14 April 2013

Darf man „Europa“ sagen, wenn man die EU meint?

Sie sehen das westliche Fünftel der eurasischen Landmasse (laut Wikipedia).
Am heutigen Sonntag wird in Deutschland eine Partei gegründet, die sich für die Auflösung der europäischen Währungsunion einsetzt. Zypern benötigt weitere 6 Milliarden Euro, nachdem klar geworden ist, zu welch einem wirtschaftlichen Absturz der radikale Sparkurs führen wird. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) sperrt sich gegen einen europäischen Bankenabwicklungsfonds, obwohl der dabei helfen könnte, den Teufelskreis aus nationalen Banken- und Staatsschuldenkrisen zu durchbrechen. Die Inflation in der Eurozone ist auf 1,7% gefallen, was Investitionen weniger attraktiv und deshalb eine Vertiefung der Rezession wahrscheinlicher macht. Und Slowenien steht kurz davor, sich nicht mehr selbst finanzieren zu können. Weil wir also sonst keine Sorgen haben: Darf man eigentlich „Europa“ sagen, wenn man in Wirklichkeit die EU meint?

Klar, einerseits ist das nicht ganz dasselbe. „Europa“, das ist ein geografischer Begriff und bezieht sich auf einen Erdteil, der im Süden bis ans Mittelmeer, im Westen bis an den Atlantik, im Norden bis ans Polarmeer und im Osten bis an, na ja, den Westrand von Asien reicht. Die Europäische Union dagegen ist eine politische Institution – so etwas Ähnliches wie ein Staat, aber nicht ganz, sondern eher, obwohl, Sie wissen schon. Andererseits bezeichnen wir die politische Institution der Bundesrepublik ja auch einfach als „Deutschland“, ohne uns viele Gedanken darüber zu machen. Also: Darf man Europa sagen, wenn man die EU meint?

Zwei Gegenstimmen

Nein, fand vor einigen Tagen Michael Wohlgemuth, Leiter des gemäßigt europaskeptischen Thinktanks Open Europe Berlin, in einem Blogeintrag über die Frage, was ein Euroskeptiker ist. Nein, fand schon vor über einem Jahr der Journalist Gareth Harding in seinen „10 tips for EU cheerleaders“. Das Argument ist in beiden Fällen dasselbe, wenn auch in unterschiedliche Richtungen gewendet. Bei Wohlgemuth lautet es:
Europa“ kann viel Verschiedenes bedeuten; seine geographischen Grenzen sind umstritten und willkürlich; seine historischen Wurzeln sind viele und verschiedene, seine politische Geschichte war meist brutal kriegerisch, Kultur und Recht wuchsen im andauernden Wettbewerb zu einiger Blüte. […] Wo immer man eine „europäische Identität“ finden möchte […] – sicher ist, dass dieses Europa nicht identisch ist mit der Europäischen Union.
Harding dagegen schreibt:
The problem with many Euro-cheerleaders is that they constantly confuse the EU (a political construct with 27 states) with Europe (a continent with almost 50 countries). It is quite possible to dislike – or feel no affinity – with the former whilst feeling deeply attached to the latter. Instead of obsessing about passing new laws, adopting new treaties and creating new institutions, fans of the EU would be better off trying to foster a European spirit among people.
Beide gehen also davon aus, dass es möglich (und vielleicht sogar wünschenswert) ist, sich zu einer „europäischen Identität“ oder einem „europäischen Geist“ zu bekennen, während man gleichzeitig die EU ablehnt. Wohlgemuth warnt bei dieser europäischen Identität zwar auch vor der „Gefahr einer kulturdeterministischen kollektivistischen Vereinnahmung individueller Vielfalt“. Für sich selbst aber nimmt er immerhin in Anspruch, „überaus Europa-freundlich“, dabei aber „EU-kritisch“ und „€-skeptisch“ zu sein.

„Mehr Europa“ mit „mehr EU-Kompetenzen“ gleichzusetzen, sei deshalb, so Wohlgemuth weiter, „anmaßend“ und wirke „tabuisierend“. Schlimmer noch: Wenn Politiker wie Angela Merkel (CDU/EVP), Guido Westerwelle (FDP/ALDE) oder die EU-Arbeitsgruppe der Bundestagsfraktion der SPD (SPE) die europäische Währungsunion als „Schicksalsgemeinschaft“ bezeichneten, dann verwendeten sie ein nationalsozialistisch vorbelastetes Synonym für „Volk“. Und ein Volk der Eurozone, „in dem sich der Einzelne als Teil eines größeren sozialen Ganzen fühlt“, gebe es bekanntlich nicht. Darf man also nicht Europa sagen, wenn man die EU meint?

Die Essenzialisierungsfalle

Was mich an diesem Argument irritiert, ist die Frage, wie das eigentlich genau geht: „für Europa“ zu sein und sich damit nicht auf die EU, sondern auf den Erdteil zu beziehen. Ist damit gemeint, dass man europäisches Essen lieber mag als asiatisches oder europäische Musik schöner findet als amerikanische oder sich mit den europäischen Sitten vertrauter fühlt als mit denen in Afrika? Aber macht es überhaupt Sinn, derartige Phänomene in Zeiten der weltweiten kulturellen Verflechtung nach Kontinenten zu kategorisieren? Und wenn ja: Lassen sich daraus wirklich Schlussfolgerungen im Sinne eines kollektiven „europäischen Geistes“ oder einer „europäischen Identität“ ableiten? Und wenn auch das möglich wäre: Sollte es in einem politischen Kontext ernsthaft irgendeine Rolle spielen?

Mir scheint, wer einen kulturell oder historisch begründeten „europäischen Geist“ beschwört, der die Europäer unabhängig von den realen EU-Institutionen politisch zusammenhalten soll, der tappt in genau jene Essenzialisierungsfalle, durch die der Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert so viel Schaden angerichtet hat. Tatsächlich war es noch in der Zeit der Weimarer Republik ein Topos der revisionistischen Rechten, dass man „Deutschland“ und das „Deutsche Reich“ (damals der offizielle Staatsname) nicht miteinander verwechseln dürfe – weil das „Reich“ nur das politische Konstrukt sei, eben die unter den Nationalkonservativen verhasste Republik, während „Deutschland“ das gesamte von Deutschen besiedelte Gebiet umfasse, mitsamt dem dazugehörigen germanischen Volksgeist.

Nun darf man Wohlgemuth und Harding sicher bedenkenlos unterstellen, dass sie nicht Norwegen und die Schweiz für eine Art europäische Irredenta halten, die es bei Gelegenheit zu erobern gälte. Dennoch scheint mir, dass man die Vorstellung eines vorpolitischen Europäertums, das den Institutionen der EU vorangeht oder gar ihr normativ höherwertiges Gegenbild darstellt, kaum anders als kulturessenzialistisch verstehen kann. Und nachdem wir solche kulturessenzialistischen Deutungen politischer Identität auf nationaler Ebene mit vielen Mühen überwunden haben, sollten wir uns hüten, nun auf europäischer Ebene wieder damit anzufangen.

Europäischer Verfassungspatriotismus

Ein Gegenmodell dazu bietet Jürgen Habermas mit seinem Konzept des „Verfassungspatriotismus“: Dieses leitet politische Identität nicht aus der Zugehörigkeit zu einer ethnisch oder kulturell definierten Gruppe, sondern aus dem Status als Bürger in einem politischen Gemeinwesen ab. Das Primäre sind hier also die gemeinsamen politischen Institutionen: Das Staatsvolk gründet sich nicht auf irgendwelche dubiosen historischen Wurzeln, sondern darauf, dass Menschen einander im republikanischen Sinne als Mitbürger anerkennen und bereit sind, in einem gemeinsamen Rechtsrahmen ihr Zusammenleben demokratisch (und solidarisch) zu gestalten.

Populär wurde dieses Konzept vor allem im Kontext des deutschen Historikerstreits Ende der 1980er Jahre. Es war dort zunächst auf eine deutsche Identität bezogen, die sich nicht auf einen ethnischen Nationalismus, sondern auf die Werte des Grundgesetzes stützte. Ganz im Sinne der „postnationalen Konstellation“ (ebenfalls Habermas) lässt es sich jedoch auch auf überstaatliche Verfassungsordnungen wie die Europäische Union übertragen. Auch diese bietet ihren Bürgern einen gemeinsamen Rechtsrahmen und kann damit den Bezugspunkt für einen europäischen Verfassungspatriotismus bilden. Ein solcher Verfassungspatriotismus bedeutet natürlich nicht, dass man jede einzelne Regelung der EU-Verträge bejahen müsste, aber doch, dass man deren grundsätzliche Werteordnung und insbesondere die Zugehörigkeit der Unionsbürger zu einem gemeinsamen politischen Gemeinwesen anerkennt. Oder, wenn man so will: ihre Zugehörigkeit zu „einem größeren sozialen Ganzen“ – das sich aber nicht ethnisch-kulturalistisch, sondern politisch-republikanisch definiert.

Die Währungsunion als „Schicksalsgemeinschaft“?

In diesem Zusammenhang gewinnt dann auch das Wort von der Währungsunion als „Schicksalsgemeinschaft“ einen anderen Sinn. Denn all die Politiker, die diesen Begriff verwendet haben, meinen ihn natürlich nicht völkisch-nationalistisch. Vielmehr geht es ihnen ganz pragmatisch darum, dass das, was mit dem Euro geschieht, die Bürger in der gesamten Eurozone betrifft, sodass eine rein nationale Wirtschaftspolitik unmöglich geworden ist. Man mag die Formulierung allzu pathetisch finden (und ich persönlich würde sie deshalb nicht gebrauchen), aber letztlich beschreibt sie lediglich die Tatsache, dass die Euro-Mitglieder sich in der Währungspolitik institutionell aneinander gebunden haben und die Bindung nur mit extremen ökonomischen und politischen Verwerfungen wieder gelöst werden kann. (Was übrigens auch der Sinn der Sache war.)

Wenn Angela Merkel „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ sagt, so meint sie damit nicht, dass bei einem Zerfall der Währungsunion der europäische Kontinent im Meer versinken wird. Was sie zum Ausdruck bringt, ist vielmehr, dass dann die Verfassungsordnung der EU als supranationales politisches Gemeinwesen in Gefahr wäre. Nun kann man mit Fug und Recht bezweifeln, ob die Politik der Bundesregierung das beste Mittel ist, um diese Gefahr abzuwenden. Aber Merkels Analyse scheint mir nicht von der Hand zu weisen: Wenn die Krise so weit eskaliert, dass Staaten zum Austritt aus dem Euro gezwungen werden, dann dürfte das zu einem heftigen Wiederaufleben nationaler Ressentiments führen und die weitere Entwicklung einer überstaatlichen Demokratie auf Grundlage der Unionsbürgerschaft für lange Zeit schwer belasten oder gar unmöglich machen.

Mitbürger in einem supranationalen Gemeinwesen

Nun kann man natürlich auch der Meinung sein, dass Unionsbürgerschaft und überstaatliche Demokratie sowieso nichts Gutes sind. Man kann sich für eine Wiederherstellung nationaler Vetorechte einsetzen, für eine Entmachtung der Kommission und des Europäischen Parlaments, für eine Entflechtung der europäischen Gesellschaften, für einen Rückzug in den Kokon der einzelstaatlichen Souveränität. Man kann sogar denken, dass das für sämtliche Staaten auf dem Kontinent das Beste wäre und man deshalb auch allen anderen einen Gefallen damit täte.

Aber es erscheint mir durchaus angemessen, jemanden, der diese Position vertritt, einen „Europaskeptiker“ oder „Europagegner“ zu nennen. Denn wenn es überhaupt eine politische Haltung gibt, die man sinnvollerweise mit einer europäischen Identität in Verbindung bringen kann, dann diese: dass es besser ist, wenn die Menschen in Europa sich als Mitbürger in einem gemeinsamen politischen Gemeinwesen begegnen, statt nur als Angehörige unterschiedlicher souveräner Staaten. Über die genaue Ausgestaltung dieses Gemeinwesens können, ja müssen wir als europäische Bürger einen offenen Diskurs führen. Gerade jemand, dem die europäische Demokratie am Herzen liegt, muss bereit sein, die heutigen Verfahren zu kritisieren. Offensichtlich ist aber, dass die Grundlage eines solchen supranationalen Gemeinwesens nur die Europäische Union sein kann, da nur diese den institutionellen und verfassungsrechtlichen Rahmen bietet, der dafür nötig ist.

Und darum darf man auch „Europa“ sagen, wenn man in Wirklichkeit die EU meint.

PS

Nichts für ungut, liebe Freunde des Europarats: Natürlich gibt es noch weitere überstaatliche politische Institutionen auf diesem Kontinent. Wenn es um Menschenrechte geht, kann man deshalb auch „Europa“ sagen und den Europarat meinen. Aber nur die EU hat auch ein direkt gewähltes Parlament und eigenständige Gesetzgebungskompetenzen – und so etwas sollte zu einem demokratischen Gemeinwesen schon dazugehören.

Bilder: By Koyos (Own work by uploader, made with NASA World Wind.) [Public domain], via Wikimedia Commons.

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