27 April 2013

Unionsbürgerschaft und nationale Parlamentswahlen: Für ein allgemeines Wahlrecht am Wohnort

Warum darf ein zuagʼroaster Saupreiß eigentlich in Bayern wählen und ein anständiger Österreicher nicht?
Der Sinn der Demokratie ist, auf den einfachsten Nenner gebracht, die kollektive Selbstbestimmung. Zum einen sollen Menschen möglichst frei über alle Bereiche ihres Lebens entscheiden, zum anderen müssen wir aber für unser Zusammenleben gemeinsame Regeln finden. In einem parlamentarischen System erfolgt dies dadurch, dass wir nach bestimmten Verfahren eine Volksvertretung wählen, die diese gemeinsamen Regeln bestimmt. Das Ziel ist dabei, dass möglichst genau diejenigen Menschen, die von einer solchen kollektiven Entscheidung betroffen sind, auch daran teilhaben können: Weder sollen Menschen Gesetzen unterworfen sein, auf die sie selbst keinen Einfluss haben, noch sollen sie durch ihr Wahlrecht auf Gesetze einwirken, die sie selbst gar nicht betreffen.

In der Praxis ist dieses Ideal natürlich nicht perfekt umsetzbar, insbesondere weil Menschen in unterschiedlichem Ausmaß von einer Entscheidung betroffen sein können, sodass sich keine klaren Grenzen ziehen lassen, wer daran beteiligt sein sollte und wer nicht. Dennoch haben wir im Lauf der Zeit einige Grundsätze erfunden, die uns dem Ziel annähern sollen. Insbesondere gehen wir davon aus, dass Menschen, die näher beieinander wohnen, auch mehr gemeinsame Angelegenheiten zu regeln haben. In einem föderalen System haben wir deshalb Volksvertretungen auf mehreren Ebenen, die jeweils genau die Entscheidungen fällen sollen, die alle Bürger ihres Territoriums (kommunal, regional, national, kontinental) betreffen. Die Bürger wiederum haben zu jeder dieser Volksvertretungen ein eigenes Wahlrecht – und zwar logischerweise jeweils an ihrem Wohnort, da sie schließlich auch dort den Gesetzen unterworfen sind. Wer in Weimar lebt, darf also den Weimarer Stadtrat, den thüringischen Landtag, den Deutschen Bundestag und das Europäische Parlament wählen, nicht aber, sagen wir, den Stadtrat von Hannover oder die italienische Abgeordnetenkammer. Oder?

Ein Italiener in Weimar

Leider nicht ganz. Tatsächlich gibt jemand, der aus Hannover stammt und nach Weimar zieht, sein hannoversches und sein niedersächsisches Wahlrecht her und wird stattdessen wie alle anderen Weimarer auch behandelt (jedenfalls nach einer Übergangsfrist von einigen Monaten, die in erster Linie verhindern soll, dass Wähler vor einer knappen Landtagswahl schnell noch ihren Wohnort wechseln – wie realistisch auch immer das ist). Anderes hingegen gilt für jemanden, der in Italien geboren ist und nur die italienische Staatsbürgerschaft besitzt. Auf kommunaler Ebene wählt er zwar ebenfalls den Weimarer Stadtrat mit, bei den thüringischen Landtagswahlen hat er hingegen kein Stimmrecht. Auf nationaler Ebene kann er sich an der Wahl zum italienischen Parlament beteiligen (wo es einen eigenen Wahlkreis für die italiani allʼestero, die Auslandsitaliener, gibt). Und bei der Europawahl kann er sich entscheiden, ob er lieber am Wohnort oder im Herkunftsland wählen will – also ob die Europäische Volkspartei auf seinem Wahlzettel als CDU oder als PdL erscheinen soll.

Das alles ist so offensichtlich unlogisch, dass man es nur durch die historische Entwicklung erklären kann. Tatsächlich konkurrieren bei der Frage, wer wo das Wahlrecht besitzen soll, zwei verschiedene Ansatzpunkte: Einerseits das oben beschriebene Wohnortprinzip, nach dem Menschen jeweils die Parlamente wählen sollen, in deren Territorium sie leben und von deren Entscheidungen sie deshalb am meisten betroffen sind – andererseits das Nationalitätsprinzip, demzufolge die Staatsbürgerschaft über das Wahlrecht entscheidet. Während innerhalb der Nationalstaaten praktisch überall das Wohnortprinzip verwirklicht wurde, ist zwischen ihnen weitgehend das Nationalitätsprinzip in Kraft.

Wohnort- und Nationalitätsprinzip

Erklärbar ist dies nur aus dem völkischen Denken des 19. Jahrhunderts heraus: aus der Überhöhung der souveränen Nation, deren Angehörige eine organische Einheit seien, egal, wo und in welchen Umständen sie lebten. Zuständig für einen Italiener in Weimar ist deshalb der italienische Staat, der sich mit diplomatischen Mitteln um die Interessen seiner Bürger im Ausland kümmern soll. Der deutsche Bundestag hingegen ist nach dieser Vorstellung nicht das demokratisch gewählte Parlament von Deutschland, sondern der Deutschen – auch wenn die von ihm erlassenen Gesetze für alle Menschen in Deutschland verpflichtend sind.

Natürlich nimmt diese Vorstellung eines einheitlichen nationalen Volkskörpers inzwischen außer auf der extremen Rechten niemand mehr ernst. Insbesondere die EU verdeutlichte mit dem 1992 durch den Vertrag von Maastricht eingeführten Konzept der „Unionsbürgerschaft“, dass Bürgerrechte nicht an nationale Staatsangehörigkeiten gebunden sein müssen. Seitdem kann jeder Bürger eines EU-Mitgliedstaats, der in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebt, an seinem Wohnort an Kommunalwahlen teilnehmen – wie eben unser Italiener an der Wahl zum Weimarer Stadtrat.

Eine Reihe von Vorteilen

Für regionale und nationale Wahlen jedoch gibt es bislang keine derartige Regel. Anders als etwa Uruguay oder Neuseeland, die schon seit mehreren Jahrzehnten ein umfassendes Wohnort-Wahlrecht auf nationaler Ebene eingeführt haben, sind die Verfassungen der meisten europäischen Staaten bis heute auf das Nationalitätsprinzip fixiert. Lediglich Portugal und Großbritannien gestehen den dauerhaft ansässigen Staatsangehörigen einiger ihrer ehemaligen Kolonien die Teilnahme an nationalen Wahlen zu; britische Staatsbürger haben zudem ein Wahlrecht bei den irischen Parlamentswahlen. In Deutschland hingegen werden im kommenden Herbst über 2,5 Millionen dauerhaft ansässige Unionsbürger (sowie rund 4,5 Millionen Bürger anderer Staaten) von der Bundestagswahl ausgeschlossen bleiben. Mehr noch: Da zahlreiche Länder, etwa Großbritannien oder Griechenland, ihren dauerhaft im Ausland lebenden Staatsangehörigen das Wahlrecht entziehen, können etliche europäische Bürger überhaupt kein nationales oder regionales Parlament wählen.

Ein allgemeines Wahlrecht am Wohnort würde nicht nur diese logischen Brüche des heutigen Systems überwinden, sondern auch eine Reihe anderer Vorteile mit sich bringen. Insbesondere würde es dazu beitragen, den politischen Diskurs zu verändern. Während heute noch geschlossene ethnisch-nationale Identitäten das politische Selbstverständnis vieler Menschen dominieren, würde die Koppelung des Wahlrechts an den Wohnort die Rolle des einzelnen Bürgers herausstellen, der mit seiner politischen Aktivität das gesellschaftliche Zusammenleben auf allen Ebenen gleichermaßen mitgestaltet – eben jene Konzeption von Demokratie als kollektiver Selbstbestimmung, die ich eingangs skizziert habe. Zudem würde ein allgemeines Wahlrecht am Wohnort ein neues Wählerpotenzial schaffen und damit auch ganz konkret das Wahlkalkül der Politiker beeinflussen: Beispielsweise würden die nationalen Parteien ihre Zugehörigkeit zu europaweiten Parteienbündnissen in der öffentlichen Debatte sicher deutlich stärker hervorheben, wenn sie ein Interesse daran hätten, auch die neu hinzugezogenen Bürger aus anderen Mitgliedstaaten anzusprechen.

Die Einwände, die gegen ein Wahlrecht am Wohnort sprechen, sind hingegen recht überschaubar und eher praktischer Natur. So sollte es Regeln geben, um zu verhindern, dass ein Bürger gleich in mehreren Staaten sein Wahlrecht ausübt, nämlich sowohl in seinem Herkunftsland als auch im Land seines Wohnsitzes. Lösbar wäre dies, indem entweder alle EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich ihren in anderen EU-Ländern lebenden Staatsangehörigen das Wahlrecht entziehen (so wie auch der Hannoveraner beim Umzug nach Thüringen sein niedersächsisches Wahlrecht verliert) oder indem man es jeweils der Entscheidung des Bürgers überlässt, in welchem der beiden Länder er sich in das Wählerregister eintragen lässt (was etwa der heutigen Praxis bei der Europawahl entspräche). Und natürlich wären Übergangsfristen von ein oder zwei Jahren nach dem Wohnsitzwechsel denkbar, um tatsächlich nur solchen Menschen das Wahlrecht zu geben, die dauerhaft an einem anderen Ort leben. Letztlich sind dies jedoch nur technische Fragen, die sich einfach werden lösen lassen, wenn erst einmal der politische Wille zu einem allgemeinen Wohnort-Wahlrecht vorhanden ist.

Let me vote

Die interessantere Frage ist deshalb, wie es gelingen kann, diesen politischen Willen zu mobilisieren. Den Versuch dazu macht eine Europäische Bürgerinitiative mit dem Namen Let me vote, die seit einigen Wochen um Unterstützungsunterschriften wirbt. Der offiziellen Homepage zufolge ist es Ziel der Initiative, die
Rechte des Unionsbürgers [zu] ergänzen durch ein Recht zur Teilnahme an jeder politischen Wahl in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, zu denselben Bedingungen wie die Angehörigen dieses Mitgliedstaats.
Der Weg dorthin ist freilich lang und steinig. Da die EU keine direkten Kompetenzen in Fragen der nationalen Staatsangehörigkeit und des nationalen Wahlrechts besitzt, wählten die Initiatoren der Bürgerinitiative Artikel 25 AEU-Vertrag als Ansatzpunkt. Dieser sieht vor, dass die Europäische Kommission alle drei Jahre einen Bericht zu Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft verfasst, in dem sie auch Vorschläge zur Weiterentwicklung dieser Themenbereiche machen kann. Auf Grundlage dieses Berichts kann der Ministerrat dann mit Unterstützung des Europäischen Parlaments einstimmige Beschlüsse fassen, die „nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften“ (d.h. in der Regel eine Ratifikation durch die nationalen Parlamente) in Kraft treten.

Auf die politische Agenda bringen

Das Verfahren ist mithin kaum weniger kompliziert als eine Änderung der europäischen Verträge selbst – mehr noch: Da die Grundzüge des Wahlrechts in vielen Mitgliedstaaten Verfassungsrang besitzen, wären dort jeweils verfassungsändernde Mehrheiten notwendig. Einen Eindruck über die rechtlichen Schwierigkeiten in Deutschland bietet zum Beispiel ein entsprechender Ausschussbericht der Bremer Bürgerschaft. Immerhin aber zeigt der Bremer Fall auch, dass diese Schwierigkeiten letztlich überwindbar sind: Ende Januar war die Bürgerschaft der erste deutsche Landtag, der eine Ausweitung des Regionalwahlrechts auf alle Unionsbürger beschloss.

Wenn beim Wahlrecht künftig nicht mehr die Nationalität, sondern der Wohnort im Mittelpunkt steht, kann das sowohl für die Idee der überstaatlichen europäischen Bürgerschaft als auch für die demokratische Qualität der nationalen und regionalen Parlamentswahlen nur von Vorteil sein – und die Europäische Bürgerinitiative ist die beste Möglichkeit, dieses Thema europaweit auf die politische Agenda zu bringen. Auch die Europa-Union Deutschland hat die Forderung deshalb mit erfreulich klaren Worten unterstützt. Bis zum 28. Januar 2014 hat Let me vote nun Zeit, um die nötige Million Unterschriften zu sammeln. Wer also Lust hat, ein Zeichen zu setzen: Hier kann man online seine Unterstützung erklären.

Bilder: By photographe inconnu décédé depuis plus de 70 ans [Public domain], via Wikimedia Commons.

7 Kommentare:

  1. Eine ganz fundamentale Figur des Staatsrechts ist das "Staatsvolk". Ich verstehe nicht, was das bringen soll solche elementaren Konzepte zu schleifen und polemisch dagegen auszuholen, was in Deutschland ein verfassungswidriges Anliegen ist. Ich verstehe nicht, warum die EU Kommission eine solche Petition überhaupt angenommen hat, wo jedem Staatsrechtler klar sein muss, das es nicht geht.

    Es kann wirklich jeder, der das will, eine andere Staatsbürgerschaft annehmen,.. wenn er das will. Ich verstehe nicht, warum die Demontage nationaler Staatlichkeit ein Beitrag für das europäische Projekt sein sol?. Welche echten Probleme sollen dadurch gelöst werden?

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    1. Auch Staatsrecht muss mit der Zeit gehen und sollte von Zeit zu Zeit kritisch hinterfragt und reformiert werden. Ist die Idee des Staatsvolk wirklich noch zeitgemäß in ihrer jetzigen Definition? Ist es nicht ebenso an der Zeit unser in die Jahre gekommenes Modell des Nationalstaats zu hinterfragen?

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    2. Demokratietheoretisch ist sie "elementar".

      Man kann natürlich wie die EU eine Beamtenaschaft haben, die sich den Stakeholdern, d.h. den organisierten Interessen multinationaler Konzerne, statt dem Volk verpflichtet fühlt. Wenn man ein Konzept angreift, dann ist immer die Frage, warum und was das konkret bringen soll. In dem dargestellten Fall müssten man sich bekennend gegen das GG und die GG-Interpretation des BVerfG stellen, also die FDGO als "veraltet" verwerfen.

      Ich finde den Nationalstaat ok. Europa sehe ich als Nationalstaat plus X. Ich verstehe die ressentiments gegen den Nationalstaat einfach nicht. gerade in Zeiten der Postglobalisierunng werdenn Staaten als Ordnungsfiguren immer wichtiger. Eine EU-Staatlichkeit murr nicht auf Kosten nationaler Staaten gedacht werden.

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  2. @Bertram: Die Argumente stehen doch im Text... was ist daran so schwer zu verstehen? Und selbst wenn ein allgemeines Wahlrecht am Wohnort in Deutschland derzeit verfassungswidrig wäre - was spricht dagegen, an dieser Stelle das Grundgesetz zu ändern, um unser politisches System ein wenig demokratischer zu machen? (Und klar, man könnte auch den Wechsel der Staatsbürgerschaft entsprechend vereinfachen. Aber so aufwendig, wie dieser heute noch ist, ist er nicht wirklich eine Alternative zum Wohnort-Wahlrecht.)

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    1. Es ist so fundamental, dass eine Änderung der Verfassung nicht möglich ist, das ist wie wenn du Deutschland in eine Monarchie verwandeln willst, was ja auch denkbar wäre, aber das Ende der Bundes*republik* wäre.

      Vor allem aber, ist das was du kaputt machst, nämlich die FDGO, es wert kaputt zu gehen im Vergleich zum dem Gewinn?

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    2. Hm, Art. 79 (3) GG? Sorry, ich kann nicht wirklich erkennen, weshalb der hier einschlägig sein sollte. Warum sollte das Unionsbürgerwahlrecht, das auf kommunaler Ebene ja schon seit zwei Jahrzehnten existiert, bei einer Ausweitung auf regionale und nationale Wahlen auf einmal gegen die Ewigkeitsklausel verstoßen? Und was das "Kaputtmachen" der freiheitlich-demokratischen Grundordnung betrifft, muss es wohl irgendetwas an den Begriffen "Freiheit" oder "Demokratie" geben, das wir unterschiedlich verstehen... Ich sehe jedenfalls weder das eine noch das andere durch ein allgemeines Wahlrecht am Wohnort gefährdet - im Gegenteil, gerade die Demokratie würde dadurch, siehe oben, nur gewinnen.

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  3. Weshalb "sollte es Regeln geben, um zu verhindern, dass ein Bürger gleich in mehreren Staaten sein Wahlrecht ausübt"?

    Was spricht gegen ein Wahlrecht in mehreren Staaten, im Staat, in dem sich der aktuelle Wohnort befindet und zugleich im Staat, zu dem weiterhin Staatsbürgerschaft besteht?

    Ist nicht die wesentliche demokratische Funktion und zugleich Legitimation von Parlamenten die Interessenvertretung der von ihren Entscheidungen und Maßnahmen Betroffenen? Und kann diese Betroffenheit nicht sowohl orts- als auch volksbezogen sein (siehe http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20120704_2bvc000111.html)?

    Warum aber sollte dann die volksbezogene Betroffenheit aufgrund Staatsangehörigkeit der ortsbezogenen Betroffenheit aufgrund des Wohnortes weichen?

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