degressiven
Proportionalität“. Die nationalen Sitzkontingente im
Europäischen Parlament entsprechen derzeit nicht direkt den
Größenverhältnissen der einzelnen Mitgliedstaaten: Zwar haben
bevölkerungsreiche Staaten in der Regel mehr Sitze als
bevölkerungsarme; bevölkerungsarme aber haben mehr Sitze pro
Einwohner. Dadurch soll
sichergestellt werden, dass auch in kleinen Staaten mehrere
Parteien die Chance auf einen
Sitz haben, ohne dass
das Parlament insgesamt
eine nicht mehr
funktionsfähige Größe
bekommt.
Die
Verzerrungen, die durch die degressive Proportionalität entstehen,
werden jedoch immer wieder
als Verstoß gegen die Wahlgleichheit
kritisiert: prominent
etwa durch das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem
Lissabon-Urteil
(Rn. 276ff.), auf diesem
Blog vor allem durch
Tim
Weber. Andere, wie Frank
Decker oder Christian
Moos, halten die
degressive Proportionalität weiterhin für unumgänglich.
Andrew
Duff schließlich bemängelt,
dass die Sitzkontingente
bislang keiner
festen arithmetischen Formel folgen,
sondern im
Einzelnen auch
politischen
Aushandlungsprozessen unterworfen waren.
Auch er
will aber am
Degressivitätsprinzip festhalten.
Verzerrungen
im Kräfteverhältnis der Fraktionen
Ich
selbst sehe die degressive Proportionalität mit gespaltenen
Gefühlen. Grundsätzlich erscheint es mir nicht als ein zentrales
Manko, wenn im Europäischen Parlament überdurchschnittlich viele
Abgeordnete aus kleineren Mitgliedstaaten vertreten sind. Denn zum
einen kompensiert das nur die Erfahrung, dass die politischen
Schlüsselstellen doch meistens von Abgeordneten aus großen Ländern
besetzt werden (von den neun derzeitigen Fraktionschefs stammen
sieben aus einem der sechs größten Mitgliedstaaten; bei den
Ausschussvorsitzenden sind es sogar 20 von 23). Zum
anderen folgen die Abgeordneten bei Abstimmungen meist ohnehin der
Linie ihrer Fraktion: Die entscheidende Frage ist deshalb nicht, wie
viele Italiener, Österreicher oder Luxemburger es im Parlament gibt,
sondern wie viele Christdemokraten, Sozialdemokraten oder Liberale.
Genau hier liegt allerdings auch das entscheidende Problem – denn da die Parteien nicht in jedem Land gleich stark sind, führt die degressive Proportionalität zwischen den Mitgliedstaaten letztlich auch zu Verzerrungen im Kräfteverhältnis der Fraktionen. Plakativ zeigte sich dies bei der Europawahl 2014, bei der die Sozialdemokraten zwar mehr Stimmen, aber weniger Sitze erhielten als die Christdemokraten. Auch das ist zwar kein unerhörter Skandal (in vielen nationalen Wahlsystemen kann Ähnliches vorkommen), aber jedenfalls ein großes demokratisches Ärgernis.
Sperrklauseln
●
Der dritte Aspekt schließlich
ist die Frage nach einer europäischen Sperrklausel. Derzeit wird die
Hürde, die eine Partei überspringen muss, um ins Europäische
Parlament einzuziehen, noch von jedem Land einzeln festgelegt.
Sechzehn Länder haben dabei eine Sperrklausel (meist
zwischen 3 und 5 Prozent), zwölf nicht. Zum Diskussionsthema
wurde dies vor allem, seitdem das deutsche Bundesverfassungsgericht
unter Berufung auf das Prinzip der Wahlgleichheit die
deutsche nationale Sperrklausel kippte und dadurch sieben
deutschen Klein- und Kleinstparteien den Einzug ins Parlament
ermöglichte.
In
der Serie auf diesem Blog schloss sich Tim
Weber im Wesentlichen der Linie des Verfassungsgerichts an. Frank
Decker hingegen macht den Vorschlag einer gesamteuropäischen
Sperrklausel: Damit würden nur noch solche Parteien – oder
transnationale Parteibündnisse – ins Parlament einziehen, die
europaweit mindestens 3 Prozent der Stimmen erhalten. Diese Hürde
ist so niedrig, dass sie auch für die kleinen europäischen Parteien
kaum ein Hindernis wäre. Sie ist jedoch gleichzeitig so hoch, dass
praktisch keine nationale Partei sie allein überspringen könnte.
Die Parteien wären deshalb gezwungen, sich schon vor der Wahl einem
der europäischen Bündnisse anzuschließen.
Keine
Anwerbe-Wettkämpfe mehr nach der Wahl
Warum
ich selbst das Fehlen einer Sperrklausel für problematisch halte,
habe ich auf diesem Blog bereits mehrfach angesprochen (etwa hier
und hier).
Tatsächlich entsteht dieses Problem dabei vor allem dadurch, dass
viele der Kleinstparteien nicht in europäischen Dachverbänden
organisiert sind. Selbst wenn sie nach der Wahl in die bestehenden
Fraktionen integriert werden (die deutsche Familienpartei etwa in die
nationalkonservative ECR, die Tierschutzpartei in die linke GUE/NGL),
schwächen sie die Rolle der europäischen Parteien und den internen
Zusammenhalt der Fraktionen. Zudem trägt die große Anzahl
fraktionsloser Abgeordneter dazu bei, dass Mehrheiten oft nur durch
die Zusammenarbeit der beiden größten Gruppierungen gebildet werden
können: eine permanente Große Koalition, die zwar nicht die
Handlungsfähigkeit des Parlaments, wohl aber die demokratische
Alternanz verhindert.
Eine
gesamteuropäische Sperrklausel würde diese Probleme beheben, die
europäischen Parteien stärken und die Zahl der fraktionslosen
Abgeordneten minimieren. Wenn sich alle nationalen Parteien bereits
im Voraus zu ihrem europäischen Bündnis bekennen müssten, stünde
zudem schon am Wahlabend fest, welche Fraktion wie viele Sitze
gewonnen hat – statt dass dies erst nach der Europawahl durch einen
Wettkampf um die Anwerbung neu gewählter Einzelparteien entschieden
wird, wie er 2014 im
rechtskonservativ-europaskeptischen Lager stattfand.
Mein
Wunschwahlrecht: Nationale Erst-, europäische Zweitstimme
Wie
also könnte ein neues Europawahlrecht aussehen, das all diese
Aspekte berücksichtigt, ohne sich allzu utopisch weit vom heutigen
Status quo zu entfernen? Die beste Lösung bestünde in meinen Augen
in einem Hybrid-Verfahren, bei dem jeder Wähler zwei Stimmen hat:
eine nationale „Erststimme“ und eine gesamteuropäische
„Zweitstimme“.
Mit
der Erststimme würden wie bisher nationale Parteien gewählt, die
sich für nationale Sitzkontingente bewerben. Diese könnten zwischen
den Staaten weiterhin degressiv-proportional verteilt sein, wären
jedoch um ein Sechstel kleiner als bisher. Luxemburg hätte also nur
noch 5 statt 6 Sitze, Österreich 15 statt 18, Deutschland 80 statt
96 (mit gegebenenfalls weiteren Korrekturen entsprechend der von
Andrew
Duff beschriebenen CamCom-Formel). Insgesamt würden auf diese
Weise mithin nur noch 626 der 751 Parlamentarier gewählt.
Mit
der Zweitstimme hingegen könnten sich die Wähler zwischen
verschiedenen transnationalen Listen entscheiden, die in der ganzen
EU zur Wahl stünden. Die letzten 125 Parlamentssitze würden dann so
zwischen den transnationalen Listen verteilt, dass unter
Berücksichtigung der schon über die Erststimmen gewonnenen
Mandate die Stärke der
Fraktionen im Europäischen Parlament ihrem europaweiten
Zweitstimmenanteil entspricht.
Damit wäre der Hauptnachteil
der degressiven
Proportionalität abgewendet:
Auf
die entscheidende
Frage der Sitzverteilung
zwischen den Fraktionen hätte
europaweit jeder Wähler denselben Einfluss.
Eine
gesamteuropäische Sperrklausel
Zudem
würden bei
der Verteilung der Sitze
(einschließlich
der
„Erststimmen-Kontingente“)
nur solche Parteien
und Parteibündnisse
berücksichtigt, die europaweit
mindestens 3%
der Zweitstimmen erreicht
haben. Alle Parteien müssten
also zwingend vor
der Wahl ihre Zugehörigkeit
zu einem der gesamteuropäischen Bündnisse erklären. Parteien,
die nur auf nationaler Ebene stark sind, aber keine Partner in
anderen Mitgliedstaaten haben oder
benennen wollen, könnten
auch über die nationalen
Sitzkontingente nicht
in das Parlament einziehen.
Im
Gegenzug müsste natürlich
das Recht, transnationale
Listen aufzustellen, weitgehend
frei sein.
Jedenfalls sollte es nicht
auf die Bündnisse beschränkt sein, die schon nach den heutigen
strengen
Voraussetzungen als
europäische Parteien anerkannt werden. Um
keine politische Option von vornherein auszuschließen, sollten
vielmehr möglichst viele nationale Parteien die Chance bekommen, sich
auch an
einer transnationalen Liste zu
beteiligen.
Die
Wahlrechtsreform gehört auf die Agenda
Eine
solche Wahlrechtsreform würde
eine Änderung des
EU-Vertrags voraussetzen, insbesondere
der in Art. 14 Abs.
2 EUV
genannten Untergrenze für
die nationalen Sitzkontingente. Da
aber kein
Mitgliedstaat dadurch
offensichtlich an
Macht verliert (die degressive Proportionalität bleibt ja erhalten),
sollte sie
durchaus im Rahmen des
politisch Erreichbaren
liegen.
Aber
wie auch immer ein besseres
Europawahlrecht am
Ende aussehen wird:
Die
Diskussion darüber gehört
auf jeden Fall auf
die politische Agenda. Die
Wahl der europäischen Volksvertreter ist das Kernstück unserer
überstaatlichen Demokratie, und
das Verfahren dafür muss
dringend zur Debatte gestellt
werden – in der
europäischen Öffentlichkeit und
möglichst bald hoffentlich
auch im Europäischen Parlament.
Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten, wie sollte es dann aussehen? – Artikelübersicht
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
Danke an alle Gastautoren, die sich mit Beiträgen an der Serie beteiligt haben!
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
Danke an alle Gastautoren, die sich mit Beiträgen an der Serie beteiligt haben!
Bilder: By Tim Reckmann (foto_db) [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr.
Der Vorschlag klingt gut, birgt aber Probleme: die Bevölkerungsanzahlen der Staaten unterscheiden sich zu stark. Malta hat nur 500.000 Einwohner und 6 Vertreter; Deutschland 80 Mio Einwohner und 96 Vertreter. Pro Direktkandidat in Malta wären also nur 42.000 Stimmen nötig; in Deutschland dagegen 417.000 Stimmen - 10 mal so viel. Das wäre meiner Meinung nach ungerecht.
AntwortenLöschenHier liegt offenbar ein Missverständnis vor - ich spreche mich in dem Artikel oben überhaupt nicht für ein Modell mit Direktkandidaten aus, sondern für eine Kombination aus nationalen und gesamteuropäischen Listen. Die nationalen Sitzkontingente wären dabei weiterhin degressiv-proportional, aber über die gesamteuropäischen Listen würde ein europaweiter Verhältnisausgleich stattfinden, sodass letztlich der Sitzanteil jeder Fraktion ihrem europaweiten Stimmenanteil entspräche.
LöschenNoch ausführlicher habe ich mich mit dem Thema Wahlgleichheit übrigens in diesem Artikel befasst.