- Wenn die europäischen Parteien in der Wählergunst auf- und absteigen, bleibt das in der Öffentlichkeit meistens leider allzu lange unbemerkt.
Ob die Europäische
Volkspartei ihre Prioritäten anders gesetzt hätte, wenn ihr klar
gewesen wäre, wie schlecht ihre Politik bei den Wählern ankam? Noch
Ende 2011 befanden sich die europäischen Christdemokraten auf
dem Gipfel ihres institutionellen Einflusses, stellten die
Präsidenten der Europäischen Kommission, des Europäischen
Parlaments und des Europäischen Rates sowie 17 der 27 nationalen
Regierungschefs der EU. Bei der Europawahl im Mai 2014 jedoch büßten sie fast ein Fünftel ihrer Sitze ein: Von 274 Mandaten
blieben nur 221 übrig. Dies war ein Absturz, wie ihn noch
nie zuvor eine große europäische Partei erlitten hatte – auch
wenn die EVP dank der anhaltenden Schwäche der Sozialdemokraten ihre
Stellung als stärkste Kraft im Parlament verteidigen
konnte.
Ab wann die Wähler
sich von der EVP abwandten, ist unklar
Eine Hauptursache für
dieses Debakel ist ohne Zweifel die Eurokrise. Wenig überraschend
wurde die politische Verantwortung für die stetig steigende
Arbeitslosigkeit vor allem jener Partei angerechnet, die in den
letzten Jahren die europäischen Institutionen dominiert hatte, ohne
die wirtschaftliche Misere beenden zu können. Ab wann genau die
europäischen Wähler sich von den Christdemokraten abzuwenden
begannen, bleibt jedoch offen – ebenso wie die Frage, was diese
hätten tun können, um ihren Niedergang abzuwenden.
Gewiss, einige nationale
Wahlen (etwa 2012
in Frankreich und 2013
in Italien) deuteten bereits an, dass die Zeiten für die EVP
nicht einfacher wurden. Aber regelmäßige Umfragen, bei denen Bürger
aus allen EU-Mitgliedstaaten nach ihren Wahlabsichten bei der
nächsten Europawahl gefragt würden, gibt es bis heute nicht. Und so
dürfte vielen Christdemokraten das ganze Ausmaß ihres Problems erst
bewusst geworden sein, als im November 2013 die ersten
Projektionen
erschienen, die (auch
in diesem Blog) nationale Umfragen der einzelnen Mitgliedstaaten
zu einer gesamteuropäischen Wahlprognose aggregierten und dabei ein
Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden größten Fraktionen des
Parlaments feststellten. Für die EVP war es da aber bereits zu spät:
Schon die ersten dieser Vorwahlprognosen sahen sie bei knapp unter
220 Sitzen, und im folgenden Europawahlkampf gelang es der Partei
kaum noch, wieder Boden gut zu machen.
Kritik an der
Umfragedemokratie
Wenn es darum geht,
welche Bedeutung Wahlumfragen auf die Qualität der Demokratie haben,
so findet man unter politischen Kommentatoren oft eher skeptische
Ansichten. In der NZZ etwa war vor einigen Jahren von einer
„Sinnkrise
der Umfragedemokratie“ die Rede; die Süddeutsche Zeitung
erklärte vor der Bundestagswahl im Herbst 2013, dass „mit
so gut wie jeder Umfrage eine ungeheure Anmaßung einhergeht“.
Und es ist ja wahr: Eine Regierung, die ihr Handeln ausschließlich
an der Demoskopie ausrichtet, würde nicht nur schnell unglaubwürdig,
sondern mittelfristig wohl auch einigen politischen Schaden
anrichten.
Umfragen sind nicht mehr
als verschwommene Momentaufnahmen, und die Aufregung, die kleine
Schwankungen bei den Beliebtheitswerten bestimmter Parteien und
Politiker in der öffentlichen Debatte auslösen können, steht in
keinem Verhältnis zu ihrer realen Bedeutung. Umfragen können zu
Wahlkampfzwecken ge- und missbraucht werden; sie können eine
öffentliche Meinungslage vorspiegeln, wo die meisten Menschen
vielleicht einfach nur unentschlossen sind. Manchmal liegen sie
falsch, weil die zugrundeliegende Stichprobe eine Schlagseite hatte;
manchmal sind sie bis zur ihrer Veröffentlichung schon durch neue
Ereignisse überholt. Und einen inhaltlichen Austausch von Argumenten
über das Gemeinwohl ersetzen können sie sowieso nicht.
Umfragen helfen uns
zur Orientierung im politischen Geschehen
Und dennoch erfüllen
Umfragen auch eine zentrale demokratische Funktion: Wie die
Politologen Sieglinde Rosenberger und Gilg Seeber formuliert
haben, erzeugt die Demoskopie
„eine diskursive, symbolische Wirklichkeit“ und leistet so „einen
wesentlichen Beitrag zur Komplexitätsreduktion von politischen
Prozessen und Akteuren im Mehrebenensystem“. Etwas einfacher
ausgedrückt: Meinungsforschung strukturiert die Art, wie wir über
Politik sprechen und denken, und trägt dadurch dazu bei, dass wir in
einer immer unübersichtlicheren Welt überhaupt etwas haben, was uns
in der politischen Debatte als Orientierungspunkt dienen kann.
Das
gilt zum einen für die Politiker selbst: Wer in Brüssel oder
Straßburg Entscheidungen trifft, der soll dabei idealerweise die
Interessen und Wünsche von Millionen europäischer Bürger
berücksichtigen. Da es völlig unmöglich ist, diese alle im
persönlichen Gespräch kennenzulernen, sind Politiker auf andere
Hilfsmittel angewiesen. Und dabei spielen (neben den Medien und den
Interessenverbänden) auch Meinungsumfragen eine wichtige Rolle: Sie
ermöglichen den Entscheidungsträgern frühzeitig einen Eindruck
davon zu gewinnen, wie ihre Maßnahmen in der Bevölkerung ankommen –
was allemal besser ist, als wenn sie erst bei der Wahl erfahren, dass
sie womöglich jahrelang an den Interessen einer Mehrheit
vorbeiregiert haben.
Dass
dies auch die EU erkannt hat, zeigt das 2006 veröffentlichte
Weißbuch
über eine europäische Kommunikationspolitik.
Darin unterstrich die Europäische
Kommission die Bedeutung der Demoskopie, „um dem wachsenden
Bedürfnis nach
einem umfassenderen und eingehenderen Verständnis der Meinungstrends
in Europa Rechnung zu tragen“. Die zuständige Kommissarin Margot
Wallström (S/SPE) schlug sogar die Gründung
eines unabhängigen Europäischen Meinungsforschungsinstituts
vor. Angesichts einer stark an nationalen Grenzen fragmentierten
Medienöffentlichkeit, so ihre Überlegung, würde die EU nur durch
mehr und bessere gesamteuropäische Umfragen ein Bild von den
vielfältigen und teils widersprüchlichen Wünschen ihrer Bürger
bekommen.
Meinungsumfragen
wirken identitätsstiftend
Noch
wichtiger aber dürfte ein weiterer Aspekt sein, der nicht in dem
Weißbuch stand: Meinungsumfragen sind nämlich nicht nur für
Politiker wichtig, die ihre Wähler verstehen wollen, sondern auch
für uns Bürger selbst. Denn auch wir kennen von „der
Gesellschaft“ ja normalerweise nur den kleinen Ausschnitt der
Menschen, die uns im Alltag umgeben und meist recht ähnliche
Verhaltensweisen, Überzeugungen und politische Ansichten haben wie
wir. Wenn wir über diesen Horizont hinausblicken und uns in einem
größeren politischen Kontext verorten wollen, sind deshalb auch wir
auf Umfragen angewiesen: Ob diese oder jene Partei „sich auf dem
absteigenden Ast befindet“, ob „der Zeitgeist wieder
nationalistischer wird“, ob die Menschen „die
Wirtschaftsentwicklung mit Optimismus“ sehen, all das wissen wir
nur, weil Demoskopen es uns gesagt haben.
Zugleich
bedeutet das aber auch, dass Meinungsumfragen eine
identitätsstiftende Wirkung haben. Wir müssen uns der (von den
Demoskopen konstruierten) „öffentlichen Meinung“ nicht
anschließen – aber sie bildet den Bezugsrahmen, vor dem wir unsere
eigenen Ansichten formulieren. Und nicht zuletzt bestimmt sie auch
unsere Erwartungen an politische Akteure: Irgendetwas, so wird sich
jeder deutsche Zeitungsleser vor einigen Tagen gedacht haben, muss
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) wohl richtig machen, wenn sie
nach
fast neun Jahren im Amt so beliebt ist wie niemals zuvor. Die SPD
(SPE) hingegen konnte zuletzt zwar viele ihrer politischen Ziele
umsetzen, steuert jedoch auf
einen internen Streit zu, da die Erfolge in der Sache nicht zu
steigenden Umfragewerten führten.
Das
Fehlen von Umfragen schwächt die europäische
Öffentlichkeit
Angesichts
der anhaltend hohen Popularität der CDU/CSU sollte es übrigens
nicht überraschen, wenn die deutschen Christdemokraten am meisten
über den Absturz ihrer europäischen Dachpartei erstaunt waren
(falls sie diesen überhaupt wahrgenommen haben). Es sind eben die
nationalen Wahlumfragen, die durch ihr regelmäßiges Erscheinen am
stärksten unser Verständnis davon prägen, welche Parteien „auf
dem richtigen Weg sind“. Und gerade Merkels Europapolitik gilt in
Deutschland als
überaus beliebt – bis zu dem Punkt, dass der Philosoph Jürgen
Habermas ihr vor
einigen Jahren „demoskopiegeleiteten Opportunismus“ vorwarf.
Mit
den gesamteuropäischen Parteidynamiken werden wir hingegen fast nie
konfrontiert. Das Narrativ, dass die europäischen Christdemokraten
sich in der letzten Wahlperiode politisch aufopferten, um eine
Sparagenda durchzusetzen, an die sie offenbar glaubten, auch wenn
eine große Mehrheit der europäischen Bürger sie ablehnte: dieses
Narrativ haben wir in den Medien fast nie gelesen. Da es keine
regelmäßigen EU-weiten Wahlumfragen gibt, nehmen wir kaum wahr, wie
beliebt oder unbeliebt die Linie einer Partei auf gesamteuropäischer
Ebene eigentlich ist. Stattdessen neigen die meisten Medien dazu,
europäische Politik entlang eines Deutungsmusters nationaler
Interessen zu beschreiben: Es waren „die Deutschen“, die die
Sparpolitik forderten, und „die Südeuropäer“, die sich dagegen
sträubten.
Letztlich
ist das Fehlen regelmäßiger gesamteuropäischer Umfragen damit auch
ein Hindernis für die Herausbildung einer europäischen
(Parteien-)Identität. Es begünstigt das Denken in nationalen
Kategorien und trägt dazu bei, dass die
Relevanz der europäischen Parteien und ihrer programmatischen
Unterschiede bis heute oft unterschätzt wird. Es schwächt die
europäische Öffentlichkeit und unser Bewusstsein für politische
Entwicklungen jenseits der eigenen nationalen Grenzen. Und es ist
sicher einer der Gründe dafür, dass die Beteiligung bei
Europawahlen bis heute so niedrig ist.
Künftig
regelmäßige Prognosen auf diesem Blog
Kann
man dagegen etwas tun? Natürlich könnte man, wenn man viel Geld
hätte oder ein europaweit aktives Meinungsforschungsinstitut wäre.
Auch die Europäische Kommission könnte einiges bewegen, wenn sie in
ihren Eurobarometer-Umfragen,
die seit 1973 regelmäßig
erhoben werden, einfach eine
Frage zur Wahlabsicht ergänzen würde. Solange das jedoch nicht in
Sicht ist, sind wir auf eine zweitbeste Lösung angewiesen: auf das
Sammeln und Zusammenfügen nationaler Umfragen zu einem
gesamteuropäischen Bild.
Wie
erwähnt, gab es im Vorfeld der Europawahl 2014 eine ganze Reihe von
Institutionen und Medien, die solche Umfrage-Aggregate
veröffentlichten (einen Überblick hat Wikipedia).
Sie alle beschränkten sich aber auf das letzte halbe Jahr vor der
Wahl. Um die gesamteuropäischen Parteidynamiken auch zwischen
den Wahlen zu verstehen, sind dagegen regelmäßige Projektionen
notwendig, die uns ein Bild vom zeitlichen Verlauf vermitteln.
Natürlich
geht das mit einer Reihe methodischer Probleme einher, von denen ich
einige bereits hier
beschrieben habe. Insbesondere erheben die Meinungsforscher auch auf
nationaler Ebene nur in den letzten Monaten vor der Wahl spezifische
Europawahl-Umfragen. Ansonsten wird in der Regel die Wahlabsicht für
die nächste nationale Parlamentswahl
abgefragt, die mit der Wahlabsicht für die Europawahl oft, aber
nicht immer übereinstimmt. Eine gesamteuropäische Prognose auf
Grundlage nationaler Umfragen wird deshalb notwendigerweise eine
recht hohe Fehlermarge haben.
Aber
auch ein verschwommenes Bild ist besser als überhaupt kein Bild –
und wenn das nächste Mal eine europäische Partei so ins Rutschen
gerät wie zuletzt die EVP, dann wollen wir das nicht erst mit
einigen Jahren Verspätung bemerken. In diesem Blog wird es deshalb
künftig eine regelmäßige Prognose geben, die die nationalen
Wahlumfragen aus den einzelnen Mitgliedstaaten auf die mögliche
Sitzverteilung im Europäischen Parlament hochrechnet. Sie wird alle
zwei Monate aktualisiert werden und ist hier
zu finden.
Bild: By European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
Was ist mit "big data" Analyse? Weisst du ob auf EU Ebene damit/daran gearbeitet wird? Was ist mit dir, bist du damit vertraut, hast du dich dafür interessiert?
AntwortenLöschenMfG,
Pierre (LAG Europa/Die Grünen)
Hallo Herr Müller,
AntwortenLöschengesamteuropäische Demoskopie ist eine gute Idee, hierfür viel Erfolg. Inhaltlich will ich aber doch ein wenig widersprechen. Ich denke „Merkozy“ war europaweit bekannt und nicht zuletzt hat die Verbindung von Sarkozy zu der Rettungspolitik den Wahlausgang 2012 in Frankreich deutlich beeinflusst. Ich habe eben einen älteren Artikel nochmal durchgelesen und darin hatte ich die Hoffnung, dass die Abwahl Sarkozys zu einem Umdenken bei der Rettungspolitik führt. Umgekehrt bedeutet das, dass schon damals offensichtlich die konservative Achse „Merkozy“ die Rettungspolitik bestimmte und dies auch so in der öffentlichen Debatte wahrgenommen wurde.
http://www.mister-ede.de/politik/ein-neuer-europaischer-weg/1125
Die Auswirkung dieser Politik in den Krisenstaaten war bekannt und welche Folgen das für jene Parteien hat, die in den Krisenstaaten diese Politik umsetzen, war ebenso klar. Dennoch konnte sich Hollande gegen die konservativen Kräfte nicht durchsetzen und auch die Wahlniederlage nahmen die Regierungschefs nicht zum Anlass ihre Politik zu überdenken. in der Folge entschied sich der EU-Gipfel für ein „weiter so“ in der Europapolitik, statt für einen „neuen Weg“.
http://www.mister-ede.de/politik/weiter-so-statt-neuer-weg/1197
Ich denke daher nicht, dass der Verlust der EVP wirklich überraschte, sondern eher, dass diese Entwicklung vielen konservativen Abgeordneten in Deutschland einfach recht egal war und ist.