Ob
Finanzkrise, Klimawandel, Außenpolitik, Migration oder die Zukunft der
Demokratie: Die EU ist in so vielen Bereichen aktiv, dass es keinen Grund gibt,
vor der Europawahl auf nationale Nebenschauplätze auszuweichen. In einer Serie
werden hier die Vorschläge verglichen, die die großen europäischen Parteien in ihren Wahlprogrammen formuliert haben – die
christdemokratische EVP (Manifest/Aktionsprogramm), die sozialdemokratische
SPE, die liberale ALDE, die grüne EGP und die linke EL. (Zum Anfang der Serie.)
- Mehr Rechte für das Europäische Parlament wollen alle Parteien. Darüber hinausgehende Reformvorschläge haben besonders die Grünen, Liberalen und Linken.
Die Bereitschaft zu
einer großen demokratischen Reform der EU, zur Einberufung eines
Europäischen Konvents und zu einer gründlichen Überarbeitung der
Verträge, durchlief in den letzten fünf Jahren eine wechselhafte
Konjunktur. Als kurz nach der Europawahl 2009 der Vertrag von
Lissabon in Kraft trat, herrschte unter vielen Medien und Politikern
die Erwartung vor, dass es mit
der Reformerei nun erst einmal zu Ende sein würde. Nur wenige
Monate später jedoch erreichte die Eurokrise ihren ersten
dramatischen Höhepunkt, als Griechenland kurz vor dem Bankrott stand
und der Europäische Rat das erste Notkredite-Paket beschloss. In der
Folge kam es zu einer Reihe improvisierter institutioneller
Neuerungen: vom Fiskalpakt
über den ESM
bis zu der (in keinem Vertrag erwähnten) „Troika“,
die über die Einhaltung der Sparauflagen in den Krisenländern
wacht.
Diese
Krisenmaßnahmen waren nicht nur rechtliche Drahtseilakte, sondern
stießen auch in den meisten Mitgliedstaaten auf scharfe Kritik –
wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Beides belebte die
Diskussion über einen Europäischen Konvent, der die Gelegenheit zu
einer grundsätzlichen Neuorientierung der EU bieten sollte. Anfang
2012 lud der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle
(FDP/ALDE) einige seiner Amtskollegen zur
Gründung einer „EU-Zukunftsgruppe“ nach Berlin. Ein halbes
Jahr später kündigte Kommissionspräsident José Manuel Durão
Barroso (PSD/EVP) Vorschläge zur
Umwandlung der EU in eine „demokratische Föderation von
Nationalstaaten“ an. Ende 2013 sprach der italienische
Premierminister Enrico Letta (PD/SPE) von
den „Vereinigten Staaten von Europa“. Und eine Gruppe von
Europaabgeordneten präsentierte gar einen ausformulierten
Entwurf für ein neues „EU-Grundgesetz“. Viele
Kommentatoren – auch ich selbst – hielten 2015 für
einen plausiblen Zeitpunkt für die Einberufung eines neuen Konvents.
Doch
als die akute Phase der Eurokrise endete und der plötzliche Kollaps
der Eurozone ein immer unwahrscheinlicheres Szenario wurde, ging auch
der Drang nach einer Vertragsreform wieder zurück. Guido Westerwelle
und Enrico Letta sind inzwischen nicht mehr im Amt, José Manuel
Durão Barroso ist sein Versprechen konkreter Reformvorschläge
schuldig geblieben. In der Zivilgesellschaft ist die Debatte
allerdings noch
nicht ganz verklungen. Wie sieht es in den Wahlprogrammen der
europäischen Parteien aus?
Reformforderungen
Wie ich in
einer anderen Folge dieser Serie ausführlicher beschrieben habe,
sind es vor allem die linken Parteien, die mit den
wirtschaftspolitischen Maßnahmen während der Eurokrise unzufrieden
sind. Auch die Institutionen, die für diese Politik verantwortlich
gemacht werden, bekommen dabei ihr Fett ab – besonders die Troika,
die „ein klarer Fehlschlag“ (SPE) bzw. „zutiefst
undemokratisch“ (EGP) ist und die „Souveränität der Völker […]
missachtet“ (EL).
Entsprechend
ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass Linke und Grüne am
nachdrücklichsten für eine EU-Vertragsreform eintreten. Allerdings
zeigen sie dabei deutliche Unterschiede in der Rhetorik: So legt die
EL den Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Ausrichtung und fordert
„einen Bruch mit den Gründungsverträgen der EU und der EZB, die
sie zu einer neoliberalen Politik verpflichten“. Die Grünen
hingegen wollen vor allem „eine
demokratische Erneuerung der EU einleiten“. Sie fordern
daher nicht nur „einen neuen demokratischen Konvent mit starker
parlamentarischer und zivilgesellschaftlicher Beteiligung […] oder
eine verfassungsgebende Versammlung“, sondern auch eine
Ratifikation des neuen Vertragswerks „im Rahmen eines EU-weiten
Referendums“.
Darüber
hinaus unterstützen auch die Liberalen „die Einberufung eines
Konvents […], um die demokratische Entwicklung der Union weiter
voranzutreiben“. SPE
und EVP hingegen erheben zwar einige Forderungen, die bei genauer
Betrachtung Änderungen im Vertragswerk nötig machen würden.
Den Konvent selbst erwähnen sie in ihren Wahlprogrammen jedoch nicht
– die EVP betont sogar ausdrücklich, dass „[i]nnerhalb des
bestehenden Rechtsrahmens […] eine Menge erreicht werden“ könne.
Für die Befürworter einer umfassenden demokratischen EU-Reform ist
das sicher kein gutes Zeichen.
Europäisches
Parlament stärken
Und
wie sollte eine demokratischere EU künftig funktionieren? Einig sind
sich die meisten Parteien, dass dafür das Europäische Parlament
gestärkt werden muss. Im Einzelnen bleiben sie dabei allerdings eher
vage: Die SPE will, „dass das Europäische Parlament weiter eine
prominente Rolle spielt“; die EL ist für „ein Europäisches
Parlament mit uneingeschränkten Befugnissen“; die ALDE erhebt die
Forderung nach einer „stärkeren Beteiligung des Europäischen
Parlaments und der nationalen Parlamente am Entscheidungsprozess“.
Etwas detaillierter werden nur die Grünen, die dem Europäischen
Parlament ein
Mitentscheidungsrecht über die „Prioritäten
bei der wirtschaftspolitischen Koordinierung“,
„einige Kompetenzen im Bereich der Steuerpolitik und Sozialpolitik“
sowie ein Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren geben wollen.
Die
EGP ist zudem die einzige Partei, die in ihrem Programm auch
Änderungen im Europawahlrecht fordert: Zum einen soll das Wahlalter
auf 16 Jahre gesenkt werden; zum anderen soll es künftig „gesamteuropäische Listen mit transnationalen
KandidatInnen“ geben.
Zudem sind sich Grüne und Liberale darüber einig, dass das
Europäische Parlament nur einen einzigen Sitz haben und nicht
monatlich zwischen Brüssel und Straßburg pendeln sollte.
Kommission
und Rat
Außer
den Kompetenzen des Europäischen Parlaments halten die meisten
Parteien auch die Europäische Kommission für reformbedürftig.
Allerdings ist hier meist noch unklarer, was sie dabei eigentlich
genau wollen. So fordern die Grünen, dass die Kommission „über
ihre Entscheidungen Rechenschaft ablegen“
soll. Für die EL müssen „Befugnisse […] von der Kommission an
die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament übertragen“
und die Rolle der Kommission „auf Aufgaben der Exekutive beschränkt
werden“. ALDE und EVP wollen die Zahl der Ressorts in der
Kommission reduzieren – wobei die EVP jedoch zugleich insistiert,
dass das „das Prinzip eines Kommissars pro Land“ auch in Zukunft
gelten soll.
Für
den Ministerrat fordern Grüne und Liberale mehr Transparenz,
„beispielsweise indem dessen Abstimmungsergebnisse vollständig
veröffentlicht werden“ (EGP). Noch
weitergehende Reformvorschläge hat die EVP, für die der Rat „zu
einer zentralen Institution reformiert werden“ sollte, die
„sämtliche legislativen Entscheidungen trifft, die vorab von den
unterschiedlichen Ministerräten ausgearbeitet wurden“. Sowohl EVP
als auch EGP wollen zudem die nationalen Vetorechte im Rat weiter
reduzieren, wobei die EVP speziell „Entscheidungen in den Bereichen
Außenpolitik, Justiz und Innenpolitik verstärkt an eine
qualifizierte Mehrheit […] delegieren“ will.
Nationale
Parlamente, EZB und andere EU-Institutionen
Eine
weitere populäre Forderung in den Wahlprogrammen ist die Stärkung
der nationalen Parlamente. Auch hier bleiben die Vorschläge jedoch
ausgesprochen vage. So fordert die EL schlicht „Macht den gewählten
nationalen […] Versammlungen“; für die EVP müssen die
nationalen Parlamente „pro-aktiver werden und sich im Rahmen der
nationalen Verfassungen stärker in die europäischen
Entscheidungsprozesse einbringen“. Die Grünen wollen „die
Reaktionsmöglichkeiten der nationalen Parlamente für den Fall
stärken, dass die EU ihre Kompetenzen überschreitet und nicht dem
Subsidiaritätsprinzip folgt“, und fordern für sie „auch mehr
Kanäle und Möglichkeiten […], mit dem Europäischen Parlament
zusammenzuarbeiten“.
Eine Reform der
Europäischen Zentralbank streben Linke und Grüne an: Beide wollen
die demokratische Kontrolle über die EZB erhöhen und die
Beschäftigungsförderung zu einem Ziel ihrer Politik machen.
Die ALDE wiederum
interessiert sich als einzige Partei für die kleineren Nebenorgane
der EU – allerdings nur, um sie abzuschaffen: Mit dem Argument,
dass alle Organe „wesentlich zum demokratischen
Entscheidungsprozess […] der Union beitragen“ sollten, wollen die
Liberalen den Ausschuss
der Regionen umstrukturieren und den Europäischen
Wirtschafts- und Sozialausschuss komplett auflösen. Und auch
unter den EU-Agenturen
will die ALDE „[j]ene, die keinen bedeutenden Mehrwert liefern“,
gerne abschaffen – wobei die Partei allerdings nicht spezifiziert,
nach welchen Kriterien sie diesen „Mehrwert“ genau messen will.
Partizipative
Demokratie, europäische Referenden
Die
Forderung nach mehr Demokratie in der EU schlägt sich allerdings
nicht nur in dem Wunsch nach einer Stärkung des Europäischen
Parlaments oder der nationalen Parlamente nieder. Vor allem EGP und
EL betonen, dass Demokratie auch außerhalb von Repräsentativorganen
funktionieren kann. Die Grünen setzen dabei vor allem auf die
Europäische
Bürgerinitiative, welche sie „erweitern“ sowie „effizienter
und bürgerfreundlicher“ machen wollen. Außerdem möchte die EGP
„die rechtliche Grundlage für EU-weite Referenden schaffen“.
Auch
die Linken sind dafür, mehr Referenden zu ermöglichen, machen allerdings nicht deutlich, ob sie dabei die nationale oder die
europäische Ebene im Blick haben. Darüber hinaus setzt sich die EL
auch für
andere Mittel der Bürgerbeteiligung, etwa in Form von
„partizipativen
Haushalten und Geschlechterdemokratie“,
ein.
Demokratie
in den Mitgliedstaaten
Eines
der großen aktuellen Probleme ist auch die Frage, wie
die EU mit Mitgliedstaaten umgehen kann, die auf nationaler Ebene
gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Fälle wie
Ungarn
oder Rumänien
haben gezeigt, dass der derzeitige Mechanismus in Art. 7
EU-Vertrag nicht genügt, um europaweit den Respekt vor den
gemeinsamen Werten zu sichern. In den vergangenen Jahren war dies
immer wieder Thema politischer
und verfassungsrechtlicher Reformvorschläge.
Vor
der Europawahl interessieren sich dafür allerdings nur die
Bürgerrechtsparteien ALDE und EGP. So rufen die Grünen nach
„wirksamen Überwachungs- und Sanktionsinstrumenten für den Fall,
dass in einem Mitgliedstaat gegen diese Grundsätze verstoßen wird“
und schlagen dafür (offenbar in
Anlehnung an den Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller) eine
spezielle „Kopenhagen-Kommission“ vor, „die […] sicherstellt,
dass demokratische Anforderungen, die an EU-Beitrittskandidaten
gestellt werden, auch noch später erfüllt werden und diese Staaten
nicht in autoritäre Verhältnisse oder Vetternwirtschaft abgleiten,
nachdem sie zu EU-Mitgliedstaaten geworden sind“. In ähnlicher
Weise wollen auch die Liberalen einen „Mechanismus zur Überwachung
der Verletzungen von Grundrechten und Bürgerfreiheiten in der EU“,
der „Sanktionen auf Basis objektiver Kriterien und frei von
politischer Einmischung“
ermöglichen soll.
Subsidiarität
und Kerneuropa
Ein
Punkt, in dem sich alle Parteien einig sind, ist schließlich das
Subsidiaritätsprinzip:
Die EU soll nur das tun, was auf europäischer Ebene getan werden
muss, und sich nicht in die Angelegenheiten einmischen, die ebenso
gut im nationalen Rahmen geregelt werden können. Ob und welche institutionellen Reformen dafür nötig sind, lassen die Parteien allerdings weitgehend offen. Noch
am konkretesten wird die ALDE, die einen „jährlichen
Subsidiaritätscheck“ vorschlägt, „bei dem das Europäische
Parlament das Arbeitsprogramm der Kommission bewertet, um
sicherzustellen, dass die Grundsätze der Subsidiarität und der
Proportionalität eingehalten werden“.
Und
auch auf die Frage, was eigentlich passiert, wenn nicht alle sich an
den vorgeschlagenen Reformen beteiligen wollen, bekommt man von den
europäischen Parteien kaum Antworten. Lediglich die Liberalen geben
zu verstehen, dass aus ihrer Sicht „die differenzierte Integration
keine Bedrohung für den Zusammenhalt der EU darstellt, solange die
weitere Integration anderen Ländern offen steht und sie beitreten
können, wenn und wann sie wollen“. Das britische
Problem, das die EU seit Jahren umtreibt, kommt in den
Wahlprogrammen hingegen nicht vor – obwohl es gar nicht
unwahrscheinlich ist, dass auch diese Frage in den nächsten fünf
Jahren zentrale Bedeutung erlangen wird.
Fazit
In Sachen
Vertragsreform sind die europäischen Wahlprogramme nicht in jeder
Hinsicht so präzise, wie man es sich wünschen würde. Gewisse
Unterschiede lassen sich dennoch erkennen: Eine Neufassung der
vertraglichen Grundlagen der EU liegt vor allem den kleineren
Parteien am Herzen, während die EVP eher zurückhaltend ist.
Besonders EGP und ALDE machen sich für einen demokratischen Konvent
stark, wobei die Forderung nach einer Stärkung des Europäischen
Parlaments über alle Parteien hinweg auf Zustimmung stößt.
Darüber hinaus
wollen Grüne und Linke direktdemokratische Elemente stärken, Grüne
und Christdemokraten die Vetorechte im Rat reduzieren, Grüne und
Liberale die Demokratie auch in den Mitgliedstaaten besser absichern.
Die Verschlankung der europäischen Verwaltungsstrukturen hebt vor
allem die ALDE hervor. Die Frage, wie mit den Sonderwünschen der
britischen Regierung umgegangen werden soll, behandelt hingegen
keines der fünf Wahlprogramme.
Europawahlprogramme – Übersicht
1: Warum wir vor der Europawahl eher die europäischen als die nationalen Parteiprogramme lesen sollten
2: Wirtschaft, Steuern und Soziales
3: Umwelt, Klima, Energie
4: Außenpolitik, Erweiterung, TTIP
5: Freizügigkeit, Einwanderung, Grenzschutz
6: Demokratie, Vertragsreform, Europäischer Konvent
1: Warum wir vor der Europawahl eher die europäischen als die nationalen Parteiprogramme lesen sollten
2: Wirtschaft, Steuern und Soziales
3: Umwelt, Klima, Energie
4: Außenpolitik, Erweiterung, TTIP
5: Freizügigkeit, Einwanderung, Grenzschutz
6: Demokratie, Vertragsreform, Europäischer Konvent
Bild: By European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
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