15 September 2014

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: Die Auswirkungen des Europawahljahrs auf die europäische Demokratie

Vier Monate nach der Europawahl wird es Zeit für eine Bilanz. Am 17. September im EU-Infozentrum Berlin.
Das Europawahljahr 2014 tritt in die Schlussphase ein – und was haben wir nicht alles erlebt: Das neue Spitzenkandidaten-Verfahren. Die Erfolge der Rechtspopulisten. Und jetzt die Kommission Juncker mit ihren Vizepräsidenten und Projektteams. Welche Folgen das alles für die Europäische Union haben wird, darum soll es bei einer Diskussion mit dem Titel Europa nach den Wahlen: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel? gehen, die am kommenden Mittwoch, 17. September, von 19 bis 21 Uhr im Europäischen Informationszentrum Berlin stattfinden wird (hier die Details). Auf dem Podium vertreten sind Bernhard Schnittger von der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, Elisabeth Wisniewski vom deutschen Informationsbüro des Europäischen Parlaments, Funda Tekin vom Institut für Europäische Politik und ich selbst als Vertreter der Jungen Europäischen Bewegung. Moderieren wird Jan Roessel von der Deutschen Gesellschaft e.V.

Vor dieser Diskussion habe ich hier einige Überlegungen zur Europawahl, von denen viele auf diesem Blog bereits in den letzten Monaten zu lesen waren, noch einmal in zehn Thesen zusammengefasst.

Die europäische Demokratie und ihre Hindernisse

1. Die Europawahlen müssten der zentrale Mechanismus für die demokratische Legitimität der EU sein. Sie sollen den europäischen Bürgern die Gelegenheit geben, mit der Wahl zwischen konkurrierenden Parteien zugleich auch eine inhaltliche Richtungsentscheidung zu treffen, die dann dank ihres demokratischen Zustandekommens europaweit Anerkennung findet. Allerdings gibt es verschiedene Effekte, aufgrund deren die Wahl diese Funktion noch nicht perfekt erfüllt.

2. Zum einen erfolgen die Europawahlen bislang zwar europaweit gleichzeitig, aber nach Mitgliedstaaten getrennt. Die EU-Abgeordneten werden also jeweils von ihren nationalen Parteien nominiert und von einer nationalen Wählerschaft gewählt. Dies schwächt die Position der europäischen Parteien gegenüber ihren nationalen Mitgliedsverbänden. Die Entscheidungsfindung im Europäischen Parlament selbst erfolgt zwar im Rahmen gesamteuropäischer Fraktionen. Dennoch wissen die Abgeordneten, dass über ihre Wiederwahl allein in einem nationalen Rahmen entschieden wird, und sind deshalb strukturell vor allem dem Programm ihrer nationalen Partei verpflichtet.

3. Zum anderen erzwingen die konsensorientierten Entscheidungsverfahren der EU breite, fraktionenübergreifende Bündnisse – eine Art „permanente Große Koalition“. Im Europäischen Parlament gibt es deshalb bislang keine Wechselspieldynamik zwischen einer Regierungsmehrheit und einer Opposition, wie man sie auf nationaler Ebene kennt. Diese fehlende Alternanz führt dazu, dass unzufriedene Wähler die europapolitische Führungsriege bei der Europawahl nicht einfach abwählen können (in den Worten von Carroll Quigley: „to throw the rascals out“). Zudem haben die großen europäischen Parteien aufgrund der „permanenten Großen Koalition“ oft Schwierigkeiten, der Öffentlichkeit ihre Unterschiede zu vermitteln.

Die Fortschritte von 2014

4. Das Spitzenkandidaten-Verfahren, das dieses Jahr erstmals angewandt wurde, leistet einen wichtigen Beitrag, um diese Negativeffekte zu reduzieren. Es begünstigt eine Personalisierung des Wahlkampfs und verschafft dadurch den gesamteuropäischen Parteien und Themen mehr Sichtbarkeit. Außerdem sind die Spitzenkandidaten für ihre Wahl auf die Unterstützung ihrer gesamteuropäischen Partei sowie der gesamteuropäischen Wählerschaft angewiesen. Sie sind deshalb stärker als alle anderen Akteure durch Verfahrensmechanismen auf eine gesamteuropäische statt nur nationale Programmatik ausgerichtet. Und schließlich haben die europäischen Bürger, wenn sie mit der Amtsführung des Kommissionspräsidenten unzufrieden sind, künftig eine effektive Möglichkeit, um diesen bei der nächsten Wahl abzuwählen.

5. Auch dass es durch die neue Rolle der Vizepräsidenten künftig eine hierarchische Abstufung innerhalb der Europäischen Kommission geben wird, ist ein Fortschritt für die Sichtbarkeit europäischer Politik: Die Vizepräsidenten können die Gesichter der EU werden, die auch eine europapolitisch nur begrenzt interessierte Öffentlichkeit kennt. Sie haben dadurch die Chance, ein breiteres Publikum zu erreichen und den europapolitischen Diskurs, der derzeit stark von den nationalen Regierungen geprägt ist, um die Perspektive einer gesamteuropäischen Institution zu erweitern.

Weitere Neuerungen sind nötig

6. Allerdings sind durch diese Fortschritte noch nicht alle genannten Probleme aus dem Weg geräumt. Obwohl das Spitzenkandidaten-Verfahren bereits einen beträchtlichen Gewinn an Sichtbarkeit brachte, standen im Wahlkampf in der Regel weiterhin die nationalen, nicht die gesamteuropäischen Parteien und Parteiprogramme im Mittelpunkt der Debatte. Dadurch wurde die Wahrnehmung der Wahl als gesamteuropäische demokratische Richtungsentscheidung eingetrübt. Um die Relevanz der Wahl zu steigern, müssten die europäischen Parteien weiter gestärkt werden. Dies ließe sich insbesondere durch die Einführung transnationaler Listen erreichen: Die Abgeordneten auf den transnationalen Listen wären (so wie schon jetzt die Spitzenkandidaten) nicht mehr primär ihren jeweiligen nationalen Parteien, sondern ihrer gesamteuropäischen Partei und deren Programmatik verpflichtet.

7. Das Spitzenkandidaten-Verfahren führt zwar dazu, dass für die Parteizugehörigkeit des Kommissionspräsidenten von nun an das Ergebnis der Europawahl entscheidend ist. Die Parteizugehörigkeit der übrigen Kommissionsmitglieder jedoch hängt weiterhin vor allem von der parteipolitischen Ausrichtung ihrer jeweiligen nationalen Regierung ab, von der sie nominiert werden. Dies führt dazu, dass sich in der Kommission Vertreter aller großen europäischen Parteien befinden. Auch für das Kräfteverhältnis zwischen ihnen (bisher: 12 EVP, 9 ALDE, 7 SPE, künftig: 14 EVP, 8 SPE, 5 ALDE, 1 AECR) ist der Ausgang der Europawahl weitgehend bedeutungslos. Insgesamt bleibt die Kommission deshalb Ausdruck der „permanenten Großen Koalition“, die eine demokratische Alternanz auf EU-Ebene verhindert. Um dies zu ändern, wäre es nötig, dass die Kommission künftig ausschließlich vom Europäischen Parlament gewählt wird. Dadurch könnten die Bürger bei der Europawahl indirekt auch über die parteipolitische Zusammensetzung der Kommission entscheiden. Die nicht an der Kommission beteiligten Parteien wiederum könnten in die Opposition gehen und sich dadurch als Alternative für die nächste Europawahl profilieren.

Fehlende Alternanz und Rechtspopulismus: ein Teufelskreis droht

8. Dass eine derartige demokratische Alternanz auf europäischer Ebene bislang nicht gibt, erweckt in der Öffentlichkeit einen Eindruck von „Alternativlosigkeit“ und führt zur steigenden Europaverdrossenheit großer Teile der Bevölkerung. Dies ist ein wesentlicher Erklärungsfaktor für die Erfolge europafeindlicher und (rechts)populistischer Parteien bei der Europawahl: Wenn unzufriedene Bürger keine Möglichkeit sehen, innerhalb des Systems politische Veränderungen auszulösen, wenden sie sich an Parteien, die das politische System der EU insgesamt ablehnen.

9. Kurzfristig werden die Wahlerfolge europafeindlicher Parteien kaum Auswirkungen auf die europäische Gesetzgebung haben. Zum einen haben rechtspopulistische und rechtsextreme Abgeordnete schon in der Vergangenheit nur wenig Interesse an konstruktiver Parlamentsarbeit gezeigt. Zum anderen dürfte die Radikalisierung des rechten Spektrums dazu führen, dass EVP und SPE im Parlament noch enger kooperieren als bisher. Beides führt zu einer weitgehenden Isolierung der europafeindlichen Parteien.

10. Mittelfristig gehen von den Wahlerfolgen der Rechtspopulisten allerdings zwei Gefahren aus. Zum einen wird die verstärkte Zusammenarbeit von EVP und SPE im Parlament dazu führen, dass die Unterschiede zwischen diesen Parteien in der Öffentlichkeit noch schwerer zu erkennen sind. Zum anderen könnten EVP und SPE versucht sein, selbst europaskeptischere Positionen einzunehmen, um verlorene Wähler zurückzugewinnen. Dies könnte dazu führen, dass die großen Parteien sich „proeuropäischen“ Reformen wie den transnationalen Listen oder der Wahl der Kommission durch das Parlament verweigern. Dadurch droht ein Teufelskreis: Die fehlende demokratische Alternanz auf europäischer Ebene führt zu Wahlerfolgen der Rechtspopulisten; die Wahlerfolge der Rechtspopulisten erschweren die demokratische Alternanz auf europäischer Ebene. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen wird in den nächsten Jahren die wichtigste Aufgabe für all jene sein, denen die europäische Demokratie am Herzen liegt.


Bild: von © Ralf Roletschek - Fahrradtechnik und Fotografie (Eigenes Werk) [GFDL oder CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.

3 Kommentare:

  1. Weitgehende Zustimmung, allerdings sehe ich die Risiken für die EU eher auf nationaler Ebene. Heißt, England / Schottland (Abspaltung/Austritt), Ungarn, Griechenland oder auch eine erstarkende Le Pen in Frankreich.

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    1. Könnte es auch sein, dass wenn Großbritannien austritt und allein dasteht, dadurch dann wirtschaftlich kaputtgeht, das den anderen Ländern die Augen öffnet und dann FN und FPÖ nicht mehr gewählt werden ? Am Ende bettelt dann GB dass sie zurückkommen dürfen.

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    2. Wie ich vermutet habe, ist das weit größere Risiko für die EU die nationale Ebene. Glücklicherweise ist es hier nur die griechische Syriza und nicht Frankreichs Front National, aber ich denke es belegt meine These.

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