- Dass man Hähnchen nach dem Rupfen in Chlorlauge tunkt, ist für viele Amerikaner eine Selbstverständlichkeit. Und verdirbt vielen Europäern den Appetit.
Dass der
EU-Außenhandelskommissar Karel de Gucht (OpenVLD/ALDE) am
vergangenen Dienstag ankündigte, die Verhandlungen über das
europäisch-amerikanische Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP
bis
Anfang Juni wenigstens teilweise auszusetzen, kann man so oder so
deuten. Wer der Europäischen Kommission wohlgesonnen ist, wird darin
eine besonnene Reaktion auf die Proteste und Vorbehalte erkennen, die
viele zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften in den
letzten Wochen gegen das geplante Abkommen geäußert haben (etwa
hier,
hier
oder hier).
Wer den europäischen Verhandlungsführern etwas weniger freundlich
gegenübersteht, könnte freilich auch den Versuch einer gezielten
Dethematisierung sehen, um die heikle Angelegenheit aus dem
Europawahlkampf herauszuhalten. Schließlich ist das Verfahren der
Online-Konsultation, wie es De Gucht nun zu TTIP durchführen
will, nicht
gerade für seine Öffentlichkeitswirkung bekannt. Doch was auch
immer die Europäische Kommission bezweckt: Der Konflikt um das
Abkommen ist real und wird wohl auch in Zukunft noch für einige
Aufregung sorgen.
Ziel der Verhandlungen,
die die EU und die USA vor knapp einem Jahr aufgenommen haben, ist
ein Abkommen, das die verbleibenden bilateralen Zölle absenken oder
abschaffen, Produktstandards harmonisieren und die Investitionen von
Unternehmen des jeweils anderen Landes vor unerwarteten
Gesetzesänderungen schützen soll. Die Gegner des Abkommens hingegen
warnen – in oft recht schrillen Tönen – vor Gefahren für Umwelt
und Gesundheit, vor ungebremsten Privatisierungen und vor einer
Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Was ist davon zu
halten?
Erstes Streitthema:
Umwelt- und Verbraucherstandards
Nach meinem Eindruck
konzentriert sich der Streit um TTIP auf zwei Konfliktfelder, die
zwar meistens zugleich diskutiert werden, aber etwas
unterschiedlichen inneren Logiken folgen. Das erste dieser beiden
Felder betrifft die Harmonisierung von Produktstandards, die nach den
Vorstellungen der Europäischen Kommission und der US-Regierung den
transatlantischen Handel in Schwung bringen soll. Tatsächlich sind
die Zölle zwischen der EU und den USA schon heute so niedrig, dass
sie den freien Warenverkehr zwischen beiden Seiten kaum belasten. Das
größere Problem für den Freihandel bilden die sogenannten
„nicht-tarifären
Handelshemmnisse“. Dabei geht es insbesondere um
unterschiedliche Produktstandards, die dazu führen, dass Unternehmen
oft für dieselbe Ware in jedem Land ein eigenes Zulassungsverfahren
durchlaufen müssen. Durch eine
Angleichung der Normen ließe sich hier also viel Aufwand und Geld
sparen: Die Befürworter des Freihandelsabkommens erwarten davon
einen
Wachstumsschub von bis zu 1,5% des Bruttoinlandsprodukts.
Doch was sich so einfach
anhört, entpuppt sich bei näherem Hinsehen schnell als eine überaus
sensible Frage. Denn außer um rein technische Normen, die sich ohne
Weiteres harmonisieren lassen, geht es in den TTIP-Verhandlungen auch
um Standards im Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz, die
jeden einzelnen Konsumenten betreffen. Zudem unterscheiden sich die
kulturellen Erwartungen von Europäern und Amerikanern hier teils
gewaltig. Das bekannteste Beispiel dafür dürfte das „Chlorhühnchen“
sein, das in kaum einer TTIP-Debatte fehlt: Während es in den USA
üblich ist, geschlachtete Hühner zur Desinfizierung in eine
Chlorlauge zu tunken, ist diese Praxis in der EU bislang verboten –
und löst bei vielen europäischen Verbrauchern Ekel aus. Ähnliches
gilt beispielsweise auch für gentechnisch veränderte oder
hormonbehandelte Nahrungsmittel. Und da die amerikanische Wirtschaft
natürlich wenig Interesse daran hat, die aus ihrer Sicht unnötig
restriktiven europäischen Vorschriften auch auf dem US-Markt
einzuführen, fürchten europäische Umwelt- und Verbraucherverbände
nun, dass eine Harmonisierung der Normen vor allem zu einer Absenkung
der EU-Standards führen würde.
In den letzten Wochen
gewann diese Sorge in der öffentlichen Debatte allerdings fast
panikhafte Züge. So warnte etwa die deutsche Arbeitsgemeinschaft
bäuerliche Landwirtschaft e.V. in einem vielbeachteten
Aufruf auf der Kampagnenplattform campact.de,
dass TTIP „unsere Gesundheit“ gefährde, da dadurch alles, was
„in den USA erlaubt ist, […] auch in der EU legal“ würde. Und
in einer österreichischen
Petition erklärte Greenpeace,
das Freihandelsabkommen verfolge das Ziel, dass „europäische
Lebensmittelstandards […] den Profiten US-amerikanischer Konzerne
zukünftig nicht mehr im Wege stehen“. Es ist kaum verwunderlich,
dass viele Bürger auf solche Warnungen erst einmal verunsichert
reagieren – auch wenn die Verhandlungsführer selbst wiederholt
betont haben, dass sie keineswegs eine Absenkung der europäischen
Umwelt- und Verbraucherschutzstandards beabsichtigen.
Delegitimation durch
Verfahren
Viel
Lärm um nichts also? Als ich selbst vor knapp einem Jahr zum ersten
Mal in
diesem Blog über die TTIP-Verhandlungen geschrieben habe, war
genau das meine Vermutung. Tatsächlich muss das transatlantische
Abkommen nämlich nicht nur von US-Regierung und EU-Kommission
beschlossen,
sondern auch vom amerikanischen
Kongress, dem Europäischen Parlament und dem EU-Ministerrat
ratifiziert werden. Das Europäische Parlament aber hat bereits 2012
am Anti-Piraterie-Abkommen ACTA bewiesen, dass es durchaus auch
aufwendig
ausgehandelte Handelsverträge ablehnen kann, wenn der Druck aus
der Bevölkerung hoch genug ist.
Sollte
TTIP am Ende wirklich eine Legalisierung von Chlorhuhn und
Genmais beinhalten, so darf man wohl getrost davon ausgehen, dass es
im Parlament zu Fall gebracht und niemals in Kraft treten wird. Wenn
die Verhandlungsführer also irgendeine Aussicht auf Erfolg haben
wollen, werden sie die besonders sensiblen Bereiche vermutlich
einfach aus dem Abkommen ausklammern. Viele der Ängste, die TTIP
derzeit auslöst, dürften sich deshalb zuletzt als unbegründet
erweisen. Das Problem bei dieser Perspektive ist nur, dass die
Gespräche zwischen der Europäischen Kommission und der US-Regierung
geheim sind. Bis zu ihrem Abschluss wird für die Öffentlichkeit
kaum nachvollziehbar sein, welche Vorschläge sich noch in der
Diskussion befinden und welche bereits vom Tisch sind.
Damit
jedoch entsteht eine paradoxe Situation: Zum einen sind die Aktionen
aus der Zivilgesellschaft notwendig, um den Druck auf die
Verhandlungsführer aufrechtzuerhalten und damit die Chance auf ein
„besseres“, umwelt- und verbraucherfreundlicheres TTIP zu
erreichen. Zum anderen führen diese Proteste aber auch dazu, dass
das Abkommen als Ganzes in der Öffentlichkeit delegitimiert wird.
Selbst wenn die Verhandlungsergebnisse zuletzt durchaus akzeptabel
sind, wird es schwerfallen, dafür noch Zustimmung in der Bevölkerung
zu finden. TTIP ist damit ein schönes Beispiel für das, was man
„Delegitimation durch Verfahren“ nennen könnte: Woran das
Abkommen zuletzt scheitern könnte, sind nicht so sehr seine Inhalte
– sondern vor allem die Intransparenz der zwischenstaatlichen
Gespräche, mit denen es ausgehandelt wird.
Zweites Streitthema:
Investitionsschutz
Doch
die Harmonisierung von Produktstandards ist, wie gesagt, nur der
eine große Konfliktbereich im Streit um den neuen transatlantischen
Vertrag. Mindestens ebenso umstritten ist noch ein zweites Thema:
TTIP betrifft nämlich nicht allein den Freihandel, sondern auch den Investitionsschutz – und dieses letztere Kapitel der Verhandlungen war es auch, dessen vorläufige Suspendierung Karel
de Gucht in der vergangenen Woche ankündigte. Denn während es bei den
Produktstandards nur um „unsere Gesundheit“ geht, stehen beim
Investitionsschutz in den Augen der Kritiker gleich auch Demokratie
und Rechtsstaat auf dem Spiel.
Dabei
gehören bilaterale Investitionsschutzabkommen in den internationalen
Handelsbeziehungen eigentlich längst zum Alltag. Weltweit existieren rund 2600 solche Abkommen, an denen
insgesamt 180 Staaten beteiligt sind (einen
kompletten Überblick bietet die UN-Handelskonferenz UNCTAD).
Rekordhalter ist dabei die Bundesrepublik Deutschland, die von
Afghanistan bis Zentralafrika mit über
130 Staaten ein Investitionsschutzabkommen abgeschlossen hat.
Acht EU-Mitgliedstaaten – Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland,
Litauen, Polen, Rumänien und die Slowakei – haben sogar bereits
mit
den USA einen derartigen Vertrag, der durch TTIP lediglich
erneuert und europaweit vereinheitlicht würde.
Der Sinn von
Investitionsschutzabkommen
Der
Sinn solcher Investitionsschutzabkommen ist immer derselbe. Wenn ein
Unternehmen in einem fremden Staat investiert, so geht es damit auch ein politisches Risiko ein. Insbesondere in
Entwicklungsländern mit instabilen Institutionen kann es leicht
vorkommen, dass eine Regierung die Rechte ausländischer
Direktinvestoren überraschend einschränkt – etwa durch
entschädigungslose Enteignungen. Bilaterale
Investitionsschutzabkommen sollen dieses Risiko minimieren: Zwei
Staaten schreiben darin bestimmte rechtliche Garantien fest, die für
Investoren aus dem jeweils anderen Land gelten sollen.
Verstößt
dann später eine der beiden Regierungen gegen diese Garantien, so hat der
betroffene Investor die Möglichkeit, eine Klage gegen sie
einzuleiten. Als Rechtsinstanz dienen dabei allerdings nicht etwa die
Gerichtshöfe der beteiligten Staaten, sondern spezielle
internationale Schiedsgerichte, deren genaue Zusammensetzung und Verfahrensregeln in den Abkommen selbst festgelegt sind. Üblicherweise greifen die Staaten dabei auf schon existierende institutionelle Rahmen zurück, wie sie etwa das Internationale
Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) oder das
Schiedsgericht
der Internationalen Handelskammer bieten. Stellt das Schiedsgericht fest, dass die Regierung tatsächlich gegen die Rechte des Investors verstoßen hat, so kann es sie zu Schadensersatzleistungen verpflichten, die dann auch direkt vollstreckbar sind und in aller Regel umgesetzt werden.
Einschränkung des
demokratischen Handlungsspielraums
Während
Investitionsschutzabkommen also einerseits ein sinnvolles Mittel
sind, um grenzüberschreitende Investitionen zu erleichtern,
schränken sie andererseits immer auch den demokratischen
Handlungsspielraum der beteiligten Staaten ein. Diese Problematik
wurde in den letzten Jahren durch einige spektakuläre Fälle
verdeutlicht: Internationale Aufmerksamkeit erregte etwa der
Cochabamba-Fall,
als die bolivianische Regierung einem ausländischen privaten
Wasserversorger 2000 die Konzession entzog, nachdem dieser die Preise
stark erhöht und damit den Wasserzugang der lokalen Bevölkerung
gefährdet und blutige Unruhen ausgelöst hatte. Der Wasserversorger
zog deshalb vor den ICSID und ließ die Klage erst nach Protesten
internationaler NGOs wegen des drohenden Imageschadens fallen. Ein
prominenter Fall in Deutschland wiederum ist die Klage, die der
schwedische Energiekonzern Vattenfall 2012 vor
einem ICSID-Schiedsgericht erhob, da der vom Bundestag beschlossene Atomausstieg das Unternehmen
um seine Investitionen in deutsche Kernkraftwerke bringe und daher
wie eine entschädigungslose Enteignung wirke.
Die
Sorge der TTIP-Gegner ist, dass solche Fälle durch das
europäisch-amerikanische Abkommen künftig auch in Europa häufiger
werden könnten. Immer wieder wird dabei das Beispiel Fracking
angeführt, also das Aufbrechen von Tiefengestein zur Förderung von
Erdöl und Erdgas. Diese ökologisch sehr umstrittene Technik ist derzeit in
den meisten EU-Ländern erlaubt, wird aber kaum aktiv betrieben.
Sollten US-amerikanische Unternehmen nun damit beginnen, wäre es –
so die Befürchtung – für die EU-Mitgliedstaaten künftig kaum
noch möglich, ein Verbot zu beschließen, einfach weil dadurch die
Investitionen dieser Unternehmen ihren Wert verlören.
Wieder einmal das
Rodrik-Trilemma
Letztlich
ist der Streit um den Investitionsschutz wieder einmal ein Beispiel
für das Rodrik-Trilemma, das regelmäßigen Lesern dieses Blogs
schon vertraut
sein
dürfte.
Kurz gefasst besagt dieses Trilemma, dass man nicht gleichzeitig
Demokratie, enge grenzüberschreitende Wirtschaftsverflechtungen und
nationale Souveränität haben kann, sondern immer auf eines davon
verzichten muss. Nicht nur TTIP, sondern jedes bilaterale
Investitionsschutzabkommen erleichtert den wirtschaftlichen
Austausch, reduziert aber zugleich den demokratischen
Handlungsspielraum der nationalen Parlamente. Will man beide
Ziele miteinander vereinen, so bleibt nur die Möglichkeit
eines überstaatlichen Föderalismus, bei dem die
grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen von gemeinsam gewählten
supranationalen Institutionen geregelt werden.
Doch
wie ich bereits vor
einem Jahr festgestellt habe, steht eine solche supranationale
Union zwischen EU und USA in den TTIP-Verhandlungen ganz sicher nicht
auf der Tagesordnung – und daran wird auch die von De Gucht
verordnete Denkpause nichts ändern. Stattdessen wird der Ausweg wohl
auch hier darin bestehen, die umstrittensten Punkte einfach
auszuklammern und sich auf einen Investitionsschutz light zu
beschränken, der beiden Seiten noch ausreichenden politischen
Entscheidungsspielraum lässt. Es bleibt abzuwarten, ob diese Lösung
zuletzt auch das Europäische Parlament überzeugt. Doch wie auch
immer der Streit um TTIP ausgeht: Schon jetzt macht er deutlich, wie
schnell ein rein zwischenstaatliches Abkommen ohne supranationale demokratische Organe an seine Grenzen stößt,
wenn es darum geht, einen echten gemeinsamen Markt zu etablieren.
Bild: By fracisco delatorre (drspam) [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr.
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