Kein Zweifel: Die
Europäische Union hat ein Öffentlichkeitsproblem. Trotz aller
Fortschritte der europäischen Integration in den letzten Jahrzehnten
kommen die Politiker in Brüssel und Straßburg in der
Berichterstattung bis heute weit seltener vor als ihre Kollegen in
den nationalen Hauptstädten. Und auch wenn das Europäische
Parlament inzwischen in den meisten Politikbereichen als Gesetzgeber
mit dem Ministerrat gleichberechtigt ist, finden in den Medien statt
der Europaabgeordneten meist nur die nationalen Regierungen
Aufmerksamkeit. Europapolitik wird deshalb meist durch die Brille
nationaler Interessen wahrgenommen. Über die europäischen Parteien
wissen die meisten Bürger hingegen nur wenig – und bei der
Europawahl, die doch eigentlich der zentrale demokratische
Legitimationsmechanismus der EU sein sollte, bleiben immer mehr von
ihnen zu Hause.
Woran aber liegt dieses
öffentliche Desinteresse an der EU und ihrem politischen System?
Stellt man diese Frage Europapolitikern, so sind sie oft geneigt, auf
die Journalisten zu schimpfen, die einfach die Bedeutung der EU nicht
erkennen würden. Kaum eine Podiumsdiskussion zur europäischen
Öffentlichkeit kommt heutzutage ohne eine solche Medienschelte aus,
hinter der sich freilich in den meisten Fällen nur Frustration und
Ratlosigkeit verbirgt. Konkrete Verbesserungsvorschläge hingegen
sind selten und wirken oft recht unbeholfen.
Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck etwa forderte in seiner Europa-Rede letzten Februar „so etwas wie Arte für alle“, mit „Diskussionsrunden […], die uns die Befindlichkeiten der Nachbarn vor Augen führten“. Außerdem solle es auf diesem Sender Nachrichten geben, die „nach einem Krisengipfel […] nicht nur ein Gesicht suchen, sondern die gesamte Runde am Verhandlungstisch einblenden“. Was Gauck dabei übersah, war der Umstand, dass ein solcher Kanal schon längst existiert: Sein Name ist Euronews, er sendet seit 1993, und seine Zuschauerzahlen sind, nun ja, bescheiden.
Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck etwa forderte in seiner Europa-Rede letzten Februar „so etwas wie Arte für alle“, mit „Diskussionsrunden […], die uns die Befindlichkeiten der Nachbarn vor Augen führten“. Außerdem solle es auf diesem Sender Nachrichten geben, die „nach einem Krisengipfel […] nicht nur ein Gesicht suchen, sondern die gesamte Runde am Verhandlungstisch einblenden“. Was Gauck dabei übersah, war der Umstand, dass ein solcher Kanal schon längst existiert: Sein Name ist Euronews, er sendet seit 1993, und seine Zuschauerzahlen sind, nun ja, bescheiden.
Die Politik muss Deutungsrahmen bieten
Bei ihren Forderungen
nach mehr Europa-Berichterstattung ignorieren Politiker gern, dass
Medien sich bei der Nachrichtenauswahl in erster Linie an der
Nachfrage ihres Publikums orientieren müssen. Zwar ist der Preis für
das Verbreiten von Informationen durch das Internet so niedrig
geworden, dass auch kleine, auf Europathemen spezialisierte
Nachrichtenportale wie EurActiv
und EUobserver
inzwischen überlebensfähig sind.
Doch wenn es darum geht, ein Massenpublikum zu erreichen, genügt es
eben nicht, über die „objektiv wichtigen“ Themen zu berichten.
Was man für eine große Auflage braucht, ist vielmehr Dramatisierung
und Personalisierung, klare Konfliktlinien, spektakuläre
Abstimmungen und der ein oder andere machtpolitische Showdown.
Diese
Dramatik zu erzeugen, ist zum Teil journalistisches Handwerk, doch
nicht weniger wichtig sind die Ereignisse, die das politische System
selbst mit seinen Verfahren generiert. Damit ein Reporter einen
schwierigen Sachverhalt auf eine verständliche Nachricht
herunterbrechen kann, muss das politische System ihm bestimmte
Deutungsmuster anbieten. Auf einzelstaatlicher Ebene etwa ist das vor
allem die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Parteien, zwischen
Regierung und Opposition im Parlament. Indem sie den
Interpretationsrahmen für fast alle Bereiche der öffentlichen
Debatte setzt, reduziert sie die enorme Komplexität der Politik auf
ein paar einfache, für die Medien leicht zu vermittelnde Gegensätze.
Hemmnisse für die europapolitische Debatte
In
der EU hingegen wird die Auseinandersetzung zwischen den Parteien bis
heute durch
eine Reihe von Faktoren gehemmt, die im politischen System selbst
angelegt sind. Einer von ihnen ist etwa die starke Zersplitterung des
Europäischen Parlaments, das aus nicht weniger als sieben Fraktionen
und 28 fraktionslosen Abgeordneten besteht. Dies trägt dazu bei,
dass die Mehrheiten im Europäischen Parlament viel flüchtiger sind
als auf nationaler Ebene: Anstelle eines festen Gegensatzes zwischen
Majorität und Opposition gibt es wechselnde Allianzen, die sich für
jede Abstimmung neu zusammenfinden. Ein zweiter Faktor ist die
Zusammensetzung der Europäischen Kommission: Auf nationaler Ebene
gehören Regierungsmitglieder in der Regel den Mehrheitsparteien an,
von denen sie gewählt werden. In der EU hingegen hat es sich
eingebürgert, dass jeder
Mitgliedstaat einen Kommissar vorschlägt. Dies führt dazu, dass
die Kommission parteipolitisch regelmäßig bunt gemischt ist;
derzeit sind in ihr Mitglieder der drei größten europäischen
Parteien (EVP, SPE, ALDE) vertreten. Wer aber sollte unter solchen
Umständen glaubhaft die europäische Opposition verkörpern?
Und
noch auf eine dritte Weise hemmen die europäischen Verfahren die
parteipolitische Auseinandersetzung in der EU: Das Europäische
Parlament ist bei der Gesetzgebung bis heute auf die Zustimmung des
Ministerrates angewiesen. Selbst wenn es in Straßburg eine klare
Opposition gäbe, könnte sie deshalb kaum versprechen, nach einem
Sieg bei den nächsten Europawahlen ein völlig neues politisches
Programm durchzusetzen – denn zuletzt müsste sie sich doch immer
mit den nationalen Regierungen im Rat arrangieren.
Wie EU-Institutionen interessanter werden können
Wenn
man will, dass die Medien mehr über die supranationalen
Institutionen der Europäischen Union berichten statt immer nur über
die nationalen Regierungen, so sollte man also nicht in erster Linie
die Medien ändern wollen. Vielmehr sind es die Institutionen selbst,
die für die Medien interessanter werden müssen. Ein erster Schritt
dazu dürften die Spitzenkandidaten
für das Amt des Kommissionspräsidenten sein, mit denen die
europäischen Parteien bei der Europawahl 2014 antreten werden. Um
einen echten Gegensatz zwischen Regierung und Opposition zu
erreichen, braucht es aber mehr: etwa transnationale
Wahllisten, eine Wahl der Kommission allein durch das Parlament
oder die Einführung exklusiver Gesetzgebungsbereiche, in denen das
Parlament auch ohne Einmischung des Ministerrats tätig werden kann.
Natürlich
ist es einfacher, über die Medien zu schimpfen als das politische
System der EU zu reformieren, aber dadurch wird man die Regeln der
Nachrichtenauswahl nicht verändern. Wirksamer wäre es, die
parteipolitische Auseinandersetzung auf europäischer Ebene selbst
endlich so spannend zu machen, dass die Medien von allein ein
Interesse daran haben, darüber zu berichten.
Eine gekürzte Version dieses Artikels ist im September im Treffpunkt Europa, dem Magazin der Jungen Europäischen Föderalisten Deutschlands, erschienen.
Bild: By Luctor IV (Own work) [GFDL, CC-BY-SA-3.0 or CC-BY-SA-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.
Ich glaube nicht, dass die fehlende Berichterstattung mit dem fehlen einer Opposition zusammen hängt.
AntwortenLöschenIch lebe in der Schweiz, und hier gibt es in keiner politischen Instanz das System einer Mehrheit und einer Opposition. Das Parlament besteht aus 5-7 grösseren und mehreren kleinen Parteien, die jeweils für jedes Thema wie auch im Artikel beschrieben Allianzen schmieden und Parolen fassen.
Trortdem wird intensiv über die Vorgänge in unserer Politik berichtet. Das Problem an der EU und deren politischen Organen ist viel eher, dass sie einfach zu unwichtig sind oder die Wähler/Zeitubgsleser das Gefühl haben, dass dies so ist.
Meiner Meinung nach ist es übrigens alles andere als erstrebenswert, ein Mehrheitssystem mit Opposition einzuführen. Dadurch wird das Abstimmen nach Parteibüchlein zementiert, was den Demokratiegedanken mit Füssen tritt.
@Anonym: Dass die supranationalen EU-Organe faktisch bedeutungslos wären, scheint mir eine Fehlwahrnehmung zu sein. Tatsächlich fällt ein sehr großer Teil der politischen Entscheidungen, die das Alltagsleben der Menschen in Europa (und aufgrund der bilateralen Verträge übrigens auch in der Schweiz) betreffen, inzwischen in Brüssel und Straßburg, und es sind keineswegs immer nur die nationalen Regierungen im Ministerrat, die darauf Einfluss nehmen. Dass die Wähler das Gefühl haben, die supranationalen Organe seien unwichtig, stimmt dagegen eher. Aber dieses Gefühl hat ja seine Ursache zu einem wesentlichen Anteil gerade in der geringen Berichterstattung darüber. (Wobei es sicher auch selbstverstärkende Effekte gibt: Weil viele Leser das Europaparlament für unwichtig halten, berichten die Zeitungen weniger darüber, und weil die Zeitungen weniger darüber berichten, halten viele Leser es für unwichtig.)
AntwortenLöschenDer Vergleich mit der Schweiz scheint mir interessant, aber nicht ganz treffend. Die politische Debatte in der Schweiz lebt nicht von einem Gegensatz zwischen Regierung und Opposition, sondern vor allem von direktdemokratischen Mechanismen - wobei die Parteien sich dadurch profilieren, welche Positionen sie zu den vielen einzelnen Volksabstimmungen einnehmen. Im EU-Rahmen wäre dieses Modell aber schon wegen der viel größeren Einwohnerzahl wohl kaum unmittelbar übertragbar (in der Schweiz gibt es insgesamt nur etwas mehr als 5 Millionen Wahlberechtigte). Insofern finde ich es naheliegender, für die EU das Modell einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie anzustreben, wie man es auch aus all ihren Mitgliedstaaten kennt.
Und was das "Abstimmen nach Parteibüchlein" betrifft, erscheint mir das gerade ein wichtiger Mechanismus innerhalb der repräsentativen Demokratie. Als Bürger kann ich bei der Wahl in erster Linie Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments nehmen, aber nur recht begrenzt auf die einzelnen Abgeordneten. Insofern habe ich durchaus ein Interesse daran, dass die Abgeordneten sich im Wesentlichen an das Programm halten, das ihre Partei vor der Wahl angekündigt hat. Mehr Fraktionsdisziplin im Parlament hat deshalb immer zwei gegenläufige Effekte: Zum einen erhöht sie die Macht einiger weniger Spitzenpolitiker gegenüber den vielen einzelnen Abgeordneten, was nicht unbedingt demokratieförderlich ist. Zum anderen ermöglicht sie aber auch den Bürgern eine informiertere Entscheidung bei der Parlamentswahl, was durchaus wünschenswert ist. Entscheidend ist deshalb die richtige Balance: Ein imperatives Mandat würde zweifellos den Parteispitzen allzu viel Macht einräumen; das in Deutschland übliche System (bei dem das Mandat de jure frei ist und de facto einem informellen Fraktionszwang unterliegt, von dem die Abgeordneten aber durchaus auch mal abweichen können, wenn sie das für angebracht halten) halte ich dagegen für ganz passabel.
Danke für die ausführliche Antwort :)
LöschenTatsächlich glaube ich auch nicht, dass das die politischen Organe der EU unwichtig wären. Es das wird zumindest bei uns in den Medien oftmals impliziert.
Ein Vergleich mit der Schweiz ist immer interessant und irgendwie auch angebracht, wenn es um Demokratiesysteme geht, da es in meiner bescheidenen Meinung das beste System ist. Dies soll aber auf gar keinen Fall heissen, dass es ohne Probleme ist oder dass man es gar überall einführen sollte.
Das ist ja wohl der größte Schwachsinn, den ich je gelesen habe. Weil die EU den Journalisten zu kompliziert ist und nicht spektakulär genug, wird auch nicht berichtet. Scheiß drauf, dass da wichtige Entscheidungen getroffen werden, die alle betreffen. Aber das ist eben zu sehr John Malkovich und zu wenig Bruce Willis. Was wir brauchen, sind also politische Dschungelshows, ich bin Politiker, holt mich hier raus und ähnliches, weil der Durchschnittsjournalist sonst nicht mehr durchblickt?! Was für ein Armutszeugnis!!!
AntwortenLöschen"...selbst endlich so spannend zu machen, dass die Medien von allein..."
AntwortenLöschen.
Wenn das weniger wischiwaschi - "spannend"! - formuliert wäre, würde ich den Artikel ernst nehmen.
- kdm
@kdm: Wenn Ihnen das Wort "spannend" nicht gefällt, kann ich auch nicht helfen. Ansonsten sind im mittleren Teil des Artikels drei spezifische Probleme beschrieben, die die öffentliche Auseinandersetzung zwischen den europäischen Parteien hemmen und damit auch den Nachrichtenwert der supranationalen Organe und ihrer Entscheidungen mindern. Und im vorletzten Absatz finden sich einige ebenfalls recht konkrete Vorschläge zu institutionellen Reformen, wie man diese Probleme überwinden könnte.
Löschen"muss das politische System ihm bestimmte Deutungsmuster anbieten."
AntwortenLöschenich bin journalist, selberdenken überfordert mich.
die berichterstattung über piratenpartei, wulff, die provinzposse um einen dorfbahnhof in deutsch-südwest oder jüngst limburg zeigen zu deutlich, dass ein jouranlistischer anspruch gar nicht mehr existiert, der eigenes denken und recherchieren erfordert.
"Was man für eine große Auflage braucht, ist vielmehr Dramatisierung und Personalisierung, klare Konfliktlinien, spektakuläre Abstimmungen und der ein oder andere machtpolitische Showdown."
ich halrte das schlicht für einen fehlschluss, mit dem sich bequem jeder aufwand vermeiden lässt, weil das blöde publikum das ja eh nicht will.
im gleichen atemzug wird sich dan beschwerrt, dass das blöde publikum den medien wenig bedeutung und noch weniger relevanz zumisst.
schuld ist jedenfall immer wer anderes, sei es die böse politik, die einfach nicht in esimplen, für journalisten verständlichen schemata funktioniert, oder das blöde publikum, das den leichtverdaulichen brei verschmäht, der ihm vorgesetzt wird ...
dass journalisten unfähig zur reflektion und selbstkritik sind, ist allgemeinplatz -- und bis jetzt hat mir noch keine jammernder und weltbeschimpfender journalist das gegenteil belegen können.
Ein interessanter Beitrag. Ich teile viele der Einschätzungen - die Architektur der EU-Institutionen führt in der Tat dazu, dass sie anders funktioniert als die nationalen Systeme obwohl die Institutionen ähnlich heißen (Parlament, Rat, etc.).
AntwortenLöschenAuf der anderen Seite ist der nationalstaatliche Rahmen glaube ich sehr wichtig als Referenzrahmen für die meisten Bürger. Deswegen sehe ich die Tatsache, dass Medien sich oft auf die nationalen Regierungen konzentrieren nicht unbedingt kritisch.
Und auch das ändert sich ja zunehmend: ein Berichterstatter im EU-Parlament kann heute, wenn er geschickt ist, sehr viel Medienaufmerksamkeit erzeugen. Und durch solche engagierten Abgeordneten (plus der Reform des EU-Wahlrechts) wird glaube ich auch die Akzeptanz der EU-Institutionen steigen.
Zusammen mit einem Kollegen habe ich dazu vor kurzem einen Artikel geschrieben, der dich vielleicht auch interessiert:
http://www.danielflorian.de/2013/10/24/eu-lobbying-bruessel-ist-nicht-berlin/