Und plötzlich ist die europäische
Integration doch im deutschen Bundestagswahlkampf angekommen. Nachdem
in den letzten Wochen diverse Medien beklagten, dass die Eurokrise,
die „heftigste
politische Eruption seit der Wiedervereinigung“, im Wahlkampf
als „Tabuthema“
behandelt werde, hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) am
vergangenen Dienstag endlich bequemt, auch mal etwas dazu zu sagen. In einem Fernsehinterview (ab Minute 43:00) sprach sie sich dafür
aus, die länderspezifischen Empfehlungen, die die Europäische
Kommission zur Wirtschaftspolitik abgibt, durch spezielle
Vereinbarungen zwischen der Kommission und den einzelnen
Mitgliedstaaten verpflichtend zu machen – eine Forderung, die übrigens auch im
CDU-Wahlprogramm zu finden ist.
Nun ließe sich sicher trefflich über die Frage streiten, wie sinnvoll und demokratisch es ist, die Zuständigkeiten von nationalen Parlamenten und Europäischer Kommission derartig zu vermischen, bis niemand mehr weiß, wer eigentlich für eine bestimmte Entscheidung verantwortlich ist. Für Aufsehen sorgte stattdessen allerdings ein anderer Kommentar der Kanzlerin, den sie eher beiläufig fallen ließ:
Nun ließe sich sicher trefflich über die Frage streiten, wie sinnvoll und demokratisch es ist, die Zuständigkeiten von nationalen Parlamenten und Europäischer Kommission derartig zu vermischen, bis niemand mehr weiß, wer eigentlich für eine bestimmte Entscheidung verantwortlich ist. Für Aufsehen sorgte stattdessen allerdings ein anderer Kommentar der Kanzlerin, den sie eher beiläufig fallen ließ:
So können wir überlegen: Brauchen wir noch mehr Kompetenzen für Europa? Wir können aber auch überlegen: Geben wir mal wieder was zurück? Die Niederländer diskutieren im Augenblick gerade darüber. Und diese Diskussion werden wir dann nach der Bundestagswahl auch führen.
Wie die Frankfurter Allgemeine
feststellte, war diese Ankündigung „nationale
Musik in britischen Ohren“. Denn natürlich ist es vor allem
die Londoner Regierung unter David Cameron (Cons./AECR), die seit
mehreren Monaten eine „Repatriierung“
der EU-Kompetenzen vorantreibt – und sich auch jetzt mehr als
irgendjemand sonst von
den Äußerungen Merkels bestätigt fühlte.
Eine nichtssagende Forderung
Was ich an dem Vorfall interessant
finde, ist erstens, mit welcher Gelassenheit Merkel ankündigt, man
werde die Diskussion über die zukünftige Kompetenzverteilung der EU
„nach der Bundestagswahl“ führen. Ist die Idee eines Wahlkampfs
nicht, dass die Parteien vorher
ankündigen, in welche Richtung ihre Politik gehen soll? Gerade wenn
es um Vertragsreformen geht, sind nach wie vor (leider) die
nationalen Parlamente und Regierungen die mächtigsten Akteure in der
EU. Es wird also nicht genügen, erst zur Europawahl 2014 konkrete
Vorschläge zu präsentieren – wenn wir Bürger darüber
entscheiden sollen, wie es mit Europa weitergeht, dann
brauchen wir diese Debatte jetzt sofort.
Zweitens finde ich es bemerkenswert, wie nichtssagend Merkels Forderung ist.
Offenbar würde sie gern bestimmte Kompetenzen der EU wieder an die
Nationalstaaten zurückgeben. Das ist im Zuge einer Vertragsreform
natürlich möglich und in Art. 48
Abs. 2 EU-Vertrag ausdrücklich vorgesehen. Aber an welche
Kompetenzen sie dabei denkt, und welchen Grund sie für eine solche
Rückübertragung sieht – dazu erfahren wir nichts. Und leider
haken in dem Interview auch die beiden Journalisten nicht nach.
Damit steht, das gleich vorweg,
die Kanzlerin nicht alleine da.
Auch die Programme der Oppositionsparteien unterstützen die Idee,
Politikfelder an die Mitgliedstaaten zurückzugeben, „wenn sich eine
europäische Zuständigkeit als nicht sinnvoll erwiesen hat“ (so
die SPD/SPE, fast wortgleich auch die Grünen/EGP).
Aber auch hier findet sich keinerlei Hinweis darauf, um welche
Kompetenzen es dabei gehen könnte. Und darüber sollen wir
Wahlbürger uns nun eine Meinung bilden?
David Camerons Repatriierungs-Irrfahrt
Blickt
man in die Nachbarländer, so wird man auch nicht viel schlauer.
Vorreiter in der Debatte über die Renationalisierung von
Zuständigkeiten ist natürlich Großbritannien, doch auch dort
entstand diese Idee nicht aus einer präzisen Analyse heraus, dass
bestimmte Politikfelder besser auf nationaler Ebene behandelt werden
könnten. Vielmehr will ein wachsender
Teil der britischen Politiker – nicht nur in der
rechtspopulistischen UKIP (EAF), sondern auch in der regierenden
Conservative Party (AECR) – schon seit Jahren am liebsten ganz aus
der EU austreten. Das aber wäre für das Land mit
großen wirtschaftlichen und politischen Nachteilen verbunden.
Der pragmatische Flügel der Konservativen hat daher lange nach einer
Formel gesucht, um die Europaskeptiker zufriedenzustellen, ohne
gleich einen Austritt zu riskieren – und fand sie schließlich in
der Forderung nach einer Repatriierung von Kompetenzen.
Um welche Kompetenzen es dabei geht, war auch David Cameron zunächst
offensichtlich weniger wichtig. Die erste Idee war offenbar, aus der
europäischen Innen- und Justizpolitik auszusteigen, da
Großbritannien für diesen Bereich ohnehin ein besonderes
Ausstiegsrecht („Opt-out“) im EU-Vertrag besitzt. Dann aber
mehrten sich die
Zweifel, ob sich das Land dadurch nicht vor allem selbst schaden
würde. Um sich ein wenig mehr Klarheit zu verschaffen, prüfen
britische Beamte seit Sommer 2012 für jedes Politikfeld, wie
groß die Kosten und Nutzen der britischen EU-Mitgliedschaft
eigentlich sind. Dieses Review war von Anfang an methodisch
umstritten, da sich Kosten und Nutzen oft nicht so einfach
beziffern lassen. Seine ersten Ergebnisse aber waren für die
Europaskeptiker überaus enttäuschend: In den meisten untersuchten
Bereichen entstehen
Großbritannien durch die EU große Vorteile; klare Kandidaten
für eine Repatriierung traten hingegen nicht zum Vorschein.
Die letzten Pläne Camerons scheinen nun darauf abzuzielen, Migranten aus anderen EU-Ländern den Zugang zum Sozialsystem zu erschweren. Aber auch wenn diese Idee bei der deutschen Bundesregierung durchaus auf Sympathie stoßen könnte: Eine klare Strategie, gar eine überzeugende Argumentation ist dahinter nicht zu erkennen.
Die letzten Pläne Camerons scheinen nun darauf abzuzielen, Migranten aus anderen EU-Ländern den Zugang zum Sozialsystem zu erschweren. Aber auch wenn diese Idee bei der deutschen Bundesregierung durchaus auf Sympathie stoßen könnte: Eine klare Strategie, gar eine überzeugende Argumentation ist dahinter nicht zu erkennen.
Triviales aus den Niederlanden
Aber Angela Merkel erwähnte in dem Interview ja gar nicht Großbritannien,
sondern die Niederlande. Auch dort herrscht seit einer Weile eine
zunehmend integrationsskeptische Stimmung, vor allem wegen der
Euro-Rettungspakete, die in Den Haag nicht beliebter sind als in
Berlin. Ende Juni veröffentlichte die Regierung unter Mark Rutte
(VVD/ALDE) deshalb ein Papier, in dem sie ankündigte, die
„Zeit einer ‚immer engeren Union‘ in allen möglichen
Politikfeldern“ müsse jetzt mal vorüber sein. Anders als
Cameron fordert die niederländische Regierung zwar keine
Vertragsreform zur Rückübertragung von Kompetenzen; ihr Memorandum
listet aber nicht weniger als 54 Einzelpunkte auf, bei denen ihr die
Integration zu weit zu gehen scheint (hier
ein Überblick).
Betrachtet man diese Punkte jedoch genauer, dann sind auch sie reichlich
unspektakulär. Erstens wenden sich viele von ihnen gar nicht gegen
Kompetenzen, die die EU bereits hat, sondern gegen solche, über die
derzeit erst noch diskutiert wird: Zum Beispiel sind die Niederlande
dagegen, ein gemeinsames
Budget für die Eurozone einzurichten, um damit asymmetrische
Konjunkturschocks aufzufangen (Punkt 11) – eine Forderung, die
etwas mehr ins Gewicht fiele, wenn die Regierung Rutte stattdessen
andere überzeugende Ideen zur dauerhaften Stabilisierung der
Währungsunion hätte.
Der größere Teil der Vorschläge des Memorandums betrifft, zweitens,
Bereiche, in denen die niederländische Regierung durchaus eine
europäische Regelung unterstützt und diese nur gerne etwas anders
ausgestalten möchte. So spricht sie sich dafür aus, die Gründung europäischer Parteien zu vereinfachen (Punkt 1)
oder die Vorschriften zur Verwendung von Biokraftstoffen zu überarbeiten
(Punkt 33). Das sind natürlich legitime Vorschläge, aber sie
beziehen sich nicht auf weniger, sondern nur auf eine andere europäische Gesetzgebung. Die Punkte, bei denen die Niederlande
Aktivitäten der EU tatsächlich komplett beenden wollen, sind
dagegen nur wenige – und oft von einer entlarvenden Trivialität.
Zum Beispiel soll die Anwendung der EU-Hochwasserrichtlinie
auf grenzüberschreitende Gewässer begrenzt werden (Punkt 32)
und das europäische Programm zur Subventionierung von gesundem
Schulessen auslaufen (Punkt 25). Ist das nun also die Art von
Kompetenzen, über deren Rückübertragung Angela Merkel nach der
Bundestagswahl so dringend sprechen möchte? Haben wir wirklich keine
wichtigeren Sorgen?
Subsidiarität
als Leitprinzip
Natürlich
sollte es in der Diskussion über die Kompetenzverteilung zwischen
der Europäischen Union und den einzelnen Mitgliedstaaten keine Tabus
geben. So wenig es hilft, wie das deutsche Bundesverfassungsgericht
bestimmte Politikbereiche für „integrationsfest“ zu erklären
und ihre Übertragung an die EU (scheinbar) für alle Zeiten
auszuschließen, so sinnlos wäre es auch, wenn man eine mögliche
Renationalisierung von Zuständigkeiten von vorneherein ablehnen
würde. In jedem Fall aber ist die Zuordnung von Kompetenzen zur
einen oder anderen Ebene etwas, was man nicht aus einer bloßen
politischen Laune heraus tun sollte, sondern wofür man eine klare Begründung braucht.
Ein allgemein anerkannter Maßstab für diese Begründung ist das
Subsidiaritätsprinzip. Dieses besagt, dass Kompetenzen immer auf der
niedrigsten Ebene angesiedelt werden sollten, auf der sie sinnvoll
ausgeübt werden können. Ob in Eistadt an der Dotter eine neue
Fußgängerzone eingerichtet wird, geht nur die dort lebenden Bürger
etwas an; es besteht kein Anlass, dass sich eine höhere Ebene als
der lokale Stadtrat damit befasst. Sobald die untere Ebene einer
Aufgabe aber nicht mehr sinnvoll gerecht werden kann, ist es
angebracht, die Kompetenz an die höhere Ebene zu übertragen. Das
ist zum Beispiel der Fall, wenn die einzelnen Einheiten damit
überfordert wären, eine bestimmte Leistung zu bringen, oder wenn
die Entscheidungen einer Einheit relevante externe Effekte für ihre
Nachbarn haben können.
Zunehmende
Verflechtung schafft zunehmenden Regelungsbedarf
Nun ließe sich einwenden, dass in der Geschichte der europäischen
Integration immer wieder Kompetenzen auf die höhere Ebene übertragen
wurden, während es kaum je zu der entgegengesetzten Entwicklung kam.
Ist das nicht für sich allein schon ein Zeichen, das hier
irgendetwas faul ist?
Ich denke, dass dieses Argument nicht nur unter Europaskeptikern recht verbreitet
ist, und halte es dennoch für falsch. Was wir in den letzten
Jahrzehnten erlebt haben, war eine gewaltige Öffnung der
europäischen Gesellschaften. Die wirtschaftliche und soziale
Verflechtung zwischen den europäischen Ländern – sei es durch Handel, Migration, Tourismus oder binationale Ehen – hat seit
dem zweiten Weltkrieg stetig zugenommen. Und mit der Verflechtung
steigt natürlich auch der Bedarf an gemeinsamen Regeln, da
einseitige Beschlüsse eines Landes immer häufiger auch gravierende
Auswirkungen auf die Bürger in anderen Ländern haben können.
Der Trend zu einer „immer engeren Union“, wie er in der Präambel
des EU-Vertrags festgeschrieben ist, ist also sehr wohl mit dem
Subsidiaritätsprinzip vereinbar. Dort, wo die nationalen Parlamente
unter dem Druck äußerer „Sachzwänge“ (das heißt vor allem:
unter dem Druck der Entscheidungen anderer nationaler Parlamente)
ihre Handlungsfähigkeit ohnehin verloren haben, ist es auch
demokratisch geboten, stattdessen die supranationalen Institutionen
mit der Gesetzgebung zu beauftragen. Und diese Bereiche werden immer
mehr, weil wir Bürger immer mobiler sind und uns in unserer
Lebensgestaltung immer weniger allein auf unser Herkunftsland
beschränken wollen.
Nun mag es natürlich sein, dass dabei auch einmal über das Ziel
hinausgeschossen wird: dass der EU Zuständigkeiten übertragen
wurden, die sie tatsächlich nicht braucht, weil es in dem betreffenden Bereich
keine nennenswerten grenzüberschreitenden Verflechtungen gibt. Wer
meint, einen solchen Fall erkannt zu haben, der möge das sagen,
damit wir darüber eine offene Diskussion führen können. Aber
pauschal eine Renationalisierung von Kompetenzen zu
fordern, ohne zu erklären, welche und weshalb – das ist, zumal im
Wahlkampf, eine lächerliche Bauernfängerei.
Bild: Number 10, The Prime Minister's Office [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
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