- David Cameron (Cons./AECR) ist kein Freund einer allzu freien Freizügigkeit. Jedenfalls wenn es um Europa geht und ein Wahlkampf bevorsteht.
Die Überschrift des
Gastbeitrags,
den der britische Premierminister David Cameron (Cons./AECR) am
26. November in der Financial Times veröffentlichte,
hätte kaum aussagekräftiger sein können: Free movement
within Europe needs to be less free – Die Freizügigkeit in Europa
muss weniger frei werden. Anlass
des Artikels war das baldige Ende einer Übergangsregelung aus den
Beitrittsverträgen mit Rumänien und Bulgarien. Obwohl diese beiden
Länder schon 2007 Mitglied der Europäischen Union wurden, hatten
die übrigen Mitgliedstaaten für eine Frist von sieben Jahren die
Möglichkeit, die Zuwanderung von dort einseitig einzuschränken. Ab
1. Januar 2014 entfällt diese Option. Auch Rumänen und
Bulgaren werden dann in den vollen Genuss ihrer Rechte nach Art. 21
AEU-Vertrag kommen, der es jedem Unionsbürger erlaubt, „sich
im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den
Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen
Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“.
Deutsch-britische
Angst vor „Sozialtourismus“
Für
David Cameron ist dieses Freizügigkeitsrecht für Rumänen und
Bulgaren besorgniserregend, und er ist damit weder der Erste noch der
Einzige. So befürchtet nach einer Umfrage
von letztem Februar eine große Mehrheit der Briten, dass die
Einwanderung von Menschen aus diesen Ländern „negative Effekte“
haben würde. Und fast die Hälfte der Befragten sprach sich dafür
aus, die Freizügigkeit von Rumänen und Bulgaren auch künftig
einzuschränken, selbst wenn das bedeutete, europäisches Recht zu
brechen. Bereits im August zeichnete
sich deshalb ab, dass die britische Regierung das Thema in den
Monaten vor der Europawahl 2014 auf die Tagesordnung bringen würde.
Im
Mittelpunkt der Debatte steht dabei die Angst vor „Sozialtourismus“:
Zum einen handelt es sich bei Rumänien und Bulgarien um die beiden
ärmsten Mitgliedstaaten – das Pro-Kopf-Einkommen liegt in beiden
Ländern etwa bei der
Hälfte des EU-Durchschnitts. Zum anderen zählen sie (mit einem
Gini-Koeffizienten
von jeweils über
33) auch zu den Staaten, in denen das Einkommen besonders
ungleich verteilt ist. Besonders Sinti und Roma leiden häufig an
wirtschaftlicher Not und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Steht also
zu befürchten, dass der Europäischen Union eine Welle von
Binnenmigranten bevorsteht, die in ihren Herkunftsländern keine
Zukunftschancen sehen und deshalb in die großzügigeren
Wohlfahrtssysteme der wohlhabenden nord- und westeuropäischen
Staaten flüchten?
Unterstützung
erhielt Cameron jedenfalls vor allem aus Deutschland:
Bereits im Februar wies der Deutsche Städtetag auf die Gefahr einer
steigenden „Armutszuwanderung
aus Südosteuropa“ hin, im Sommer warnte
die CDU/CSU (EVP) in ihrem Bundestagswahlprogramm vor einer
„Zuwanderung,
die darauf gerichtet ist, die europäische Freizügigkeit zu
missbrauchen und die sozialen Sicherungssysteme unseres Landes
auszunutzen“. Und während der Städtetagspräsident Ulrich Maly
(SPD/SPE) sich jüngst
etwas zurückhaltender äußerte,
verschärften die CDU/CSU-Innenpolitiker ihre Linie in
den letzten Tagen eher noch.
Die Argumente der
Europäischen Kommission
In
der Europäischen Kommission stößt die deutsch-britische Angst vor
Sozialmissbrauch indessen auf wenig Verständnis. Schon in einer
Stellungnahme
von Februar
erklärte sie die Befürchtungen der Freizügigkeitskritiker
kurzerhand für „Mythen“, und nach Camerons Artikel in der
Financial
Times legten
Sozialkommissar László Andor (MSZP/SPE) und Justizkommissarin
Viviane Reding (CSV/EVP) zuletzt noch einmal in
scharfen Worten nach.
Die Argumente, auf
die sich die Kommission dabei stützt, sind zweierlei: Zum einen
zeigen wissenschaftliche
Studien, dass innereuropäische Migranten öfter berufstätig
sind und seltener Sozialleistungen empfangen als der Durchschnitt der
Bevölkerung. Wer in ein anderes Land zieht, der tut dies in aller
Regel, um dort eine Arbeit aufzunehmen (oder um Familienangehörige
zu begleiten, die dort eine Arbeit aufnehmen) – nicht, um sich in
ein ausländisches Wohlfahrtssystem einzuschleichen. Selbst eine
Untersuchung, die von
der britischen Regierung selbst in Auftrag gegeben wurden, sieht
keine Anzeichen für den „Sozialtourismus“, den Cameron
befürchtet.
Die Grenzen der
europäischen Freizügigkeit
Zum
anderen argumentiert die Kommission, dass Art. 21 AEUV das
Freizügigkeitsrecht nicht absolut garantiert, sondern eben
nur „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den
Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und
Bedingungen“. Tatsächlich muss nach der einschlägigen
Richtlinie ein Unionsbürger, der sich länger als drei Monate in
einem anderen
Mitgliedstaat aufhalten will, entweder erwerbstätig
sein oder anderweitig über „ausreichende Existenzmittel“ für
sich und seine Angehörigen verfügen, „so dass sie
während ihres
Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in
Anspruch nehmen müssen“.
Erst nach mindestens einjähriger Beschäftigung entsteht ein
langfristiges Aufenthaltsrecht auch für Arbeitssuchende, und erst
nach fünf Jahren haben Migranten schließlich ohne jede Vorbedingung
ein Recht zum Daueraufenthalt in der neuen Heimat. (Für eine
detailliertere Übersicht der Regelungen siehe hier.)
Wenn also die
nationalen Sozialsysteme in den Zielländern der Migranten ein
Problem haben, so kann dies aus Sicht der Europäischen Kommission
nicht an der ohnehin eher restriktiven europäischen Gesetzgebung
liegen. Allenfalls könnte es daran liegen, dass nationale
Gerichte in ihren Urteilen über die EU-rechtlichen Mindeststandards
hinausgehen – oder dass die lokalen Behörden damit überfordert
sind, das komplexe Regelwerk zu durchschauen und Missbrauchsfälle zu
erkennen. Ein Fünf-Punkte-Aktionsplan, den Viviane Reding vor
einigen Wochen präsentierte, drehte sich deshalb fast
ausschließlich darum, die Kommunalverwaltungen besser aufzuklären,
ohne im Kern etwas am rechtlichen Status quo zu verändern.
Deutsche und britische
Gegenvorschläge
In
Berlin und London, aber auch in Wien und Den Haag stieß dieser
Aktionsplan allerdings auf wenig Gegenliebe. Auf einem Ratstreffen am
vergangenen Donnerstag kritisierten der deutsche Innenminister
Hans-Peter Friedrich (CSU/EVP) und seine britische Amtskollegin
Theresa May (Cons./AECR) die Vorschläge der Kommission als
ungenügend und präsentierten ihre eigenen Ideen. Wenigstens im
Falle der Bundesregierung blieben diese allerdings eher unkonkret: So
drohte
Friedrich damit, dass die Mitgliedstaaten „notfalls
außerhalb der EU-Strukturen eine multilaterale Verständigung“
herbeiführen würden. Wie diese aussehen könnte, blieb allerdings
unklar – da es sich bei der Freizügigkeit um eine vertraglich
garantierte Grundfreiheit der
einzelnen Unionsbürger handelt,
dürften die nationalen Regierungen kaum eine Möglichkeit haben, sie
auf einem anderen Weg als dem europarechtlich vorgesehenen
einzuschränken.
Konkreter wurde
hingegen Theresa May, die sich offen für
eine Änderung des Europarechts aussprach. Zum einen, so ihr
Vorschlag, solle bei künftigen Erweiterungen die Freizügigkeit so
lange eingeschränkt werden, bis das neue Mitgliedsland ein
bestimmtes Pro-Kopf-Einkommen erreicht habe. Zum anderen sollten
nationale Regierungen schon jetzt die Möglichkeit erhalten,
länderspezifische Quoten einzuführen, falls das Ausmaß der
Einwanderung „bestimmte Schwellenwerte“ überschreite.
Die Kommission verhält sich zu passiv
Was ist nun von
diesen Vorschlägen zu halten? Mir selbst scheint, dass sich die
Kommission in der Frage zu passiv verhält. Zwar ist es ein berechtigter Punkt, dass der viel befürchtete
„Sozialtourismus“ in Wirklichkeit gar nicht stattfindet. Doch der
Fokus auf dieses Thema geht ohnehin am Kern des Problems vorbei.
Liest man etwa die Erklärung
des Deutschen Städtetags von Februar etwas aufmerksamer, so
spielt der Missbrauch des Wohlfahrtssystems dort durchaus keine
zentrale Rolle. Was die Kommunen beklagen, sind vielmehr soziale
Probleme, die entstehen, wenn Migranten bedürftig sind, aber
trotzdem keine staatliche Unterstützung beantragen, weil sie bereits
wissen, dass sie dazu nicht berechtigt sind: von der schlechten
Gesundheitsversorgung über überfüllte Wohnungen bis zu Bettelei
und Kleinkriminalität.
Diese sozialen
Probleme tauchen in den Statistiken der Kommission lediglich als
Dunkelziffer auf, da Menschen ohne Krankenversicherung nach der
Freizügigkeitsrichtlinie ja sowieso kein Aufenthaltsrecht besitzen.
Aber kann man es wirklich allein den Mitgliedstaaten und Kommunen
überlassen, damit umzugehen? Die offenen Grenzen in Europa sind ein
gemeinsames Interesse der EU und eine Konsequenz der europäischen
Politik. Auch die ungewollten sozialen Nebenfolgen müssen deshalb
proaktiv auf europäischer Ebene behandelt werden.
Freizügigkeit ist ein
Bürgerrecht
Aber auch der
britische Ansatz geht klar in die falsche Richtung. Wie Viviane
Reding zu Recht betont hat, ist die europäische Freizügigkeit eine
der zentralen Grundfreiheiten, die die Europäische Union ihren
Bürgern garantiert. Der EU-Vertrag regelt eben nicht nur die
Beziehungen zwischen seinen Mitgliedstaaten, sondern schafft
auch eine Rechtsgemeinschaft unter den einzelnen europäischen
Bürgern. Aus demokratischer Sicht scheint mir deshalb schon die
derzeitige Regelung problematisch, da sie das Grundrecht auf
Freizügigkeit an bestimmte Wohlstandskriterien koppelt – und damit
faktisch dazu führt, dass reiche Unionsbürger bei der Wahl ihres
Wohnorts größere Rechte genießen als ärmere.
Die Quotenregelung
aber, die Theresa May vorgeschlagen hat, würde offensichtlich gegen
das Prinzip in Art. 18
AEUV verstoßen, dass Bürger der Europäischen Union nicht nach
ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden dürfen. Man darf
daher getrost davon ausgehen, dass sie – sollte es dafür jemals
eine Mehrheit in den europäischen Gesetzgebungsorganen geben, was
freilich nicht in Sicht ist – gegebenenfalls ohnehin vom
Europäischen Gerichtshof kassiert würde.
Gemeinsame Probleme
gemeinsam angehen
Was also sollte man
tun, wenn man einerseits die sozialen Probleme ernst nimmt, die sich aus der
Freizügigkeit ergeben, und andererseits die Europäische
Union als eine Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger verstehen und
stärken will? In meinen Augen kann die Lösung jedenfalls nicht
darin bestehen, die Freizügigkeit in irgendeiner Form weiter
einzuschränken. Stattdessen muss es die Aufgabe der Europäischen
Union sein, dieses Recht für all ihre Bürger unabhängig von deren
Wohlstand effektiv sicherzustellen – und dann gegebenenfalls die
daraus resultierenden Probleme bei der sozialen Integration von
Zuwanderern auf europäischer Ebene anzugehen.
Die
beste Nachricht in der innereuropäischen Migrationspolitik, die in
der letzten Zeit zu hören war, betrifft deshalb den Europäischen
Sozialfonds: Während der Förderperiode 2014-2020 soll der
Anteil der Mittel, die der ESF für die gesellschaftliche
Eingliederung von Menschen mit besonderen
Schwierigkeiten und Mitgliedern benachteiligter Gruppen aufwendet,
von
15 auf 20 Prozent erhöht werden. Zusätzlich könnte man
sich vorstellen, dass auch die übrigen EU-Strukturfonds künftig
Kommunen mit einem starken Wohlstandsgefälle oder mit anderen
Problemen, die sich aus der EU-Binnenmigration ergeben können,
stärker finanziell unterstützen.
Die Schwierigkeit bei dieser
Lösung ist nur, dass das europäische Budget schlicht
zu klein ist, um hier allzu große Hilfe zu leisten.
Gerade der Europäische Sozialfonds gehörte zu jenen Programmen, die
im Herbst 2012 beinahe aus
Geldmangel ihre Aktivitäten einstellen mussten. Hinzu kommt,
dass der jüngst
beschlossene mehrjährige Finanzrahmen für 2014-2020 erstmals
niedriger ausgefallen ist als sein Vorgänger. Bei
der Finanzierung ihrer Aufgaben befindet sich die EU also schon jetzt
hart an der Schmerzgrenze. Zusätzliche Mittel für die
soziale Integration von Binnenmigranten werden deshalb wohl nur schwer aufzutreiben
sein.
Die führenden Akteure,
die in den Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen diesen
Sparkurs durchsetzten, waren übrigens die
britische und die deutsche Regierung. Womit auch dieser Kreis
sich schließt.
Bild: By Valsts kanceleja/ State Chancellery from Rīga, Latvija [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons.
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