- Ganz so einfach, wie die Inschrift vermuten lässt, ist die Sache nicht: Bei der Bundestagswahl geht es auch um die Zukunft Europas.
In der Frage, wie dem
Demokratiedefizit der Europäischen Union am besten abzuhelfen ist,
gibt es im Wesentlichen zwei Positionen: Auf der einen Seite stehen
die supranationalen Föderalisten, die in erster Linie auf das
Europäische Parlament und die Europawahl setzen, Vetorechte der Mitgliedstaaten
reduzieren wollen und allgemein eine klarere Aufgabentrennung zwischen
der europäischen und der nationalen Ebene anstreben. Den
entgegengesetzten Standpunkt vertreten die Intergouvernementalisten.
Sie verstehen die Europäische Union weniger als eine eigenständige
überstaatliche Ebene, sondern eher als eine Art multilaterales
Forum, in dem die Mitgliedstaaten zu einem Meinungsaustausch und
Interessenausgleich und schließlich zu gemeinsamen Entscheidungen
kommen.
Demokratische Legitimität
erwarten sich die Intergouvernementalisten deshalb auch nicht vom
Europäischen Parlament (an dessen Wahl sich ein Großteil der
Bevölkerung ohnehin nicht beteiligt), sondern vielmehr von den
nationalen Parlamenten. Denn schließlich ist an fast allen
europäischen Beschlüssen der Ministerrat beteiligt, der sich aus
Vertretern der nationalen Regierungen zusammensetzt – und diese
Regierungen sind ihren nationalen Parlamenten gegenüber
verantwortlich, die ihrerseits direkt von der Bevölkerung gewählt
sind. Auf diese Weise lässt sich eine Kette konstruieren, bei der
die nationalen Wahlen zugleich auch zur demokratischen Legitimation
der Europäischen Union dienen. Indem die Menschen in den
Mitgliedstaaten ihr jeweiliges nationales Parlament wählen, geben
sie zugleich auch ihr Votum über die Ausrichtung der
gesamteuropäischen Politik ab.
Schwächen des europäischen
National-Parlamentarismus
Mir persönlich kam dieses
intergouvernementalistische Argument (das von Giandomenico
Majone bis Richard
Bellamy einige prominente Vertreter hat) nie besonders
überzeugend vor, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens ist dem
Versuch, europäische Politik über die nationalen Parlamente zu
legitimieren, immer eine Veto-Logik
inhärent, die die EU als Ganzes schwerfällig und oft
entscheidungsunfähig macht. Zweitens sind 28 nationale Demokratien
nicht dasselbe wie eine europäische: Dass der Parlamentarismus so
gut politische Legitimität erzeugen kann, liegt nicht zuletzt daran,
dass die Bürger bei den Wahlen
einer Partei oder Koalition eine Mehrheit erteilen können, damit
diese anschließend ihr Programm umsetzt. Auf europäischer Ebene
jedoch funktioniert dieser Mechanismus nicht: Denn
auch wenn jede Regierung von ihrem nationalen Parlament kontrolliert
wird, ist für die Entscheidungen des Ministerrats vor allem das
Kräfteverhältnis zwischen
den
einzelnen Mitgliedstaaten entscheidend, auf das die Bürger kaum
einen Einfluss haben.
Vor allem in der Eurokrise hat der Einfluss des Rates und das
Machtungleichgewicht zwischen den Mitgliedstaaten so weit zugenommen,
dass für die Bürger vieler südeuropäischer Länder die Wahl zum
Deutschen Bundestag wichtiger ist als die
zu ihrem eigenen Parlament. Nur dass sie bei der Bundestagswahl
eben nicht teilnehmen dürfen.
Die
dritte Schwäche des europäischen Nationalparlamentarismus aber
besteht darin, dass europäische Themen bei nationalen Wahlen in
aller Regel schlicht keine Rolle spielen. So funktioniert etwa das
Ernennungsverfahren
für die Europäische Kommission (mit Ausnahme des
Kommissionspräsidenten)
derzeit im Wesentlichen so, dass jede nationale Regierung einen
Kommissar vorschlägt, der dann von allen übrigen Beteiligten
abgenickt wird. Es ist daher nicht ganz abwegig zu behaupten, dass
die demokratische Legitimität des nächsten deutschen
Kommissionsmitglieds in erster Linie auf dem Ergebnis der
Bundestagswahl im nächsten September beruhen wird. Aber spielt das
im Wahlkampf irgendeine Rolle? Gewiss, wer aufgepasst hat, der weiß,
dass die SPD (SPE) gern Martin
Schulz in der nächsten Kommission sehen will. Aber die CDU
(EVP)? Noch einmal Günther Oettinger? Über die Frage wird noch
nicht einmal diskutiert.
Europäische Pläne der nationalen Parteien
Dabei
ist es durchaus nicht so, dass die deutschen Parteien selbst sich der
europäischen Bedeutung der Bundestagswahl nicht bewusst wären.
Liest man ihre Wahlprogramme – das der CDU/CSU
(EVP), der SPD
(SPE), der FDP
(ALDE), der Grünen
(EGP) und der Linken
(EL) –, dann findet man nicht nur in jedem einen Abschnitt zur
Europapolitik (der mal mehr, mal weniger ausführlich ausfällt).
Auch in den anderen thematischen Abschnitten wimmelt es geradezu von
europäischen Bezügen. Ob in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, bei
Energiewende und Klimaschutz, in der Landwirtschaft, dem
Verbraucherschutz oder der Außen- und Verteidigungspolitik: Immer
wieder kündigen die Parteien an, dass sie diese oder jene Maßnahme
nicht allein auf nationaler Ebene einführen, sondern sich für einen
entsprechenden Beschluss im EU-Rahmen einsetzen wollen.
In
der Öffentlichkeit aber spielt diese europäische Agenda der
deutschen Parteien kaum eine Rolle. Das ist zum einen wenig
verwunderlich, denn die Ankündigung, eine Partei werde nach ihrem
Wahlsieg auf nationaler Ebene dies und jenes tun,
ist für die Medien natürlich ungleich spannender als die, eine
Partei werde auf europäischer Ebene dies und jenes anstreben,
in der ungewissen Hoffnung, dafür auch unter den anderen Regierungen
im Ministerrat eine Mehrheit zu gewinnen. Zum anderen ist es
aber auch sehr zu bedauern. Denn noch funktioniert die EU ja tatsächlich
in vielen Bereichen vor allem wie ein intergouvernementaler Verbund und ist daher zu ihrer Legitimation auf die nationalen
Parlamentswahlen angewiesen. Nicht zuletzt wegen der Eurokrise haben
wir in den nächsten Jahren einige große
Veränderungen in der europäischen Politik zu erwarten, die vor
allem von den nationalen Regierungen und Parlamenten beschlossen
werden müssen. Wenn wir als Wahlbürger eine demokratische Debatte
darüber führen wollen, dann wäre jetzt also die beste Gelegenheit
dafür.
In
den nächsten Wochen soll es deshalb in diesem Blog eine Serie über
die europäischen Pläne in den Wahlprogrammen der fünf großen
deutschen Parteien geben. Dabei wird mehreren großen Themenbereichen
in loser Folge jeweils ein Artikel gewidmet sein. Ziel soll es sein,
vor allem jene Vorschläge zu vergleichen, mit denen die Parteien
ausdrücklich nicht nur nationales, sondern auch gesamteuropäisches
Recht setzen wollen. Denn
am 22. September werden die Deutschen eben nicht nur die
Abgeordneten ihres nationalen Parlaments wählen – sondern indirekt
auch ihre Vertreter in allen intergouvernementalen Organen der
Europäischen Union.
Die Bundestagswahl und Europa – Überblick:
1: Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen
2: Haushaltskontrolle, Steuerharmonisierung, Kampf gegen Steuerflucht
3: Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, Staateninsolvenz
4: Wachstum, Beschäftigung, Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte
5: Soziale Mindeststandards, Mitbestimmung, öffentliche Daseinsvorsorge
6: Finanzmarktregulierung, Ratingagenturen, Bankenunion
7: Klimaziele, Emissionshandel, Energiewende
8: Agrarpolitik, Lebensmittelsicherheit, Umwelt
9: Netzpolitik, Datenschutz, Urheberrecht
10: Gemeinsame Außenpolitik, Rüstungskoordinierung, EU-Armee
11: Entwicklungspolitik, Transatlantische Freihandelszone, Beziehungen zu anderen Staaten
12: Migration, Schengen-Raum, Asylpolitik
13: EU-Konvent, Demokratie, Erweiterung
1: Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen
2: Haushaltskontrolle, Steuerharmonisierung, Kampf gegen Steuerflucht
3: Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, Staateninsolvenz
4: Wachstum, Beschäftigung, Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte
5: Soziale Mindeststandards, Mitbestimmung, öffentliche Daseinsvorsorge
6: Finanzmarktregulierung, Ratingagenturen, Bankenunion
7: Klimaziele, Emissionshandel, Energiewende
8: Agrarpolitik, Lebensmittelsicherheit, Umwelt
9: Netzpolitik, Datenschutz, Urheberrecht
10: Gemeinsame Außenpolitik, Rüstungskoordinierung, EU-Armee
11: Entwicklungspolitik, Transatlantische Freihandelszone, Beziehungen zu anderen Staaten
12: Migration, Schengen-Raum, Asylpolitik
13: EU-Konvent, Demokratie, Erweiterung
Bild: By RudolfSimon (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.
(..) Eine ganze Artikelreihe hat Manuel Müller von der JEF auf seinem Blog dem Thema gewidmet: "Die Bundestagswahl und Europa". (..)
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