- Braucht wirklich jede Landesgruppe ihr eigenes Europawahlprogramm? (Das auf dem Foto ist aus Irland und von 2009.)
In den meisten
demokratischen Ländern geht Wahlkampf so: Erst veröffentlichen alle
Parteien ein Wahlprogramm, in dem sie ankündigen, was sie im Falle
eines Wahlsiegs an Maßnahmen umsetzen wollen. Dann ernennen sie eine
Kandidatin oder einen Kandidaten, den sie im Falle eines Wahlsiegs an
der Spitze der Regierung sehen wollen. Dann machen sie mit Plakaten
und Veranstaltungen Werbung für ihr Programm und ihren Kandidaten.
Und am Ende entscheiden sich die Wähler an den Urnen, welcher der
Parteien sie ihr Vertrauen aussprechen.
Auf europäischer Ebene
hingegen ging Wahlkampf lange Zeit so: Anstelle eines einzigen
Wahlprogramms veröffentlichten die europäischen Parteien mehrere
Dutzend – für jedes Mitgliedsland ein anderes. Europäische
Spitzenkandidaten gab es nicht; die Kommissionspräsidenten wurden
erst im Nachhinein im Hinterzimmer ausgekungelt. Die Plakate und
Veranstaltungen behandelten oft rein nationale Themen, die mit der
europäischen Politik nichts zu tun hatten. Und am Ende entschieden
sich die Wähler in immer größerer Zahl, einfach gar nicht zu den
Urnen zu gehen.
Europäische
Kandidaten, europäische Themen
Wenn es nach dem
Europäischen Parlament geht, soll dieses Jahr jedoch alles
anders werden. Insbesondere haben die großen europäischen
Parteien diesmal schon im Voraus Spitzenkandidaten für das Amt des
Kommissionspräsidenten ernannt: Martin Schulz für die
Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), Jean-Claude Juncker für
die Europäische Volkspartei (EVP), Guy Verhofstadt für die Allianz
der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), Alexis Tsipras für
die Europäische Linke (EL) und Ska Keller und José Bové für die
Europäische Grüne Partei (EGP). Nur die Allianz der Europäischen
Konservativen und Reformisten (AECR) verweigert sich dieser – in
ihren Augen – föderalistischen Geste. Und auch einige der Staats-
und Regierungschefs im Europäischen Rat hegen noch gewisse
Vorbehalte gegen das neue Verfahren.
Dennoch steigt mit den
gesamteuropäischen Spitzenkandidaten die Chance, dass auch bei den
Themen des diesjährigen Wahlkampfs gesamteuropäische Fragen eine
etwas größere Rolle spielen werden als in der Vergangenheit. Ob
Finanzkrise, Klimawandel, Außenpolitik, Migration oder die Zukunft
der Demokratie: Die Europäische Union ist inzwischen in so vielen
wichtigen Bereichen zu einem zentralen Akteur geworden, dass es kaum
Gründe gibt, stattdessen auf nationale Nebenschauplätze
auszuweichen.
Mehr
Fraktionsdisziplin im Europäischen Parlament
Hinzu kommt, dass auch
die europäischen Parteien nicht mehr die heterogenen Bündnisse
sind, die sie einmal waren. Zwar arbeiteten die Abgeordneten des
Europäischen Parlaments bereits seit dessen Gründung nicht in
nationalen Delegationen, sondern in
länderübergreifend-parteipolitischen Fraktionen
zusammen. Doch deren interner Zusammenhalt war anfangs nur mäßig.
Da das Europäische Parlament keine Regierung wählte und auch sonst
nicht viel zu entscheiden hatte, war die Fraktionsdisziplin gering;
dass sich einzelne Abgeordnete Alleingänge erlaubten, war eher die
Regel als die Ausnahme. Und wenn es hart auf hart kam, orientierte
sich das Abstimmungsverhalten der Parlamentarier zuletzt oft doch an
den nationalen Interessen ihres Herkunftsstaats statt an der Linie
ihrer europäischen Fraktionsfreunde.
All dies ist heute nicht
vollkommen verschwunden, aber doch deutlich seltener geworden. Die
Website VoteWatch.eu, die das
Abstimmungsverhalten im Europäischen Parlament analysiert,
verzeichnet für die abgelaufene Wahlperiode 2009-2014 für fast alle
Fraktionen eine Kohäsionsrate
von
um die 90 Prozent (lediglich die europaskeptische EFD-Fraktion
fällt deutlich dahinter zurück). Auch dass die Abgeordneten einer
bestimmten nationalen Partei sich gegen die Linie ihrer europäischen
Fraktionsfreunde stellen, kommt nur noch selten vor: Von den 185
nationalen Parteidelegationen (oder parteilosen Abgeordneten) im
Parlament stimmten mehr als die Hälfte in über 95 Prozent aller
Abstimmungen mehrheitlich
entlang der Linie ihrer Fraktion.
Dass die Fraktionen
zunehmend geschlossen auftreten, dürfte auf den wachsenden Einfluss
des Europäischen Parlaments insgesamt zurückzuführen sein. Da das
Parlament heute tatsächlich relevante Entscheidungen zu treffen hat,
nehmen die Abgeordneten auch die Mehrheitsbildung ernster und bemühen
sich stärker als früher um eine einheitliche Fraktionslinie.
Zugleich hat dies aber auch einen positiven Effekt für die
europäische Demokratie: Je mehr der Zusammenhalt innerhalb
der Fraktionen steigt, desto deutlicher werden die Unterschiede
zwischen ihnen. Und
damit können sich die europäischen Parteien auch immer besser als
klare Alternativen darstellen, zwischen denen die Bürger sich bei
der Europawahl entscheiden können.
Nationale und
europäische Wahlmanifeste
Damit aber gewinnen auch
die gesamteuropäischen Wahlprogramme an Bedeutung. Zwar
verabschiedeten die europäischen Parteifamilien schon frühzeitig
europaweite Wahlmanifeste, in denen sie sich zu bestimmten
politischen Zielen und Maßnahmen bekannten. (Wer Spaß daran hat:
Hier sind die Wahlaufrufe von EVP,
SPE
und ALDE
für die erste Europawahl 1979.) Doch darüber hinaus
veröffentlichten ihre nationalen Mitgliedsparteien immer auch eigene
Europawahlprogramme; und es ist wenig überraschend, dass diese
nationalen Programme in der Öffentlichkeit stets im Vordergrund
standen. Denn erstens wenden sich auch die europäischen Medien in
der Regel ja nur an ein nationales Publikum. Und zweitens musste man
immer davon ausgehen, dass sich die gewählten europäischen
Abgeordneten im Zweifel eher an der Programmatik ihrer nationalen
Partei als an der gemeinsamen europäischen Linie orientieren würden.
Diese Grundkonstellation
hat sich auch 2014 nicht geändert: Neben den gesamteuropäischen
Wahlmanifesten haben alle Parteien auch dieses Jahr wieder eigene
nationale Europawahlprogramme verabschiedet. Und auch dieses Jahr
konzentrieren sich die Medien,
aber auch Stiftungen,
Verbände
und Behörden
vor allem auf einen Vergleich dieser unterschiedlichen
Parteipositionen auf nationaler Ebene, während die
gesamteuropäischen Programme weitgehend ignoriert werden.
Auf die europaweite
Programmatik kommt es an
Ob sie den Bürgern damit
einen großen Gefallen tun, ist allerdings fraglich. Denn es ist zwar
richtig, dass wir bei der Europawahl zunächst einmal eine nationale
Partei wählen. Obwohl sie alle der Europäischen Volkspartei
angehören, ist eine Stimme für die deutsche CDU nicht unbedingt
gleichbedeutend mit einer für die französische UMP oder die
spanische PP – ja sogar innerhalb Deutschlands tun sich zwischen
CDU und CSU europapolitische
Spalte auf.
Doch angesichts der
steigenden Fraktionsdisziplin im Europäischen Parlament kommt es auf
diese Unterschiede im Ergebnis immer weniger an. Eine Partei mag in
ihrem nationalen Europawahlprogramm noch so große Töne schwingen:
Eine Chance, es tatsächlich zu verwirklichen, hat sie nur dann, wenn
sie zunächst ihre europäischen Fraktionsfreunde davon überzeugt.
Dafür aber muss sie über die nationalen Grenzen hinweg
Überzeugungsarbeit leisten und Kompromisse schmieden. Und genau von
diesen Kompromissen zeugen die gesamteuropäischen Wahlmanifeste, die
deshalb zwar mitunter etwas offener formuliert sind, aber dafür auch
weniger reine Luftnummern enthalten dürften als die nationalen
Programme.
Die Unterschiede
zwischen den europäischen Parteien
Betrachtet man die
europäischen Wahlmanifeste genauer, so kann man in Länge und
Aufmachung deutliche Unterschiede erkennen. Während die EGP
mit 40 Seiten einen recht ausführlichen Text verabschiedet hat,
fassen sich ALDE
(9 Seiten) und SPE
(12 Seiten mit vielen bunten Bildern) eher kurz. Die EL
hat statt eines Programms ein „politisches Dokument“ (hier ab Seite 15), das mit 25
Seiten ebenfalls recht umfangreich ist, aber außer
Politikvorschlägen auch Überlegungen zur Zukunft der Partei
beinhaltet. Die EVP bietet gleich zwei Programme – ein kurzes und eher
nichtssagendes „Manifest“
sowie ein detailliertes 47-seitiges „Aktionsprogramm“.
Auch mehrere der kleineren europäischen Parteien haben eigene
Manifeste verabschiedet, etwa die zentristische EDP,
die regionalistische EFA
oder die rechte EAF.
Kein gemeinsames Programm hat hingegen wiederum die AECR.
Wie aber unterscheiden
sich die Programme der Parteien inhaltlich? Welche Alternativen
bieten sie dem Wähler? Wie
schon vor der Bundestagswahl 2013 sollen während der
nächsten Wochen in diesem Blog die
Wahlprogramme der fünf großen europäischen Parteien vorgestellt
werden, wobei in loser Folge mehreren großen Themenbereichen jeweils
ein Artikel gewidmet sein wird.
Europawahlprogramme – Übersicht
1: Warum wir vor der Europawahl eher die europäischen als die nationalen Parteiprogramme lesen sollten
2: Wirtschaft, Steuern und Soziales
3: Umwelt, Klima, Energie
4: Außenpolitik, Erweiterung, TTIP
5: Freizügigkeit, Einwanderung, Grenzschutz
6: Demokratie, Vertragsreform, Europäischer Konvent
1: Warum wir vor der Europawahl eher die europäischen als die nationalen Parteiprogramme lesen sollten
2: Wirtschaft, Steuern und Soziales
3: Umwelt, Klima, Energie
4: Außenpolitik, Erweiterung, TTIP
5: Freizügigkeit, Einwanderung, Grenzschutz
6: Demokratie, Vertragsreform, Europäischer Konvent
Mehrere der Beiträge in dieser Serie basieren auf meinem Artikel „What difference can it make?“, der am 7. Mai 2014 im Green European Journal erschienen ist.
Bild: By The Irish Labour Party [CC BY-ND 2.0], via Flickr.
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