- Die Europa-Union Deutschland gibt sich gerne staatstragend. Manchmal täte ihr aber auch ein wenig mehr Biss ganz gut.
Vor einigen Wochen hatte
ich die Gelegenheit, an einer Veranstaltung teilzunehmen, bei der
hochrangige Vertreter des italienischen Movimento Federalista Europeo (MFE) und der Europa-Union Deutschland (EUD) darüber diskutierten, wie sie ihr gemeinsames
Ziel, eine föderale Europäische Union, besser vorantreiben könnten.
MFE und EUD sind die beiden größten nationalen Sektionen der Union Europäischer Föderalisten (UEF), sodass eine gemeinsame
Strategie ohne Zweifel von größer Nützlichkeit wäre. Indessen
hätten die Ansätze kaum unterschiedlicher sein können: Die
Italiener sprachen sich dafür aus, möglichst rasch einen
gemeinsamen Entwurf für eine föderale EU-Verfassung auszuarbeiten
und dann mit ein paar großen Demonstrationen an die Öffentlichkeit
zu gehen. Die Deutschen hingegen setzten eher darauf, vor der
nächsten Europawahl lokale Podiumsdiskussionen zu organisieren, bei
denen sich die Kandidaten verschiedener Parteien vorstellen können.
Und außerdem sollte es nach Regionalwahlen künftig EUD-Workshops
geben, bei denen sich die neu gewählten Landtagsabgeordneten über
die Funktionsweise der Europäischen Union und ihre praktische
Relevanz im politischen Alltag informieren können.
Deutsch-italienische
Gegensätze
Mehr aus Höflichkeit
gaben sich am Ende alle Teilnehmer gegenseitig Recht. Man
beschloss, einfach ein bisschen etwas von allem zu machen, sich über
die Schwerpunktsetzung nicht zu streiten und die Diskussion
bei Gelegenheit einmal fortzusetzen. Insgesamt aber schien mir auf
beiden Seiten eher Unverständnis gegenüber den Ideen der jeweils
anderen vorzuherrschen: Die italienischen Pläne kamen den Deutschen
allzu großspurig vor, die deutschen den Italienern zu zögerlich.
Und beide Seiten schienen mir mehr oder weniger fest davon überzeugt
zu sein, dass man mit der Strategie des jeweils anderen jedenfalls
nicht viel würde ausrichten können.
Woher diese Unterschiede?
Teilweise lassen sie sich wohl aus den unterschiedlichen nationalen
Kulturen erklären: Konfrontation und Medienspektakel sind in dem
polarisierten politischen System Italiens üblicher als in
der deutschen Konsensdemokratie, sodass unterschiedliche
länderspezifische Strategien bis zu einem gewissen Grad durchaus
ihren Sinn haben können. Vor allem
aber scheinen mir die deutsch-italienischen Meinungsverschiedenheiten
auf ein tiefer liegendes Problem zurückzugehen, über das ich in
diesem Blog bereits vor einigen Monaten einmal geschrieben habe: nämlich die Frage,
welche Absichten die europäischen Föderalisten überhaupt verfolgen
und welche Rolle sie in Zukunft spielen wollen. Die beiden
strategischen Ansätze verweisen dabei auf zwei unterschiedliche
Vorhaben, die beide ihre Rechtfertigung haben, aber nicht
notwendigerweise zusammenfallen.
Akzeptanz des Status
quo steigern?
Die
Europa-Union scheint mir mit ihrer Strategie vor allem das Ziel zu
verfolgen, die soziale Akzeptanz des institutionellen Status quo der
EU zu steigern: Nach ihrem Verständnis gibt es schon heute eine
ganze Reihe von Mechanismen, durch die sich die Bürger in die
europäische Politik einbringen könnten – sei es durch die
Europawahlen, über die nationalen und regionalen Parlamente, durch
Bürgerinitiativen, Konsultationen oder informelle Gespräche mit
Interessenverbänden. Das Problem ist jedoch, dass diese Mechanismen
zu wenig genutzt werden. Das Verständnis der Bevölkerung für die
Vorgänge auf europäischer Ebene ist gering, die
Politikverdrossenheit hoch. Die Antwort auf diese Schwierigkeiten
wäre deshalb, die europapolitische Bildung voranzutreiben: Debatten
anzustoßen, Zusammenhänge zu erklären, Vorurteile abzubauen –
kurz gesagt, die EU stärker im alltäglichen Bewusstsein zu
verankern, in der Hoffnung, dass dadurch die Beteiligung bei der
nächsten Europawahl um ein, zwei Prozentpunkte gesteigert werden
kann.
Ein
Vorteil dieser Strategie ist, dass sie niemandem wirklich weh tut.
„Für Europa“ zu sein, ist unter deutschen Politikern nahezu eine
Selbstverständlichkeit. Solange sich die Europa-Union also darauf
beschränkt, die bisherigen Errungenschaften der europäischen
Integration zu loben, wird sie auf wenig Widerstand stoßen
und bei ihren Veranstaltungen immer mit hochrangigen
Festrednern rechnen können.
Den Europaskeptikern
bei der Kritik nicht das Feld überlassen
Der
entscheidende Nachteil dieses zurückhaltenden Ansatzes jedoch ist,
dass er keine Antwort auf die wichtigste Grundsatzkritik der
Europaskeptiker bietet: nämlich dass die Europäische Union in ihrer derzeitigen Form trotz aller Partizipations- und
Konsultationsmechanismen eben doch reichlich undemokratisch ist. Die gesellschaftliche Unzufriedenheit mit der EU ist real, und sie hat ihre Gründe. Denn so
unsinnig Schlagwörter wie „EU-Diktatur“ oder „EUdSSR“ sind (die es beide bei Google immerhin auf einige
hunderttausend Treffer bringen), so richtig bleibt die Feststellung, dass viele der heutigen EU-Verfahren kaum geeignet sind,
eine demokratische öffentliche Meinungsbildung in Gang zu bringen,
die sich dann auch in den politischen Entscheidungen widerspiegelt.
Es scheint mir deshalb einer der größten Fehler der deutschen
Europaföderalisten zu sein, dass sie die EU, so wie sie heute
funktioniert, nicht viel schärfer kritisieren. Wenn es darum geht,
das Wahlverfahren für die Europäische Kommission, das Fehlen einer echten Opposition auf europäischer Ebene, die Konstruktion des Euro-Rettungsschirms oder die
behauptete Alternativlosigkeit bestimmter wirtschaftspolitischer Strategien
zu kritisieren, überlassen sie in der Öffentlichkeit viel zu häufig
den Nationalpopulisten und D-Mark-Nostalgikern das Feld. Damit aber
nehmen sie sich in der politischen
Auseinandersetzung letztlich selbst aus dem Rennen: In der medialen Wahrnehmung gestaltet sich
etwa die Diskussion über die Eurokrise vor allem als ein Konflikt
zwischen „Europabefürwortern“ und „Europagegnern“ – wobei
es sich bei Ersteren scheinbar um die große Mehrheit der deutschen
politischen Klasse handelt, bei Letzteren hingegen um ein paar unentwegte
Verteidiger der (nationalen) Demokratie.
Um in
dieser Auseinandersetzung wieder eine eigene Stimme zu bekommen,
müssten die Föderalisten deutlich machen, dass sie eben nicht nur
apologetisch den Status quo verteidigen wollen oder „mehr Europa“
um jeden Preis anstreben. Sie müssten zeigen, dass Integration und
Demokratie keine Gegensätze sind und dass es möglich ist, die
fundamentalen Legitimationsdefizite der EU zu lösen, ohne sich in
den engen Panzer der nationalen Souveränität zurückzuziehen. Sie
müssten, kurz gesagt, die berechtigte Kritik an der europäischen
Integration aufnehmen, um ihr ihre eigenen, föderalistischen
Antworten entgegenzusetzen, die kohärenter sind als jenes diffuse
Proeuropäertum, das man aus den üblichen politischen Sonntagsreden
kennt.
Visionäre Entwürfe
bringen Konflikte mit sich
Hierfür
jedoch ist es notwendig, eigene visionäre Entwürfe zu entwickeln,
die dann auch die Öffentlichkeit erreichen müssen. Und genau dies
scheint mir das Ziel der „italienischen“ Strategie zu sein, einen
föderalistischen Verfassungsentwurf auszuarbeiten und der
Bevölkerung in einer möglichst medienwirksamen Weise vorzustellen.
Man mag bezweifeln, ob Großdemonstrationen dafür das am besten
geeignete Mittel sind – konstitutionelle Fragen waren in halbwegs
funktionierenden Demokratien noch nie ein Thema, das hunderttausende
Menschen auf die Straße brächte. Immerhin aber könnte ein solcher
Verfassungsentwurf ein wichtiger Bezugspunkt sein, um in
Fernsehtalkshows, auf Podiumsdiskussionen oder, warum nicht, in den
kommenden Bundestags- und Europawahlkämpfen auf den öffentlichen
Diskurs einzuwirken und eine demokratische Alternative sowohl zum
bürgerfernen Krisenmanagement durch den Europäischen Rat als auch
zu den Renationalisierungsplänen der Europaskeptiker zu
präsentieren.
In
Kauf nehmen müsste man dafür natürlich, dass eine solche
föderalistische Vision nicht jedem gefallen wird. Wenn man Ernst
damit macht, die Wirtschaftspolitik zu europäisieren, dem
Europäischen Parlament die alleinige Hoheit über das gemeinsame
Budget zu geben, das Mitspracherecht der Regierungen bei der
Ernennung der Europäischen Kommission abzuschaffen oder die Vielzahl
von Vetorechten und checks and balances im politischen System
der EU durch einfache demokratische Mehrheitsverfahren zu ersetzen,
so wird man sich damit nicht nur Freunde machen. Und wenn man nun gar
noch dazu überginge, die oft hochtrabende Rhetorik all der
„überzeugten Europäer“ in Bundestag und Bundesregierung mit den
aus föderalistischer Sicht immer wieder unzulänglichen Ergebnissen
ihrer realen Politik zu konfrontieren, so würden die Beziehungen
zwischen der Europa-Union und den deutschen Spitzenpolitikern wohl
bald recht viel von ihrer heutigen Harmonie verlieren.
Und
doch scheint mir ein solch offensiverer Kurs notwendig, wenn die
europäischen Föderalisten nicht zum bloßen Steigbügelhalter der
politischen Parteien werden, sondern mit einer eigenen Agenda
erkennbar sein wollen. Mehr noch: In dem Maß, in dem das
Krisenmanagement des Europäischen Rates die tatsächlichen
Legitimationsdefizite der Europäischen Union offenlegt, werden sich
die Föderalisten davon absetzen müssen, um zu verhindern,
dass sie in der Öffentlichkeit zuletzt selbst als Verteidiger eines
undemokratischen Systems wahrgenommen werden.
Das Rodrik-Trilemma
und die Rolle der Föderalisten
Einer
der besten Ansätze, um die Implikationen der europäischen Integration zu verstehen,
ist das „Globalisierungs-Trilemma“,
das der amerikanische Ökonom Dani Rodrik vor Jahren formuliert hat
(siehe etwa hier,
hier
und hier).
Sein Kerngedanke ist, dass man nicht gleichzeitig Nationalstaatlichkeit, intensive transnationale Wirtschafts- und
Sozialbeziehungen und ein demokratisches System haben kann. Je zwei dieser
Elemente lassen sich miteinander vereinen, aber nicht alle drei. Eine
nationale Demokratie kann funktionieren, solange sie nicht
allzu viele äußere Einflüsse erlaubt. Je weiter sie jedoch ihren
Markt und ihre Gesellschaft öffnet, desto kleiner werden die
nationalen Entscheidungsspielräume. Die nationale Politik hat dann nur noch
die Möglichkeit, sich an die äußeren Zwänge anzupassen, bis von
Demokratie keine Rede mehr sein kann – Rodrik nennt das in Anlehnung an Thomas L. Friedman die „goldene
Zwangsjacke“. Oder aber man verbindet gesellschaftliche Öffnung mit
politischer Demokratie, indem man das Konzept der nationalen Souveränität
aufgibt und durch einen neuen, überstaatlichen Föderalismus ersetzt.
Geht
man von diesem Trilemma aus, dann genügt es nicht, nur gegen die
wenigen lautstarken Europaskeptiker zu argumentieren, die teils mehr,
teils weniger unverblümt die gesellschaftliche und wirtschaftliche
Öffnung der letzten Jahrzehnte wieder rückgängig machen wollen.
Genauso notwendig ist die Kritik an all jenen, die zwar gern einen
europäischen Binnenmarkt, eine Währungsunion oder eine
grenzüberschreitende Freizügigkeit haben wollen, aber meinen, dass
diese sich dauerhaft allein auf die Legitimität der nationalen
Parlamente und Regierungen oder einer „technokratischen“
Kommission stützen könnten – und gar nicht zu merken scheinen,
wie dies die Demokratie erodieren lässt. Im Gegensatz zu den echten
Europaskeptikern verkörpern diese diffusen Europabefürworter
derzeit den Mainstream in den deutschen Parteien. Strategisches Ziel
der europäischen Föderalisten sollte es sein, sich in der
Öffentlichkeit neben ihnen als dritte Option bemerkbar zu machen:
als jene Gruppierung, die weder die offenen Grenzen noch die
Demokratie aufzugeben bereit ist, sondern stattdessen lieber auf die
nationale Souveränität verzichtet.
PS
Die
Initiative zu einem neuen föderalistischen Verfassungsentwurf ist
natürlich nicht nur eine italienische Idee. Der Präsident der UEF,
Andrew Duff (LibDem/ELDR), hat diesen Plan bereits im Januar formuliert, und die Spinelli-Gruppe im Europäischen
Parlament arbeitet inzwischen an einem Textvorschlag für ein „europäisches Grundgesetz“. Man darf gespannt sein, wie UEF und Europa-Union die Chancen nutzen, die sich daraus für ihre öffentliche Wahrnehmung bieten werden.
Bilder: Bundesarchiv, B 145 Bild-F047053-0019 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons.
Lieber Manuel,
AntwortenLöschendanke für den interessanten Beitrag. Ich werde ihn mal einem Föderalisten im Europäischen Parlament empfehlen ;-)
Das Einzige was mich stört, ist, dass Du das Grundsatzprogramm der JEF unerwähnt gelassen hast. Wir haben ja gerade erst einen solchen konkreten Vorschlag für die Zukunft Europas gemacht, wie Du ihn forderst.
http://www.jef.de/politik/das-politische-programm/