- Das Bundesverfassungsgericht hat erstmals einen Fall an den EuGH vorgelegt. Aber an den Nagel hängen die deutschen Richter ihre europarechtlichen Ambitionen deshalb noch lange nicht.
Vielleicht war es nur
Zufall, dass das Bundesverfassungsgericht seine gestrige
Entscheidung,
in der es ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
OMT-Beschlusses der Europäischen Zentralbank äußerte und den Fall
dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorlegte, ausgerechnet an
einem Freitag veröffentlicht hat. Vielleicht ist es aber auch ein
Zeichen dafür, dass sich die höchsten deutschen Richter bewusst
sind, mit welch einer heiklen Materie sie es zu tun haben. Immerhin
war der OMT-Beschluss
– also die Ankündigung der EZB, notfalls in unbegrenztem Umfang
Anleihen der Euro-Krisenstaaten aufzukaufen – die entscheidende
Ursache dafür, dass die Eurokrise seit Ende 2012 viel von ihrer
Wucht verloren hat. Mit ihren Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des
Beschlusses stellten die Karlsruher Verfassungsrichter also einen
entscheidenden Baustein in der Architektur der Euro-Rettung in Frage
und riskierten eine neue Panik auf den Finanzmärkten. Dass sie dies
an einem Freitag taten, hätte den Regierungen jedoch ermöglicht,
sich schlimmstenfalls an diesem Wochenende einen neuen Notfallplan zu
überlegen, bevor am Montag die Börsen öffnen – und damit eine
größere Katastrophe zu verhindern.
Indessen blieb die Panik
gestern aus, was auch mit der öffentlichen Wahrnehmung der
Entscheidung zu tun haben dürfte. Mit Ausnahme der FAZ
(die ihren Artikel mit „Verfassungsrichter
halten EZB-Programm für rechtswidrig“ überschrieb) stellten
die
meisten
Medien
in der Berichterstattung nämlich nicht etwa die Karlsruher Bedenken
gegenüber dem OMT-Beschluss in den Mittelpunkt. Was sie betonten,
war vielmehr die Vorlage an den EuGH: Zum ersten Mal überhaupt in
seiner Geschichte entschied sich das Bundesverfassungsgericht, einen
Fall nicht einfach selbst zu entscheiden, sondern ihn an das höchste
Gericht der Europäischen Union weiterzuleiten. Dabei handelt es sich
um einen juristischen Paukenschlag, der nicht nur für das
traditionell spannungsreiche Verhältnis zwischen den beiden
Gerichtshöfen weitreichende Folgen haben dürfte.
Verfassungspluralismus
Um
die Tragweite der Entscheidung zu verstehen, gilt es zunächst einige
verfassungsrechtliche Hintergründe zu klären. Bis heute ist in der
deutschen Öffentlichkeit die Vorstellung recht verbreitet, dass wir
in einem einheitlichen Rechtssystem leben würden: einer klaren
Ordnung mit einer eindeutigen Hierarchie der Normen und Gerichte, bei
der an oberster Stelle das Grundgesetz als Staatsverfassung steht,
über dessen Einhaltung letztinstanzlich das Bundesverfassungsgericht
wacht.
Diese
einfache Konzeption ist jedoch kaum geeignet, um überstaatliches
Recht zu erklären. Denn das Völker- oder Europarecht ist ja nicht
einfach aus dem nationalen Recht abgeleitet und kann auch nicht durch
einseitige nationale Maßnahmen seine Gültigkeit verlieren. Vielmehr
erklärte der Europäische Gerichtshof bereits 1964 in seiner
Costa/ENEL-Entscheidung,
dass das Europarecht einen Anwendungsvorrang vor jeder nationalen
Rechtsnorm haben müsse, „wenn nicht die Rechtsgrundlage der
[Europäischen] Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll“.
Das Bundesverfassungsgericht hingegen betonte seit dem
Solange-Beschluss
von 1974 (und zuletzt im Lissabon-Urteil
von 2009) immer wieder, dass es sich bei gravierenden Verstößen des
Europarechts gegen deutsche Verfassungsnormen ein eigenes
Letztentscheidungsrecht vorbehält.
In
der Rechtswissenschaft hat sich deshalb seit mehreren Jahren das
Konzept des „Verfassungspluralismus“ etabliert: Der Zustand, in
dem wir leben, ist kein strikt geordnetes Rechtssystem, sondern eine
Vielzahl von nebeneinander existierenden Rechtsordnungen. Das
nationale Verfassungsrecht ist eine davon, das Europarecht eine
weitere; hinzu kommen außerdem das Recht der Vereinten Nationen und
verschiedener anderer überstaatlicher Organisationen. Entscheidend
ist dabei, dass diese Rechtsordnungen in keiner Hierarchie
zueinander stehen. Jede von ihnen nimmt für sich in Anspruch, aus
sich selbst heraus gültig und keiner anderen Ordnung untergeordnet
zu sein – und daher verstehen sich auch sowohl das BVerfG (unter
Berufung auf Art. 93
GG) als auch der EuGH (unter Berufung auf Art.
267 AEUV) als die Institution, die in letzter Instanz über die
Auslegung ihres jeweiligen Rechts zu entscheiden hat.
Das „Kooperationsverhältnis“ zwischen den höchsten Gerichten
Es
versteht sich von selbst, dass sich aus diesen konkurrierenden
Geltungsansprüchen gewisse Spannungsverhältnisse ergeben.
Abgemildert werden sie durch sogenannte Öffnungsklauseln: Das
deutsche Grundgesetz zum Beispiel erkennt in Art.
23 GG die Geltung des Europarechts an, während umgekehrt das
Europarecht nach Art. 4
EUV die nationale Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten zu
respektieren verspricht. Diese Öffnungsklauseln sind letztlich
Ausdruck der Hoffnung, dass sich die verschiedenen Rechtsordnungen
schon in Einklang werden bringen lassen, wenn die jeweiligen höchsten
Gerichte zusammenarbeiten und aufeinander hören.
In
der Praxis hat dieses europäisch-nationale „Kooperationsverhältnis“
(wie es das BVerfG im Maastricht-Urteil
nannte) bislang auch recht gut funktioniert. Dass Fälle, in denen es
um die Auslegung von Europarecht geht, dem EuGH vorgelegt werden
müssen, ist für die meisten nationalen Gerichte inzwischen eine
Selbstverständlichkeit. Die Verfassungsgerichte der großen
Mitgliedstaaten allerdings zierten sich lange vor diesem Schritt: Der französische Court Constitutionnel etwa konnte sich
erst im April 2013 zu
seiner ersten Vorlage nach Luxemburg durchringen. Das deutsche
Bundesverfassungsgericht wiederum prüfte sogar bei Fällen mit
klaren europarechtlichen Bezügen (etwa zum Europäischen
Haftbefehl oder zur Vorratsdatenspeicherung)
jeweils nur das deutsche Umsetzungsgesetz – und erhielt dadurch
symbolisch seinen Rang als höchstes Gericht aufrecht, das jeden Fall
selbst entscheiden kann und keine andere Instanz um ihre Meinung
bitten muss.
Der OMT-Fall
Mit
dem OMT-Fall jedoch ändert sich dies nun. Die Kläger hatten in dem
Verfahren argumentiert, dass die Europäische Zentralbank mit ihrer
Ankündigung, notfalls unbegrenzt Anleihen von Krisenstaaten
aufzukaufen, den Kompetenzrahmen überschritten habe, der ihr nach
den europäischen Verträgen zusteht. Zugleich greife diese
Kompetenzüberschreitung auch in die deutsche „Verfassungsidentität“
ein, da sie die wirtschafts- und haushaltspolitische Hoheit des
Deutschen Bundestags verletze. Die deutschen Staatsorgane müssten
deshalb alles tun, um die Durchführung des OMT-Beschlusses zu
verhindern – notfalls, indem die deutsche Bundesbank sich den
Anweisungen der EZB widersetze.
In
seiner gestrigen Entscheidung stellte das BVerfG nun fest, dass
eine solche Kompetenzüberschreitung der EZB vorliegen
könnte. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wollte das Gericht jedoch
nicht beantworten. Vielmehr könne es sich, wie in der Entscheidung
deutlich wird, durchaus auch eine einschränkende Lesart des
OMT-Beschlusses vorstellen, der innerhalb des Kompetenzrahmens der
Zentralbank bleibt und daher auch nicht in Konflikt mit dem deutschen
Grundgesetz kommt. Welche Lesart des OMT-Beschlusses juristisch
richtig ist, kann aber nicht ein nationales Gericht allein
entscheiden, sondern nur der EuGH – und darum kam es nun zu der
symbolisch so bedeutsamen ersten Vorlage der deutschen
Verfassungsrichter an ihre europäischen Kollegen.
Kann Karlsruhe den
EuGH fernsteuern?
Allerdings
wäre Karlsruhe nicht Karlsruhe, wenn das BVerfG nicht auch diesmal
deutlich gemacht hätte, dass es sich eigentlich selbst für das
wichtigste aller Gerichte hält. Denn statt sich nun einfach
zurückzunehmen und dem EuGH das Feld zu überlassen, zeigen die
deutschen Verfassungsrichter in der Entscheidung (Wortlaut)
zunächst einmal ihr vollständiges Droharsenal – und betonen dabei
ausdrücklich, dass sie sich die Letztentscheidung über die
Verfassungsmäßigkeit europäischer Rechtsakte selbst vorbehalten
(Rn. 17-32) und dass sie gegebenenfalls den deutschen Staatsorganen
die Teilnahme am OMT-Programm verbieten würden (Rn. 33-54).
Der
bemerkenswerteste Teil der Entscheidung allerdings ist die
ausführliche „Interpretation des Unionsrechts durch das
Bundesverfassungsgericht“, die im Anschluss daran folgt (Rn.
55-100). Die Verfassungsrichter machen darin sehr deutlich, wo sie
selbst die Kompetenzgrenzen der Europäischen Zentralbank sehen –
und welche Argumente sie deshalb auch aus Luxemburg auf keinen Fall
hören wollen. Am Schluss dieses Abschnitts (Rn. 99-100) errichten sie dann jedoch eine goldene Brücke, über die sie den Europäischen
Gerichtshof zu gehen einladen: „Der OMT-Beschluss“, so heißt es
da, „wäre aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise
dann nicht zu beanstanden, wenn er […] so ausgelegt oder in seiner
Gültigkeit beschränkt würde, dass er die Konditionalität der
Hilfsprogramme […] nicht unterläuft […] und einen die
Wirtschaftspolitik der Union nur unterstützenden Charakter hat […].“
Abschließend folgen noch einige konkrete Kriterien, wie diese
einschränkende Auslegung aus Sicht des BVerfG im Einzelnen aussehen
müsste.
Es
fällt nicht schwer, in dieser Vorlage den Versuch zu erkennen, den
EuGH von Karlsruhe aus fernzusteuern. Wenn die europäischen Richter
an einer einfachen, einvernehmlichen Lösung interessiert sind, dann
gäbe es für sie nichts Leichteres, als die goldene Brücke zu
betreten. Aus der symbolischen Unterwerfungsgeste – der Abgabe des
Falls nach Luxemburg – könnte dadurch letztlich ein Punktsieg für
die deutschen Verfassungsrichter werden, die zwar die Zuständigkeit
des EuGH anerkannt, zugleich aber die wesentlichen Züge von dessen
Urteil selbst vorbestimmt hätten.
Angriff auf die
Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank
Sollte
sich der EuGH darauf einlassen? Ginge es nur um den lieben
Rechtsfrieden, so wäre das wohl eine akzeptable Lösung. Doch leider
gibt es auch einen gravierenden Grund, der dagegen spricht: In der
Sache nämlich zeigt die Karlsruher „Interpretation des
Unionsrechts“ große Schwächen, und würden die europäischen
Richter sie einfach übernehmen, so hätte dies einen massiven
Verlust an Unabhängigkeit für die Europäische Zentralbank zur
Folge.
Der
zentrale Knackpunkt ist dabei, ob der OMT-Beschluss der EZB als
geldpolitische oder als wirtschaftspolitische Maßnahme
zu werten ist. Die Zentralbank selbst hat stets das Erstere
betont: Wenn sie Staatsanleihen aufkaufe, dann nicht, um dem Haushalt
einzelner Länder auf die Beine zu helfen, sondern um akute
Panikreaktionen auf den Finanzmärkten zu verhindern und damit
überhaupt erst die Grundlage für andere geldpolitische
Maßnahmen zu schaffen. Mit dem OMT-Programm komme sie daher ihrer
ureigensten Aufgabe, der Erhaltung der Preisstabilität, nach. Das
BVerfG hingegen lässt eine solche Deutung gar nicht erst zu. Aus
seiner Sicht kann der OMT-Beschluss allenfalls die Funktion erfüllen,
die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zu unterstützen.
Auch dazu ist die EZB nach Art.
127 AEUV berechtigt – allerdings nur unter deutlich engeren
Bedingungen.
Doch
indem das Gericht sich selbst die Entscheidung darüber anmaßt,
welche Maßnahmen noch in den Bereich der Geldpolitik fallen und
welche nicht, unterwandert es letztlich selbst die Kompetenzordnung
der EU-Verträge, die der EZB in dieser Frage einen weiten
Ermessensspielraum zugesteht. Bezeichnend ist dabei Randnummer 71 der
BVerfG-Entscheidung, in der die Krisenanalyse der
Europäischen Zentralbank als eine bloße „Auffassung“ abgetan
wird – im Gegensatz zu der „überzeugenden Expertise der
Bundesbank“, der das Gericht anschließend durchgehend folgt. Dass die Bundesbank den OMT-Beschluss von Anfang an ablehnte und ihr Präsident Jens Weidmann dies auch im EZB-Rat vorbrachte, dort jedoch die übrigen europäischen Zentralbankchefs nicht von seiner Meinung überzeugen konnte, interessiert in Karlsruhe niemanden.
Wenn der EuGH
widerspricht
Doch wenn künftig nicht mehr die zuständigen Zentralbankgremien, sondern
die Gerichte über die „korrekte“ Deutung der wirtschaftlichen
Lage entscheiden, dann ist es mit der Unabhängigkeit der EZB
erkennbar nicht mehr weit her. Will der EuGH diesen Angriff abwehren,
so wird ihm nichts anderes übrigbleiben, als die Karlsruher Interpretation in Bausch und Bogen zu
verwerfen – und den OMT-Beschluss schon deshalb für zulässig zu
erklären, weil die Zentralbank damit nur das tut, was sie selbst
entsprechend ihrer vertraglichen Zuständigkeit für geldpolitisch
notwendig hält.
Sollte
der EuGH tatsächlich zu diesem Ergebnis gelangen, so liegt
der Ball wieder beim Bundesverfassungsgericht. Ihm blieben dann nur
zwei Möglichkeiten: Entweder es würde klein beigeben und der
Luxemburger Linie folgen, womit freilich seine Fernsteuerungsversuche
endgültig fehlgeschlagen wären. Oder es müsste die
Letztentscheidungskeule, die es im gestrigen Vorlagebeschluss nur
kurz vorzeigte, tatsächlich zum Einsatz bringen.
Droht ein „Krieg der
Richter“?
Doch
was in diesem Fall geschehen würde, will man sich nicht ausmalen. Es
käme zu dem seit langem befürchteten „Krieg
der Richter“, bei dem das höchste europäische und das höchste
nationale Gericht einander offen widersprechen. Was dann zu
tun wäre, ist rechtlich nicht zu lösen: Als nationale Exekutive
eines EU-Mitgliedstaats sind die deutsche Bundesregierung und die
Bundesbank an ein Urteil des EuGH nicht weniger gebunden als an eines
des Bundesverfassungsgerichts. Die europäische und die nationale
Rechtsordnung würden mit dem gleichen Anspruch jeweils
entgegengesetzte Forderungen erheben – und letztlich bliebe es
jedem Einzelnen überlassen, an welche davon er sich hält.
Dass
es zuletzt wirklich so weit kommt, ist wenig wahrscheinlich. Denn
natürlich wissen auch die Richter in Karlsruhe und Luxemburg, welche
Risiken ein solch ultimativer politischer Loyalitätstest mit sich
brächte. Doch welchen Ausgang der OMT-Fall auch immer nimmt: Das
Verhältnis zwischen dem deutschen und dem europäischen Verfassungsgericht
wird auch in Zukunft wohl noch lange spannungsreich bleiben, wenn die
wirtschaftliche Krise in der Eurozone längst vergessen ist.
Bild: By Benutzer:Evilboy (Own work) [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons.
Das Bild der "Fersteuerung" ist passend. Allerdings scheint niemand die politische Dialektik des Beschlusses zu erkennen:
AntwortenLöschenRandnummer 103 ist für mich der zentrale Teil, um den es zukünftig gehen wird: bestätigt der EuGH die unionsrechtliche Kompatibilität des OMT-Programms (was weithin erwartet wird) und setzt sich damit über die Karlruher Bedenken hinweg, bestätigt es gleichzeitig die Grundgesetzwidrigkeit nach Art 79 (3). Ein unbeschränktes OMT-Programm ist eine unkalkulierbare Belastung für die Bilanz der Bundesbank und damit ein Eingriff in die Haushaltssouveränität des Bundestages.