20 Mai 2014

Europawahlprogramme (6): Demokratie, Vertragsreform, Europäischer Konvent

Ob Finanzkrise, Klimawandel, Außenpolitik, Migration oder die Zukunft der Demokratie: Die EU ist in so vielen Bereichen aktiv, dass es keinen Grund gibt, vor der Europawahl auf nationale Nebenschauplätze auszuweichen. In einer Serie werden hier die Vorschläge verglichen, die die großen europäischen Parteien in ihren Wahlprogrammen formuliert haben – die christdemokratische EVP (Manifest/Aktionsprogramm), die sozialdemokratische SPE, die liberale ALDE, die grüne EGP und die linke EL. (Zum Anfang der Serie.)
Mehr Rechte für das Europäische Parlament wollen alle Parteien. Darüber hinausgehende Reformvorschläge haben besonders die Grünen, Liberalen und Linken.
 
Die Bereitschaft zu einer großen demokratischen Reform der EU, zur Einberufung eines Europäischen Konvents und zu einer gründlichen Überarbeitung der Verträge, durchlief in den letzten fünf Jahren eine wechselhafte Konjunktur. Als kurz nach der Europawahl 2009 der Vertrag von Lissabon in Kraft trat, herrschte unter vielen Medien und Politikern die Erwartung vor, dass es mit der Reformerei nun erst einmal zu Ende sein würde. Nur wenige Monate später jedoch erreichte die Eurokrise ihren ersten dramatischen Höhepunkt, als Griechenland kurz vor dem Bankrott stand und der Europäische Rat das erste Notkredite-Paket beschloss. In der Folge kam es zu einer Reihe improvisierter institutioneller Neuerungen: vom Fiskalpakt über den ESM bis zu der (in keinem Vertrag erwähnten) „Troika“, die über die Einhaltung der Sparauflagen in den Krisenländern wacht.

Diese Krisenmaßnahmen waren nicht nur rechtliche Drahtseilakte, sondern stießen auch in den meisten Mitgliedstaaten auf scharfe Kritik – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Beides belebte die Diskussion über einen Europäischen Konvent, der die Gelegenheit zu einer grundsätzlichen Neuorientierung der EU bieten sollte. Anfang 2012 lud der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP/ALDE) einige seiner Amtskollegen zur Gründung einer „EU-Zukunftsgruppe“ nach Berlin. Ein halbes Jahr später kündigte Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) Vorschläge zur Umwandlung der EU in eine „demokratische Föderation von Nationalstaaten“ an. Ende 2013 sprach der italienische Premierminister Enrico Letta (PD/SPE) von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Und eine Gruppe von Europaabgeordneten präsentierte gar einen ausformulierten Entwurf für ein neues „EU-Grundgesetz“. Viele Kommentatoren – auch ich selbst – hielten 2015 für einen plausiblen Zeitpunkt für die Einberufung eines neuen Konvents.

Doch als die akute Phase der Eurokrise endete und der plötzliche Kollaps der Eurozone ein immer unwahrscheinlicheres Szenario wurde, ging auch der Drang nach einer Vertragsreform wieder zurück. Guido Westerwelle und Enrico Letta sind inzwischen nicht mehr im Amt, José Manuel Durão Barroso ist sein Versprechen konkreter Reformvorschläge schuldig geblieben. In der Zivilgesellschaft ist die Debatte allerdings noch nicht ganz verklungen. Wie sieht es in den Wahlprogrammen der europäischen Parteien aus?

Reformforderungen

Wie ich in einer anderen Folge dieser Serie ausführlicher beschrieben habe, sind es vor allem die linken Parteien, die mit den wirtschaftspolitischen Maßnahmen während der Eurokrise unzufrieden sind. Auch die Institutionen, die für diese Politik verantwortlich gemacht werden, bekommen dabei ihr Fett ab – besonders die Troika, die „ein klarer Fehlschlag“ (SPE) bzw. „zutiefst undemokratisch“ (EGP) ist und die „Souveränität der Völker […] missachtet“ (EL).

Entsprechend ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass Linke und Grüne am nachdrücklichsten für eine EU-Vertragsreform eintreten. Allerdings zeigen sie dabei deutliche Unterschiede in der Rhetorik: So legt die EL den Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Ausrichtung und fordert „einen Bruch mit den Gründungsverträgen der EU und der EZB, die sie zu einer neoliberalen Politik verpflichten“. Die Grünen hingegen wollen vor allem „eine demokratische Erneuerung der EU einleiten“. Sie fordern daher nicht nur „einen neuen demokratischen Konvent mit starker parlamentarischer und zivilgesellschaftlicher Beteiligung […] oder eine verfassungsgebende Versammlung“, sondern auch eine Ratifikation des neuen Vertragswerks „im Rahmen eines EU-weiten Referendums“.

Darüber hinaus unterstützen auch die Liberalen „die Einberufung eines Konvents […], um die demokratische Entwicklung der Union weiter voranzutreiben“. SPE und EVP hingegen erheben zwar einige Forderungen, die bei genauer Betrachtung Änderungen im Vertragswerk nötig machen würden. Den Konvent selbst erwähnen sie in ihren Wahlprogrammen jedoch nicht – die EVP betont sogar ausdrücklich, dass „[i]nnerhalb des bestehenden Rechtsrahmens […] eine Menge erreicht werden“ könne. Für die Befürworter einer umfassenden demokratischen EU-Reform ist das sicher kein gutes Zeichen.

Europäisches Parlament stärken

Und wie sollte eine demokratischere EU künftig funktionieren? Einig sind sich die meisten Parteien, dass dafür das Europäische Parlament gestärkt werden muss. Im Einzelnen bleiben sie dabei allerdings eher vage: Die SPE will, „dass das Europäische Parlament weiter eine prominente Rolle spielt“; die EL ist für „ein Europäisches Parlament mit uneingeschränkten Befugnissen“; die ALDE erhebt die Forderung nach einer „stärkeren Beteiligung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente am Entscheidungsprozess“. Etwas detaillierter werden nur die Grünen, die dem Europäischen Parlament ein Mitentscheidungsrecht über die „Prioritäten bei der wirtschaftspolitischen Koordinierung“, „einige Kompetenzen im Bereich der Steuerpolitik und Sozialpolitik“ sowie ein Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren geben wollen.

Die EGP ist zudem die einzige Partei, die in ihrem Programm auch Änderungen im Europawahlrecht fordert: Zum einen soll das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt werden; zum anderen soll es künftig „gesamteuropäische Listen mit transnationalen KandidatInnen“ geben. Zudem sind sich Grüne und Liberale darüber einig, dass das Europäische Parlament nur einen einzigen Sitz haben und nicht monatlich zwischen Brüssel und Straßburg pendeln sollte.

Kommission und Rat

Außer den Kompetenzen des Europäischen Parlaments halten die meisten Parteien auch die Europäische Kommission für reformbedürftig. Allerdings ist hier meist noch unklarer, was sie dabei eigentlich genau wollen. So fordern die Grünen, dass die Kommission „über ihre Entscheidungen Rechenschaft ablegen“ soll. Für die EL müssen „Befugnisse […] von der Kommission an die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament übertragen“ und die Rolle der Kommission „auf Aufgaben der Exekutive beschränkt werden“. ALDE und EVP wollen die Zahl der Ressorts in der Kommission reduzieren – wobei die EVP jedoch zugleich insistiert, dass das „das Prinzip eines Kommissars pro Land“ auch in Zukunft gelten soll.

Für den Ministerrat fordern Grüne und Liberale mehr Transparenz, „beispielsweise indem dessen Abstimmungsergebnisse vollständig veröffentlicht werden“ (EGP). Noch weitergehende Reformvorschläge hat die EVP, für die der Rat „zu einer zentralen Institution reformiert werden“ sollte, die „sämtliche legislativen Entscheidungen trifft, die vorab von den unterschiedlichen Ministerräten ausgearbeitet wurden“. Sowohl EVP als auch EGP wollen zudem die nationalen Vetorechte im Rat weiter reduzieren, wobei die EVP speziell „Entscheidungen in den Bereichen Außenpolitik, Justiz und Innenpolitik verstärkt an eine qualifizierte Mehrheit […] delegieren“ will.

Nationale Parlamente, EZB und andere EU-Institutionen

Eine weitere populäre Forderung in den Wahlprogrammen ist die Stärkung der nationalen Parlamente. Auch hier bleiben die Vorschläge jedoch ausgesprochen vage. So fordert die EL schlicht „Macht den gewählten nationalen […] Versammlungen“; für die EVP müssen die nationalen Parlamente „pro-aktiver werden und sich im Rahmen der nationalen Verfassungen stärker in die europäischen Entscheidungsprozesse einbringen“. Die Grünen wollen „die Reaktionsmöglichkeiten der nationalen Parlamente für den Fall stärken, dass die EU ihre Kompetenzen überschreitet und nicht dem Subsidiaritätsprinzip folgt“, und fordern für sie „auch mehr Kanäle und Möglichkeiten […], mit dem Europäischen Parlament zusammenzuarbeiten“.

Eine Reform der Europäischen Zentralbank streben Linke und Grüne an: Beide wollen die demokratische Kontrolle über die EZB erhöhen und die Beschäftigungsförderung zu einem Ziel ihrer Politik machen.

Die ALDE wiederum interessiert sich als einzige Partei für die kleineren Nebenorgane der EU – allerdings nur, um sie abzuschaffen: Mit dem Argument, dass alle Organe „wesentlich zum demokratischen Entscheidungsprozess […] der Union beitragen“ sollten, wollen die Liberalen den Ausschuss der Regionen umstrukturieren und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss komplett auflösen. Und auch unter den EU-Agenturen will die ALDE „[j]ene, die keinen bedeutenden Mehrwert liefern“, gerne abschaffen – wobei die Partei allerdings nicht spezifiziert, nach welchen Kriterien sie diesen „Mehrwert“ genau messen will.

Partizipative Demokratie, europäische Referenden

Die Forderung nach mehr Demokratie in der EU schlägt sich allerdings nicht nur in dem Wunsch nach einer Stärkung des Europäischen Parlaments oder der nationalen Parlamente nieder. Vor allem EGP und EL betonen, dass Demokratie auch außerhalb von Repräsentativorganen funktionieren kann. Die Grünen setzen dabei vor allem auf die Europäische Bürgerinitiative, welche sie „erweitern“ sowie „effizienter und bürgerfreundlicher“ machen wollen. Außerdem möchte die EGP „die rechtliche Grundlage für EU-weite Referenden schaffen“.

Auch die Linken sind dafür, mehr Referenden zu ermöglichen, machen allerdings nicht deutlich, ob sie dabei die nationale oder die europäische Ebene im Blick haben. Darüber hinaus setzt sich die EL auch für andere Mittel der Bürgerbeteiligung, etwa in Form von „partizipativen Haushalten und Geschlechterdemokratie“, ein.

Demokratie in den Mitgliedstaaten

Eines der großen aktuellen Probleme ist auch die Frage, wie die EU mit Mitgliedstaaten umgehen kann, die auf nationaler Ebene gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Fälle wie Ungarn oder Rumänien haben gezeigt, dass der derzeitige Mechanismus in Art. 7 EU-Vertrag nicht genügt, um europaweit den Respekt vor den gemeinsamen Werten zu sichern. In den vergangenen Jahren war dies immer wieder Thema politischer und verfassungsrechtlicher Reformvorschläge.

Vor der Europawahl interessieren sich dafür allerdings nur die Bürgerrechtsparteien ALDE und EGP. So rufen die Grünen nach „wirksamen Überwachungs- und Sanktionsinstrumenten für den Fall, dass in einem Mitgliedstaat gegen diese Grundsätze verstoßen wird“ und schlagen dafür (offenbar in Anlehnung an den Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller) eine spezielle „Kopenhagen-Kommission“ vor, „die […] sicherstellt, dass demokratische Anforderungen, die an EU-Beitrittskandidaten gestellt werden, auch noch später erfüllt werden und diese Staaten nicht in autoritäre Verhältnisse oder Vetternwirtschaft abgleiten, nachdem sie zu EU-Mitgliedstaaten geworden sind“. In ähnlicher Weise wollen auch die Liberalen einen „Mechanismus zur Überwachung der Verletzungen von Grundrechten und Bürgerfreiheiten in der EU“, der „Sanktionen auf Basis objektiver Kriterien und frei von politischer Einmischung“ ermöglichen soll.

Subsidiarität und Kerneuropa

Ein Punkt, in dem sich alle Parteien einig sind, ist schließlich das Subsidiaritätsprinzip: Die EU soll nur das tun, was auf europäischer Ebene getan werden muss, und sich nicht in die Angelegenheiten einmischen, die ebenso gut im nationalen Rahmen geregelt werden können. Ob und welche institutionellen Reformen dafür nötig sind, lassen die Parteien allerdings weitgehend offen. Noch am konkretesten wird die ALDE, die einen „jährlichen Subsidiaritätscheck“ vorschlägt, „bei dem das Europäische Parlament das Arbeitsprogramm der Kommission bewertet, um sicherzustellen, dass die Grundsätze der Subsidiarität und der Proportionalität eingehalten werden“.

Und auch auf die Frage, was eigentlich passiert, wenn nicht alle sich an den vorgeschlagenen Reformen beteiligen wollen, bekommt man von den europäischen Parteien kaum Antworten. Lediglich die Liberalen geben zu verstehen, dass aus ihrer Sicht „die differenzierte Integration keine Bedrohung für den Zusammenhalt der EU darstellt, solange die weitere Integration anderen Ländern offen steht und sie beitreten können, wenn und wann sie wollen“. Das britische Problem, das die EU seit Jahren umtreibt, kommt in den Wahlprogrammen hingegen nicht vor – obwohl es gar nicht unwahrscheinlich ist, dass auch diese Frage in den nächsten fünf Jahren zentrale Bedeutung erlangen wird.

Fazit

In Sachen Vertragsreform sind die europäischen Wahlprogramme nicht in jeder Hinsicht so präzise, wie man es sich wünschen würde. Gewisse Unterschiede lassen sich dennoch erkennen: Eine Neufassung der vertraglichen Grundlagen der EU liegt vor allem den kleineren Parteien am Herzen, während die EVP eher zurückhaltend ist. Besonders EGP und ALDE machen sich für einen demokratischen Konvent stark, wobei die Forderung nach einer Stärkung des Europäischen Parlaments über alle Parteien hinweg auf Zustimmung stößt.

Darüber hinaus wollen Grüne und Linke direktdemokratische Elemente stärken, Grüne und Christdemokraten die Vetorechte im Rat reduzieren, Grüne und Liberale die Demokratie auch in den Mitgliedstaaten besser absichern. Die Verschlankung der europäischen Verwaltungsstrukturen hebt vor allem die ALDE hervor. Die Frage, wie mit den Sonderwünschen der britischen Regierung umgegangen werden soll, behandelt hingegen keines der fünf Wahlprogramme.


Bild: By European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

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