Der Weltstaat hat keine
gute Konjunktur. Betrachtet man die Verwendung
des Begriffs über die Zeit, so zeigt sich ein recht deutliches
Muster: Intensive Diskussionen über ein globales Regime gab es vor
allem dann, wenn gerade ein Weltkrieg die Erde verwüstete (oder, wie
Anfang der 1960er Jahre, die Konfrontation der Supermächte eine
solche Verwüstung wenigstens wahrscheinlich erscheinen ließ) und
die Überwindung der souveränen Nationalstaaten als Lösung für
einen dauerhaften Frieden gesehen wurde. Auch in den Jahren nach
1990, als nach dem Ende des Ost-West-Konflikts plötzlich alles
möglich schien, war die Idee eines Weltstaats noch einmal populär.
Seit der Jahrtausendwende aber ist es ruhiger geworden um sie.
Und nicht nur, dass der Weltstaat als unrealistisch angesehen wird – auch über die Frage, ob er überhaupt wünschenswert sei, besteht alles andere als Konsens. Eine globale Zentralgewalt, deren Gesetze auf dem gesamten Erdball gelten würden, erscheint vielen jedenfalls eher als Alptraumszenario denn als friedenspolitische Verheißung.
Und nicht nur, dass der Weltstaat als unrealistisch angesehen wird – auch über die Frage, ob er überhaupt wünschenswert sei, besteht alles andere als Konsens. Eine globale Zentralgewalt, deren Gesetze auf dem gesamten Erdball gelten würden, erscheint vielen jedenfalls eher als Alptraumszenario denn als friedenspolitische Verheißung.
Globale Verflechtungen schaffen Regelungsbedarf
Womöglich aber ist die
Frage nach dem Weltstaat ohnehin falsch gestellt. Denn tatsächlich
sind die gesellschaftlichen Verflechtungen auf globaler Ebene
heutzutage so groß, dass kaum jemand ernsthaft die Notwendigkeit
eines Mindestmaßes gemeinsamer globaler Regeln in Zweifel ziehen
würde: Der rapide Anstieg des Welthandels und seine Auswirkungen auf
die nationalen Lohn- und Sozialordnungen, die Stabilität des
internationalen Finanzsystems, die neuen Migrations- und
Flüchtlingsströme, Steuerflucht und Steuerhinterziehung, der
internationale Terrorismus und die grenzüberschreitende organisierte
Kriminalität, der Klimawandel und die beschleunigte globale
Verbreitung von Epidemien sind nur einige der Themen, mit denen jeder
Einzelstaat notwendigerweise überfordert ist. Nicht zufällig hat
sich deshalb (gleichzeitig zum Niedergang des Begriffs Weltstaat)
seit den 1990er Jahren das
Schlagwort der Global Governance verbreitet: also die
Vorstellung, dass es im Zusammenspiel verschiedener politischer
Akteure zu einem „weltweiten Regieren“ kommen muss, auch ohne
dass dafür eine formale „Weltregierung“ nötig wäre.
Der
wichtigste Ort für dieses „weltweite Regieren“ sind die
Vereinten Nationen, die im kommenden Jahr ihren 70. Gründungstag
feiern werden. Als weltumspannende Organisation versuchen sie seit
dem Ende des Zweiten Weltkriegs, politische Antworten auf globale
Fragen zu geben – ganz wie es sich die frühen Verfechter eines
Weltstaats gewünscht hätten. Die Frage ist heutzutage also
längst nicht mehr, ob wir
ein globales Regime wollen, sondern wie wir
dieses globale Regime ausgestalten. Erfüllt es die Kriterien von
Effizienz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die wir an politische
Systeme auch auf nationaler oder europäischer Ebene anlegen würden?
Die Hilflosigkeit der
Vereinten Nationen
Betrachtet
man die Vereinten Nationen unter diesem Aspekt, dann werden schnell
ganz andere Probleme deutlich, als man nach der Lektüre klassischer
dystopischer Weltstaatsromane vermuten könnte. Der Hauptvorwurf, dem
sich die globale Instanz staatlicher Ordnung ausgesetzt sieht, ist
nämlich keineswegs ihre übermäßige Macht – sondern, ganz im
Gegenteil, ihre frappierende Hilflosigkeit im Auge drängender
Probleme. Wenn die Vereinten Nationen kritisiert werden, dann
meistens nicht für das, was sie tun, sondern für das, woran sie
scheitern: Wenn es wieder einmal zu Krieg und Gewalt kommt, ohne
dass der UN-Sicherheitsrat es verhindern konnte. Wenn wieder
einmal eine UN-Klimakonferenz endet, ohne
dass eine Einigung erreicht wurde. Wenn sich wieder einmal eine
Krankheit über den Planeten ausbreitet, ohne
dass die Vereinten Nationen Geld zu ihrer Bekämpfung auftreiben
können.
Der Grund für diese
frappierende Ineffizienz des globalen politischen Systems ist
natürlich die fehlende Durchgriffsmacht der UN-Organe. Die regulären
Finanzmittel der Vereinten Nationen (einschließlich der sogenannten
Pflicht-Beitragsumlagen) betragen nicht einmal 15 Milliarden
Dollar im Jahr; alle weiteren Kosten müssen aus freiwilligen
Beiträgen der Mitgliedstaaten bestritten werden. Und anders als etwa
die EU hat die UN-Generalversammlung auch keine supranationalen
Gesetzgebungskompetenzen: Sie kann zwar Resolutionen verabschieden
und internationale Verträge entwerfen, aber völkerrechtlich
verpflichtend werden diese nur, wenn sie von den Mitgliedstaaten
selbst ratifiziert werden.
Eine schwache UNO
macht die Mitgliedstaaten nicht freier
Unmittelbare
Bindungswirkung haben lediglich die Beschlüsse des
UN-Sicherheitsrats, der sein Mandat zur „Wahrung des Weltfriedens“
in den vergangenen Jahren immer wieder recht weit interpretierte.
Doch erstens ist auch dieser für die Umsetzung seiner Resolutionen
in aller Regel auf die Kooperation der Nationalstaaten angewiesen.
Und zweitens gibt es natürlich die fünf Vetomächte USA,
Frankreich, Großbritannien, Russland und China, die immer wieder aus
nationalen Eigeninteressen wichtige Entscheidungen blockieren und
damit dazu beitrugen, dass die Vereinten Nationen in den größten
internationalen Konflikten der letzten Jahre, von Syrien bis zur
Ukraine, nur eine Nebenrolle spielten.
Anders als ein
begeisterter Anhänger der nationalen Souveränität glauben könnte,
ist die Folge dieser Schwäche der UNO aber natürlich nicht etwa
eine größere Handlungsfreiheit der einzelnen Mitgliedstaaten. Denn
die globalen Probleme verschwinden ja nicht einfach, nur weil es
keine globale Instanz gibt, die sich darum kümmern kann. Gewiss, es
würde keinem Staat gefallen, wenn er bei den weltweiten
Klimaschutzverhandlungen überstimmt werden könnte oder die
Vereinten Nationen ihm verbindliche Vorschriften zur
Bankenregulierung machen würden. Aber ohne eine handlungsfähige UNO
fehlt eben auch ein Akteur, der auf das globale Gesamtinteresse
verpflichtet ist – und im Konflikt zwischen den nationalen
Eigeninteressen bleiben die Probleme dann entweder ungelöst oder
lösen sich auf Kosten der Schwächsten. Das Rodrik-Trilemma,
dem zufolge eine nur nationale Demokratie unter den Bedingungen
staatenübergreifender gesellschaftlicher Verflechtungen nicht
funktionieren kann, gilt für die globale Ebene nicht weniger als für
die EU.
Die Macht des Sicherheitsrats und der Grundrechtsschutz
Die Hilflosigkeit der
Vereinten Nationen gegenüber der Souveränität ihrer
Mitgliedstaaten ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der
anderen Seite steht ihre schon heute oft erschreckende Macht
gegenüber den einzelnen Menschen, die sich unter ihrer Kontrolle
befinden. So kam es in den letzten Jahren immer wieder zu
Menschenrechtsverletzungen
durch UN-Personal und Angehörige von UN-Friedenstruppen.
Immerhin aber besteht Einigkeit darüber, dass es sich dabei um ein
Übel handelt, das bekämpft werden muss. 2007 richteten die
Vereinten Nationen dafür eine Conduct
and Discipline Unit ein, die in entsprechenden Fällen ermittelt
und gegebenenfalls Disziplinarmaßnahmen ergreift. (Die
Strafverfolgung hingegen bleibt mangels Kompetenz der UNO den
jeweiligen Nationalstaaten überlassen.)
Von einem
rechtspolitischen Standpunkt noch gravierender dürfte deshalb eine
andere Entwicklung sein: nämlich die Resolutionen, die der
UN-Sicherheitsrat seit 2001 zur Bekämpfung des internationalen
Terrorismus verabschiedet hat. Unter anderem enthalten diese eine
Liste von Personen, die der Sicherheitsrat für Al-Qaida-Mitglieder
hält, und die völkerrechtlich bindende Verpflichtung für die
Mitgliedstaaten, sämtliche Finanzmittel von allen Personen auf
dieser Liste einzufrieren. Eine Möglichkeit, gegen diese Einstufung
als Terroristen gerichtlich vorzugehen, haben die Betroffenen
wenigstens auf UN-Ebene nicht – was natürlich gegen grundlegende
Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstößt.
In den berühmten
Kadi-Urteilen, über
die ich in diesem Blog bereits ausführlicher berichtet habe,
beschloss der Gerichtshof der Europäischen Union deshalb, Beschlüsse
des UN-Sicherheitsrats unter eine Art generellen Grundrechtsvorbehalt
zu stellen. Das aber löst das Problem natürlich allenfalls für die
Bürger der EU. Die Vereinten Nationen (speziell der Sicherheitsrat)
selbst zeigen hingegen bis
heute nur wenig Sensibilität, wenn es um das Austarieren
zwischen Terrorbekämpfung und Grundrechtsschutz geht.
Weltverfassungsgericht
und Weltparlament
Je mehr supranationale
Macht man an die Vereinten Nationen übertragen möchte, desto
wichtiger wird es auch, sie demokratisch und rechtsstaatlich
auszugestalten. Das bedeutet zum einen, dass es auch auf UN-Ebene
eine wirksame Gewaltenteilung mit Grundrechtsschutz geben muss: Der
Sicherheitsrat kann nicht Legislative, Exekutive und Judikative in
einem sein. Stattdessen bräuchten wir eine Art
Weltverfassungsgericht, das dem Einzelnen einen Rechtsweg gegen
UN-Beschlüsse eröffnet und darauf achtet, dass die Organe der
Vereinten Nationen ihr Mandat nicht überschreiten.
Zum anderen müssten die
Bürger auch selbst mehr Möglichkeiten bekommen, ohne Vermittlung
durch die nationalen Regierungen an der Ausgestaltung der
UN-Rechtsordnung teilzuhaben. Ein Mittel dafür könnten die globalen
Parteien (oder „Internationalen“) sein, die ein System der
politischen Repräsentation auf
Grundlage weltanschaulicher Überzeugungen anstelle nationaler
Staatsangehörigkeiten ermöglichen würden. Damit die globalen
Parteien ihr heutiges Schattendasein überwinden können, benötigen
sie allerdings zunächst einmal ein Forum, auf dem sie politisch
wirksam sein könnten – ein UN-Parlament oder wenigstens eine
globale Parlamentarische Versammlung.
Hat hier jemand Weltstaat
gesagt? Wir brauchen den Weltstaat nicht als Wert an sich oder als
abstrakten, utopischen großen Wurf. Was wir brauchen, ist eine
stärkere, handlungs- und durchsetzungsfähigere UNO, die es uns
ermöglicht, globale Probleme zu lösen, und die gleichzeitig
bestimmte rechtsstaatliche und demokratische Minimalstandards
erfüllt. Aber wenn das, was dabei herauskommt, dann Ähnlichkeit mit
dem hat, was wir als einen „föderalen Weltstaat“ bezeichnen
würden, so sollten wir uns jedenfalls auch nicht deshalb von unserem
Vorhaben abbringen lassen.
Am 24. Oktober ist der Tag der Vereinten Nationen. Vom 17. bis
26. Oktober 2014 findet deshalb die zweite „Globale Aktionswoche für ein
Weltparlament“ statt, mit rund vierzig Veranstaltungen auf fünf
Kontinenten. Mehr Informationen dazu sind hier
zu finden (oder auf Twitter unter dem Hashtag #worldparlnow).
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Bilder: by Angelina Earley (daedrius) [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; by organisers of the Global Week of Action for a World Parliament, via worldparliamentnow.org.
Ich weiß nicht, ob ich eine andere Auffassung zur UN habe, aber zumindest ist meine Herangehensweise eine andere. Für mich ist die UN keine Organisation, die auf eine globale „Regierungstätigkeit“ abzielt, sondern eine Organisation, welche die Staaten der Welt an einen Tisch bringt. Wichtigster Grundsatz ist daher die Achtung der Souveränität der Nationalstaaten und das wichtigste Ziel, eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Großmächten zu verhindern.
AntwortenLöschenVor diesem Hintergrund verbietet sich aber die Übertragung zu weitgehender (Durchgriffs-)Rechte auf die UN, da diese dann nicht mehr diese neutrale Rolle einnehmen könnte, sondern politischer Akteur wäre, wie eben die EU einer ist. Durchgriffsrechte bei „Notfällen“ sind vertretbar und auf freiwilliger Basis können die Staaten ja sowieso ohne weiteres Zusammenarbeiten, wenn sie das denn wollen (z.B. Klima), aber einer Weiterentwicklung im Sinne eines „Weltstaates“ ist aus meiner Sicht abzulehnen. Gerne können sich verschiedene Staaten zu einem globalen Verbund zusammenschließen, der dann „staatenähnlicher“ ist, aber mir wäre es doch sehr recht, wenn die UN als Überbau weiterhin auch für all jene Staaten dienen kann, die bei sowas nicht mitmachen wollen.
P.S.:
Insgesamt müsste der Beitrag meines Erachtens auch auf die Frage der unterschiedlichen Staatsmodelle in der Welt eingehen und was dies für eine Bedeutung für das hat, was man als „Schwäche der UN“ wahrnimmt. Auch die Auswirkungen der unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklungen in der Welt auf eine Ausgestaltung eines „Weltstaats“ im Sinne eines europäischen Staatenmodells, mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung, Rechts- und Sozialstaatlichkeit sollte meines Erachtens nicht ganz außen vor bleiben.
Debatten Beitrag bei Publixphere zum Thema UN
https://publixphere.net/i/publixphere-de/proposal/990-Die_Schwäche_der_Vereinten_Nationen
Deine und meine Souveränität ist wie unser beider Frieden daraus, dass uns ein staatliches Gewaltmonopol hindert, etwaige Streitigkeiten mit Gewalt lösen zu dürfen.
AntwortenLöschenDarum braucht es eine überlegen militarisierte Verwirklichung des völkerrechtlichen Gewaltmonopols der Vereinten Nationen und eine Abrüstung aller Nationen auf polizeiliche Erfordernisse, um die Nationen mit ihren internationalen Streitigkeiten auf zivile Wege zu zwingen, also Streitigkeiten demokratisch, diplomatisch oder gerichtlich zu entscheiden - anstelle von Selbstjustiz.
Insbesondere schwächere Staaten / schwache Leute müssten eigentlich kapieren, dass ein auf Selbstverteidigung beruhendes Sicherheitskonzept die Stärkeren privilegiert, das Wettrüsten forciert und zur Selbstjustiz verführt.