29 Juli 2013

Die Bundestagswahl und Europa (1): Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen

Die nationalen Parlamente tragen aktiv zur guten Arbeitsweise der Union bei […].

Ganz so einfach, wie die Inschrift vermuten lässt, ist die Sache nicht: Bei der Bundestagswahl geht es auch um die Zukunft Europas.
In der Frage, wie dem Demokratiedefizit der Europäischen Union am besten abzuhelfen ist, gibt es im Wesentlichen zwei Positionen: Auf der einen Seite stehen die supranationalen Föderalisten, die in erster Linie auf das Europäische Parlament und die Europawahl setzen, Vetorechte der Mitgliedstaaten reduzieren wollen und allgemein eine klarere Aufgabentrennung zwischen der europäischen und der nationalen Ebene anstreben. Den entgegengesetzten Standpunkt vertreten die Intergouvernementalisten. Sie verstehen die Europäische Union weniger als eine eigenständige überstaatliche Ebene, sondern eher als eine Art multilaterales Forum, in dem die Mitgliedstaaten zu einem Meinungsaustausch und Interessenausgleich und schließlich zu gemeinsamen Entscheidungen kommen.

Demokratische Legitimität erwarten sich die Intergouvernementalisten deshalb auch nicht vom Europäischen Parlament (an dessen Wahl sich ein Großteil der Bevölkerung ohnehin nicht beteiligt), sondern vielmehr von den nationalen Parlamenten. Denn schließlich ist an fast allen europäischen Beschlüssen der Ministerrat beteiligt, der sich aus Vertretern der nationalen Regierungen zusammensetzt – und diese Regierungen sind ihren nationalen Parlamenten gegenüber verantwortlich, die ihrerseits direkt von der Bevölkerung gewählt sind. Auf diese Weise lässt sich eine Kette konstruieren, bei der die nationalen Wahlen zugleich auch zur demokratischen Legitimation der Europäischen Union dienen. Indem die Menschen in den Mitgliedstaaten ihr jeweiliges nationales Parlament wählen, geben sie zugleich auch ihr Votum über die Ausrichtung der gesamteuropäischen Politik ab.

Schwächen des europäischen National-Parlamentarismus

Mir persönlich kam dieses intergouvernementalistische Argument (das von Giandomenico Majone bis Richard Bellamy einige prominente Vertreter hat) nie besonders überzeugend vor, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens ist dem Versuch, europäische Politik über die nationalen Parlamente zu legitimieren, immer eine Veto-Logik inhärent, die die EU als Ganzes schwerfällig und oft entscheidungsunfähig macht. Zweitens sind 28 nationale Demokratien nicht dasselbe wie eine europäische: Dass der Parlamentarismus so gut politische Legitimität erzeugen kann, liegt nicht zuletzt daran, dass die Bürger bei den Wahlen einer Partei oder Koalition eine Mehrheit erteilen können, damit diese anschließend ihr Programm umsetzt. Auf europäischer Ebene jedoch funktioniert dieser Mechanismus nicht: Denn auch wenn jede Regierung von ihrem nationalen Parlament kontrolliert wird, ist für die Entscheidungen des Ministerrats vor allem das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten entscheidend, auf das die Bürger kaum einen Einfluss haben. Vor allem in der Eurokrise hat der Einfluss des Rates und das Machtungleichgewicht zwischen den Mitgliedstaaten so weit zugenommen, dass für die Bürger vieler südeuropäischer Länder die Wahl zum Deutschen Bundestag wichtiger ist als die zu ihrem eigenen Parlament. Nur dass sie bei der Bundestagswahl eben nicht teilnehmen dürfen.

Die dritte Schwäche des europäischen Nationalparlamentarismus aber besteht darin, dass europäische Themen bei nationalen Wahlen in aller Regel schlicht keine Rolle spielen. So funktioniert etwa das Ernennungsverfahren für die Europäische Kommission (mit Ausnahme des Kommissionspräsidenten) derzeit im Wesentlichen so, dass jede nationale Regierung einen Kommissar vorschlägt, der dann von allen übrigen Beteiligten abgenickt wird. Es ist daher nicht ganz abwegig zu behaupten, dass die demokratische Legitimität des nächsten deutschen Kommissionsmitglieds in erster Linie auf dem Ergebnis der Bundestagswahl im nächsten September beruhen wird. Aber spielt das im Wahlkampf irgendeine Rolle? Gewiss, wer aufgepasst hat, der weiß, dass die SPD (SPE) gern Martin Schulz in der nächsten Kommission sehen will. Aber die CDU (EVP)? Noch einmal Günther Oettinger? Über die Frage wird noch nicht einmal diskutiert.

Europäische Pläne der nationalen Parteien

Dabei ist es durchaus nicht so, dass die deutschen Parteien selbst sich der europäischen Bedeutung der Bundestagswahl nicht bewusst wären. Liest man ihre Wahlprogramme – das der CDU/CSU (EVP), der SPD (SPE), der FDP (ALDE), der Grünen (EGP) und der Linken (EL) –, dann findet man nicht nur in jedem einen Abschnitt zur Europapolitik (der mal mehr, mal weniger ausführlich ausfällt). Auch in den anderen thematischen Abschnitten wimmelt es geradezu von europäischen Bezügen. Ob in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, bei Energiewende und Klimaschutz, in der Landwirtschaft, dem Verbraucherschutz oder der Außen- und Verteidigungspolitik: Immer wieder kündigen die Parteien an, dass sie diese oder jene Maßnahme nicht allein auf nationaler Ebene einführen, sondern sich für einen entsprechenden Beschluss im EU-Rahmen einsetzen wollen.

In der Öffentlichkeit aber spielt diese europäische Agenda der deutschen Parteien kaum eine Rolle. Das ist zum einen wenig verwunderlich, denn die Ankündigung, eine Partei werde nach ihrem Wahlsieg auf nationaler Ebene dies und jenes tun, ist für die Medien natürlich ungleich spannender als die, eine Partei werde auf europäischer Ebene dies und jenes anstreben, in der ungewissen Hoffnung, dafür auch unter den anderen Regierungen im Ministerrat eine Mehrheit zu gewinnen. Zum anderen ist es aber auch sehr zu bedauern. Denn noch funktioniert die EU ja tatsächlich in vielen Bereichen vor allem wie ein intergouvernementaler Verbund und ist daher zu ihrer Legitimation auf die nationalen Parlamentswahlen angewiesen. Nicht zuletzt wegen der Eurokrise haben wir in den nächsten Jahren einige große Veränderungen in der europäischen Politik zu erwarten, die vor allem von den nationalen Regierungen und Parlamenten beschlossen werden müssen. Wenn wir als Wahlbürger eine demokratische Debatte darüber führen wollen, dann wäre jetzt also die beste Gelegenheit dafür.

In den nächsten Wochen soll es deshalb in diesem Blog eine Serie über die europäischen Pläne in den Wahlprogrammen der fünf großen deutschen Parteien geben. Dabei wird mehreren großen Themenbereichen in loser Folge jeweils ein Artikel gewidmet sein. Ziel soll es sein, vor allem jene Vorschläge zu vergleichen, mit denen die Parteien ausdrücklich nicht nur nationales, sondern auch gesamteuropäisches Recht setzen wollen. Denn am 22. September werden die Deutschen eben nicht nur die Abgeordneten ihres nationalen Parlaments wählen – sondern indirekt auch ihre Vertreter in allen intergouvernementalen Organen der Europäischen Union.

Die Bundestagswahl und Europa – Überblick:

1: Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen
2: Haushaltskontrolle, Steuerharmonisierung, Kampf gegen Steuerflucht
3: Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, Staateninsolvenz
4: Wachstum, Beschäftigung, Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte
5: Soziale Mindeststandards, Mitbestimmung, öffentliche Daseinsvorsorge
6: Finanzmarktregulierung, Ratingagenturen, Bankenunion
7: Klimaziele, Emissionshandel, Energiewende
8: Agrarpolitik, Lebensmittelsicherheit, Umwelt
9: Netzpolitik, Datenschutz, Urheberrecht
10: Gemeinsame Außenpolitik, Rüstungskoordinierung, EU-Armee
11: Entwicklungspolitik, Transatlantische Freihandelszone, Beziehungen zu anderen Staaten
12: Migration, Schengen-Raum, Asylpolitik
13: EU-Konvent, Demokratie, Erweiterung

Bild: By RudolfSimon (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.

1 Kommentar:

  1. (..) Eine ganze Artikelreihe hat Manuel Müller von der JEF auf seinem Blog dem Thema gewidmet: "Die Bundestagswahl und Europa". (..)

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