Entspricht das Verfahren zur Wahl des Europäischen Parlaments noch unseren
Erwartungen an eine europäische Demokratie? In einer losen Serie von
Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und
Zivilgesellschaft hier auf die Frage, wie sie sich ein besseres
Europawahlrecht vorstellen würden. Heute: Christian Moos, Generalsekretär der Europa-Union Deutschland e.V. (Zum Anfang der Serie.)
Obschon
bereits in den Römischen Verträgen theoretisch angelegt, gibt es
bis zum heutigen Tag kein einheitliches europäisches Wahlrecht. Es
ist das nationale Wahlrecht, das den europäischen Wahlgang regelt.
Es sind nationale Parteien und Wahllisten, die bestimmen, wer für
das Parlament kandidiert und nicht europäische.
Europaweite
Spitzenkandidaten – eine kleine Revolution
Seit
vielen Jahren schon wird die Forderung nach einem europäischen
Wahlrecht, nach europäischen Parteien und europäischen Wahllisten
erhoben. Immerhin haben sich die europäischen Parteienfamilien im
Rahmen der bestehenden Verträge auf die Einführung von
Spitzenkandidaten verständigt. Die Staats- und Regierungschefs im
Europäischen Rat, zu einem guten Teil personenidentisch mit den
Parteichefs, fremdeln mit dieser Entscheidung, versuchten gar sie zu
revidieren.
Das
Europäische Parlament setzte sich aber im Frühjahr 2014 nach der
Europawahl durch. Man kann durchaus von einer kleinen
Verfassungsrevolution sprechen, denn fortan wird die Kommission, an
deren Spitze in Zukunft – wie nun Jean-Claude Juncker –
grundsätzlich der bei den Parlamentswahlen siegreiche
Spitzenkandidat stehen soll, politischer werden. Sie wird noch keine
parlamentarisch gestützte Regierung sein. Sie hat aber einen großen
Schritt in diese Richtung getan. Das verändert de
facto
auch den Charakter der Europawahlen. Seit den Wahlen von 2014 geht es
um deutlich mehr als bisher.
Fragwürdige
Einschätzung als „second order elections“
Trotz
dieser beachtlichen Weiterentwicklung des europäischen Systems
bleibt das Wahlrecht entlang der nationalstaatlichen Grenzen
fragmentiert, der Wahlgang stark abhängig von nationalen Parteien
und Politiken. In der Politikwissenschaft werden die Europawahlen
nicht zuletzt deshalb als second
order elections
bezeichnet. Vielen Menschen erscheinen sie gegenüber den nationalen
Parlamentswahlen nachrangig.
Angesichts
der Kompetenzfülle, die das Europäische Parlament spätestens seit
dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auszeichnet, ist das eine
zumindest fragwürde Einschätzung. Tatsächlich kann angesichts der
faktischen Bedeutung, die das Europäische Parlament mittlerweile
hat, die Fragmentierung nur ein Zwischenstadium sein. Sonst stellen
sich zu viele Legitimationsfragen.
Demokratiedefizit
durch fehlende Stimmengleichheit?
Ein
gewichtiges Argument gegen die aktuelle Verfasstheit des Parlaments
ist das des Demokratiedefizits. Nicht nur Gegner der europäischen
Integration, auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, das
eigentlich durch die Präambel des Grundgesetzes zu einer
integrationsfreundlichen Haltung verpflichtet ist, argumentieren, die
fehlende Stimmengleichheit bei den Europawahlen begründe eine
mangelhafte demokratische Legitimation.
Tatsächlich
zeichnet sich die Aufteilung der Parlamentssitze in nationale
Kontingente, die durch nationale Teilwahlen zum Europäischen
Parlament vergeben werden, durch eine Verzerrung des Gewichts der
Wählerstimmen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten aus. Politik-
und Rechtswissenschaftler sprechen vom „Grundsatz der degressiven
Proportionalität“, der bei den Europawahlen zur Anwendung kommt.
Auch kleinste Mitgliedstaaten erhalten eine Mindestzahl an Sitzen.
Damit das Parlament nicht tausende von Abgeordneten hat, wird der
Aufwuchs der Sitze für die größeren Staaten mit zunehmender
Bevölkerungszahl geringer.
Das
führt dazu, dass das Großherzogtum Luxemburg mit knapp 550.000
Einwohnern oder Malta mit 425.000 Bürgern jeweils sechs Mandate
haben, Deutschland mit 80,6 Millionen Einwohnern aber nur 96 Sitze
zukommen.
Verzerrungen
zwischen Stimmen- und Sitzzahl gibt es auch national
Freilich
führt auch das Wahlrecht für nationale Wahlen in einigen
Mitgliedstaaten zu Verzerrungen, jedenfalls dann, wenn man die
absoluten Stimmenzahlen betrachtet. So kann in Großbritannien
durchaus die Minderheit die Mehrheit stellen. Der Zuschnitt der
Wahlkreise macht das möglich. In Griechenland erhält die Partei mit
den meisten Stimmen einen erheblichen Sitzbonus, um auch bei einer
gewissen Fraktionsvielfalt mit einer überschaubaren Zahl von
Partnern oder sogar allein regierungsfähig zu werden. Pragmatische
Annäherungen an das Problem der besten Abbildung repräsentativer
Demokratie gibt es hier wie dort.
Die
degressive Proportionalität, nach der die nationalen Kontingente der
Sitze des Europäischen Parlaments bestimmt werden, muss als
demokratietheoretisches Problem aber durchaus ernst genommen werden.
Sie ist jedoch so lange auf europäischer Ebene unumgänglich, wie
die Abgeordneten national verortet werden. Denn sonst würden Bürger
kleiner Staaten praktisch nicht mehr vertreten sein. Oder die
Arbeitsfähigkeit des Parlaments wäre mit tausenden Abgeordneten
nicht mehr gegeben.
Dieses
Demokratiedefizit besteht zudem in vielen Zweikammersystemen
föderaler Ordnung. In Deutschland wird der Bundesrat nach dem
Grundsatz der degressiven Proportionalität beschickt. In Europa
bleibt das Gewicht der bevölkerungsreichen Staaten gewahrt durch die
Definition der qualifizierten Mehrheit in der Staatenkammer, dem Rat
der Europäischen Union, die eine die Bevölkerungsstärke
berücksichtigende doppelte Mehrheit vorsieht.
Sperrklauseln
gegen Splitterparteien
Selbst
wenn sie nicht im jeweiligen Wahlrecht festgelegt sind, gibt es in
den meisten EU-Staaten de
facto
Sperrklauseln für die Wahl zum Europäischen Parlament. Für
EU-Staaten wie Belgien oder die Niederlande braucht es de
facto
etwa fünf Prozent, aber auch für größere Staaten wie Polen oder
Spanien reichen weniger als zwei Prozent Stimmanteil für Parteien
nicht aus, einen Sitz zu gewinnen. Erst höhere Sitzkontingente wie
das deutsche, das 96 beträgt, führen dazu, dass auch kleinste
Splitterparteien mit weniger als einem Prozent der Stimmen eine
Chance haben, ins Europäische Parlament einzuziehen.
Bis
zu den Europawahlen des Jahres 2009 galt für die deutsche Wahl eine
Sperrklausel von fünf Prozent, wie sie das Bundeswahlrecht für die
Wahlen zum Deutschen Bundestag vorsieht. Das Bundesverfassungsgericht
hat diese Sperrklausel aber für die Europawahlen mit der Begründung
als verfassungswidrig beurteilt, das Europäische Parlament müsse
keine Regierungen bilden. In der Folge sind bei den Wahlen 2014
einzelne deutsche Abgeordnete ins Parlament eingezogen, die
Splitterparteien angehören.
Würde
ein europäisches Wahlrecht durch den europäischen Gesetzgeber, Rat
und Parlament, verabschiedet, wäre eine Sperrklausel sinnvoll und,
gegebenenfalls flankiert durch eine deutsche Grundgesetzänderung,
auch verfassungsrechtlich unanfechtbar.
Europaweite
Listen stärken die europäische Öffentlichkeit
Ein
europäisches Wahlrecht, wie es für die Europawahlen im Rahmen der
bestehenden Verträge längst möglich wäre, könnte auch
europäische Wahllisten einführen, mithin also die Macht der
nationalen Parteien brechen. Die Gründung echter europäischer
Parteien wäre die Folge. Viele überzeugte Europäer, vor allem auch
europäische Föderalisten sehen dies als den richtigen Weg.
Teilweise werden Mischformen als Übergangs- und Versuchslösung
vorgeschlagen. So könnte ein Teil der Sitze durch eine europäische
Liste bestimmt werden, der größere weiterhin durch nationale
Listen.
Perspektivisch
kann das Aufbrechen des nationalen Zugriffs auf das Europäische
Parlament durchaus zu einer Stärkung der europäischen Demokratie
führen. Europäische Parteien und Wahllisten hätten die Chance, die
Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit zu befördern, die
trotz der Globalisierungsfolgen und der Krisenjahre nach wie vor
unterentwickelt ist, allenfalls phasenweise aufscheint, sich aber
selbst bei gemeinsamen Themensetzungen eher durch parallele, aber
weitgehend voneinander getrennte Debatten als durch einen gemeinsamen
europäischen Kommunikationsraum auszeichnet.
Hybridmodell
aus Wahlkreisen und europäischen Listen
Ein
ungelöstes Problem bleibt die Frage der Bürgernähe, der
Rückbindung an die Wähler. Listen begünstigen anders als
Wahlkreise mit Direktmandaten Wählerferne. Die Räume, die die
EU-Abgeordneten vertreten, sind recht groß, und der Sitzungsturnus
im Nebeneinander von Straßburger Plenar- und Brüsseler Ausschuss-
und Miniplenarwochen ist so hoch, dass weniger Präsenz vor Ort
möglich ist als bei Mitgliedern des Deutschen Bundestages. Ein
Problem, das innerhalb der EU nicht nur für Deutschland gelten
dürfte.
Für
das Europäische Parlament bietet sich ein Hybridmodell an aus gleich
großen und per Erststimme zu bestimmenden europäischen Wahlkreisen,
die die Grenzräume der Mitgliedstaaten durchaus überschreiten
können, und einer europäischen
Liste, die
mit der Zweitstimme gewählt würde. Etwa im Wege von
Kontingentierungen der Listenplätze könnte über diese europäische
Liste, wenn auch weniger verzerrend, ein für die Arbeitsfähigkeit
des Parlaments erforderliches Maß an degressiver Proportionalität
beibehalten werden.
Das Gewicht der Bevölkerungen der Mitgliedstaaten könnte stärker
als bisher durch das Europäische Parlament abgebildet werden, zumal
es einen zielführenden institutionellen Weg gäbe, die Augenhöhe
der Mitgliedstaaten auf andere Weise sicherzustellen.
Ein
Europäischer Senat als zweite Kammer
Einem
durch ein einheitliches europäisches Wahlrecht beschickten
Europäischen Parlament könnte anstelle des Rates der Europäischen
Union ein Europäischer Senat gegenüberstehen, in den nicht mehr
Regierungsvertreter entsandt werden. Vielmehr könnten europäisierten
EU-Abgeordneten in einer föderalen europäischen Ordnung direkt
gewählte regionale Senatoren gegenüberstehen. Dieser Europäische
Senat würde anders als der nach wie vor in vielem nach den
Gepflogenheiten der Diplomatie funktionierende Rat der Europäischen
Union eine echte zweite Kammer. Der Rat selbst existierte nicht mehr.
Für
die europäischen Senatswahlen könnten die USA zum Vorbild genommen
werden, wo jeweils zwei Senatoren bezüglich ihrer Bevölkerungszahlen
durchaus sehr unterschiedliche Staaten vertreten. Der Senat könnte
also aus zwei Vertretern je Mitgliedstaat bestehen. In den
Mitgliedstaaten ließen sich somit regionale Teilwahlen einrichten.
Der
Europäische Rat bliebe für die Kompetenzordnung zuständig
Das
Modell mag utopisch sein. Der gegenwärtige Zustand ist aber
unbefriedigend, denn er wirkt nicht kohäsiv. Er begünstigt die
intergouvernementale Methode und damit das Fortbestehen einer
politischen Entität sui
generis,
die den Herausforderungen der Zeit nicht mehr gerecht wird. Die
Mitgliedstaaten könnten weiterhin in einem Europäischen Rat
zusammenarbeiten und zwei wesentliche Aufgaben innehaben. Erstens
wären sie weiterhin die Herren der Verträge, mithin also für die
Kompetenzordnung der Union zuständig, jedenfalls solange die
Unionsbürger sich nicht eine Verfassung geben, die anderes vorsieht.
Zweitens würde der Europäische Rat – den Rat gäbe es nicht mehr
– nach zu definierender Weise die Rolle eines
Subsidiaritätswächters einnehmen können.
Die
europäische Rechtsetzung würde in dem Zweikammersystem erfolgen und
die Europäische Kommission wäre einer echten, von einer
Parlamentsmehrheit getragenen Regierung gewichen. Deren Aufgabe als
Hüterin der Verträge würde aufgrund ihrer Politisierung
vollständig auf den Europäischen Gerichtshof übergehen. Bestimmte,
kleinteilige Exekutivbefugnisse würden von Agenturen wahrgenommen,
vergleichbar den nachgeordneten Bundesbehörden in Deutschland.
Insgesamt
könnte das Prinzip der Subsidiarität besser eingehalten werden, die
Sphären, Nationalstaat und Europa, wären wie in einer guten
föderalen Ordnung übersichtlicher gegliedert, gleichzeitig aber für
ihre jeweiligen Zuständigkeitsräume relevant. Ein Spiel über
Bande, das Ausnutzen der Union durch die Nationalstaaten, wäre nicht
mehr ohne Weiteres möglich. Das Demokratieprinzip würde gestärkt
und damit auch die Legitimation politischer Entscheidungen der klarer
von der nationalen zu trennenden europäischen Ebene.
Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten, wie sollte es dann aussehen? – Artikelübersicht
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
Bilder: By Awaya Legends [CC BY-SA 2.0], via Flickr; privat [alle Rechte vorbehalten].
Ich bin ganz Ihrer Meinung und habe deshalb bereits angefangen, die Europäische Union in ca. 300 'Wahlkreise' mit durchschnittlich 1,5 Mio Einwohnern einzuteilen, mit max. 25% Abweichung nach oben und unten für die Stimmengleichheit.
AntwortenLöschenUnter dem folgenden Link finden Sie Dateien dazu:
https://drive.google.com/folderview?id=1gudccLUZkU5meLGADUTmT-qLipTeRMHA
Bitte helfen Sie mir, die Einteilung fertig zu machen!
Die 300 Europa-Wahl-Regionen sollten Σ465 Mio/300=Ø1,55 Mio Einwohner haben & dürfen auch grenzüberschreitend sein (Malta & Zypern haben Gemeinsamkeiten & kommen nur zusammen auf 1,55 Mio). Damit erreicht man, dass
a) einerseits jede Stimme bei EU-Wahlen gleich viel wert ist: kein Demokratiedefizit mehr / Stimmen-gleichheit;
b) andererseits aber jede Region in Europa Beachtung findet / nicht benachteiligt wird;
c) die Vertreter im EU-Parlament noch bürgernah genug sind: die größten Städte in Deutschland haben 1,5 Mio Einwohner, deren Bürgermeister sind gerade noch bürgernah genug;
Noch besser wäre es, die EU nicht in zwei Institutionen (Senat und Parlament) zu spalten, die sich dann gegenseitig lähmen; sondern den Senat praktisch in das Parlament zu integrieren: so wie mit den 299 Direkt- und Überhangmandaten im Bundestag! Ein Senat verzerrt die Meinung der Bevölkerung und ist deshalb meiner Meinung nach schlecht für die Demokratie.
AntwortenLöschen