- Sie sehen das westliche Fünftel der eurasischen Landmasse (laut Wikipedia).
Am
heutigen Sonntag wird in Deutschland eine Partei gegründet, die sich
für die Auflösung der europäischen Währungsunion einsetzt. Zypern
benötigt weitere 6 Milliarden Euro, nachdem klar geworden ist, zu welch einem
wirtschaftlichen Absturz der radikale Sparkurs führen wird. Der deutsche
Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) sperrt sich gegen einen europäischen Bankenabwicklungsfonds, obwohl der dabei helfen könnte, den Teufelskreis aus nationalen Banken-
und Staatsschuldenkrisen zu durchbrechen. Die Inflation in der Eurozone ist auf 1,7% gefallen, was Investitionen weniger attraktiv und deshalb eine Vertiefung der
Rezession wahrscheinlicher macht. Und Slowenien steht kurz davor, sich nicht mehr selbst finanzieren zu können. Weil wir
also sonst keine Sorgen haben: Darf man eigentlich „Europa“
sagen, wenn man in Wirklichkeit die EU meint?
Klar,
einerseits ist das nicht ganz dasselbe. „Europa“, das ist ein geografischer Begriff und
bezieht sich auf einen Erdteil, der im Süden bis ans Mittelmeer, im
Westen bis an den Atlantik, im Norden bis ans Polarmeer und im Osten
bis an, na ja, den Westrand von Asien reicht. Die Europäische Union
dagegen ist eine politische Institution
– so etwas Ähnliches wie ein Staat, aber nicht ganz, sondern eher,
obwohl, Sie wissen schon. Andererseits bezeichnen wir die politische
Institution der Bundesrepublik ja auch einfach als „Deutschland“,
ohne uns viele Gedanken darüber zu machen. Also: Darf man Europa
sagen, wenn man die EU meint?
Zwei Gegenstimmen
Nein,
fand vor einigen Tagen Michael Wohlgemuth, Leiter des gemäßigt europaskeptischen Thinktanks Open Europe Berlin, in einem Blogeintrag über die Frage, was ein Euroskeptiker ist. Nein, fand
schon vor über einem Jahr der Journalist Gareth Harding in seinen
„10 tips for EU cheerleaders“. Das Argument ist in beiden Fällen
dasselbe, wenn auch in unterschiedliche Richtungen gewendet. Bei
Wohlgemuth lautet es:
„Europa“ kann viel Verschiedenes bedeuten; seine geographischen Grenzen sind umstritten und willkürlich; seine historischen Wurzeln sind viele und verschiedene, seine politische Geschichte war meist brutal kriegerisch, Kultur und Recht wuchsen im andauernden Wettbewerb zu einiger Blüte. […] Wo immer man eine „europäische Identität“ finden möchte […] – sicher ist, dass dieses Europa nicht identisch ist mit der Europäischen Union.
Harding
dagegen schreibt:
The problem with many Euro-cheerleaders is that they constantly confuse the EU (a political construct with 27 states) with Europe (a continent with almost 50 countries). It is quite possible to dislike – or feel no affinity – with the former whilst feeling deeply attached to the latter. Instead of obsessing about passing new laws, adopting new treaties and creating new institutions, fans of the EU would be better off trying to foster a European spirit among people.
Beide
gehen also davon aus, dass es möglich (und vielleicht sogar
wünschenswert) ist, sich zu einer „europäischen Identität“
oder einem „europäischen Geist“ zu bekennen, während man
gleichzeitig die EU ablehnt. Wohlgemuth warnt bei dieser europäischen
Identität zwar auch vor der „Gefahr
einer kulturdeterministischen kollektivistischen Vereinnahmung
individueller Vielfalt“. Für sich selbst aber nimmt er immerhin in
Anspruch, „überaus Europa-freundlich“, dabei aber „EU-kritisch“ und „€-skeptisch“ zu sein.
„Mehr Europa“ mit
„mehr EU-Kompetenzen“ gleichzusetzen, sei deshalb, so Wohlgemuth weiter, „anmaßend“
und wirke „tabuisierend“. Schlimmer noch: Wenn Politiker wie
Angela Merkel (CDU/EVP), Guido Westerwelle (FDP/ALDE) oder die EU-Arbeitsgruppe der Bundestagsfraktion der SPD (SPE) die europäische
Währungsunion als „Schicksalsgemeinschaft“ bezeichneten, dann
verwendeten sie ein nationalsozialistisch vorbelastetes Synonym für
„Volk“. Und ein Volk der Eurozone, „in dem sich der Einzelne als Teil eines größeren
sozialen Ganzen fühlt“, gebe es bekanntlich nicht. Darf man also nicht Europa sagen, wenn man die EU meint?
Die
Essenzialisierungsfalle
Was
mich an diesem Argument irritiert, ist die Frage, wie das eigentlich
genau geht: „für Europa“ zu sein und sich damit nicht auf die
EU, sondern auf den Erdteil zu beziehen. Ist damit gemeint, dass man
europäisches Essen lieber mag als asiatisches oder europäische
Musik schöner findet als amerikanische oder sich mit den
europäischen Sitten vertrauter fühlt als mit denen in Afrika? Aber
macht es überhaupt Sinn, derartige Phänomene in Zeiten der
weltweiten kulturellen Verflechtung nach Kontinenten zu
kategorisieren? Und wenn ja: Lassen sich daraus wirklich
Schlussfolgerungen im Sinne eines kollektiven „europäischen
Geistes“ oder einer „europäischen Identität“ ableiten? Und
wenn auch das möglich wäre: Sollte es in einem politischen Kontext
ernsthaft irgendeine Rolle spielen?
Mir
scheint, wer einen kulturell oder historisch begründeten
„europäischen Geist“ beschwört, der die Europäer unabhängig
von den realen EU-Institutionen politisch zusammenhalten soll, der
tappt in genau jene Essenzialisierungsfalle, durch die der
Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert so viel Schaden
angerichtet hat. Tatsächlich war es noch in der Zeit der Weimarer
Republik ein Topos der revisionistischen Rechten, dass man
„Deutschland“ und das „Deutsche Reich“ (damals der offizielle
Staatsname) nicht miteinander verwechseln dürfe – weil das „Reich“
nur das politische Konstrukt sei, eben die unter den
Nationalkonservativen verhasste Republik, während „Deutschland“
das gesamte von Deutschen besiedelte Gebiet umfasse, mitsamt dem
dazugehörigen germanischen Volksgeist.
Nun
darf man Wohlgemuth und Harding sicher bedenkenlos unterstellen, dass
sie nicht Norwegen und die Schweiz für eine Art europäische
Irredenta halten, die es bei Gelegenheit zu erobern gälte. Dennoch
scheint mir, dass man die Vorstellung eines vorpolitischen
Europäertums, das den Institutionen der EU vorangeht oder gar ihr
normativ höherwertiges Gegenbild darstellt, kaum anders als
kulturessenzialistisch verstehen kann. Und nachdem wir solche
kulturessenzialistischen Deutungen politischer Identität auf
nationaler Ebene mit vielen Mühen überwunden haben, sollten wir uns
hüten, nun auf europäischer Ebene wieder damit anzufangen.
Europäischer
Verfassungspatriotismus
Ein
Gegenmodell dazu bietet Jürgen Habermas mit seinem Konzept des
„Verfassungspatriotismus“:
Dieses leitet politische Identität nicht aus der Zugehörigkeit zu
einer ethnisch oder kulturell definierten Gruppe, sondern aus dem
Status als Bürger in einem politischen Gemeinwesen ab. Das Primäre
sind hier also die gemeinsamen politischen Institutionen: Das
Staatsvolk gründet sich nicht auf irgendwelche dubiosen historischen
Wurzeln, sondern darauf, dass Menschen einander im republikanischen Sinne als Mitbürger
anerkennen und bereit sind, in einem gemeinsamen Rechtsrahmen ihr
Zusammenleben demokratisch (und solidarisch) zu gestalten.
Populär
wurde dieses Konzept vor allem im Kontext des deutschen
Historikerstreits Ende der 1980er Jahre. Es war dort zunächst auf
eine deutsche Identität bezogen, die sich nicht auf einen ethnischen
Nationalismus, sondern auf die Werte des Grundgesetzes stützte. Ganz
im Sinne der „postnationalen Konstellation“ (ebenfalls Habermas) lässt es sich jedoch auch auf überstaatliche
Verfassungsordnungen wie die Europäische Union übertragen. Auch
diese bietet ihren Bürgern einen gemeinsamen Rechtsrahmen und kann
damit den Bezugspunkt für einen europäischen
Verfassungspatriotismus bilden. Ein solcher Verfassungspatriotismus bedeutet natürlich nicht, dass man jede
einzelne Regelung der EU-Verträge bejahen müsste, aber doch, dass man
deren grundsätzliche Werteordnung und insbesondere die Zugehörigkeit
der Unionsbürger zu einem gemeinsamen politischen Gemeinwesen anerkennt. Oder, wenn man so will: ihre Zugehörigkeit zu „einem größeren sozialen Ganzen“ – das sich aber nicht ethnisch-kulturalistisch, sondern politisch-republikanisch definiert.
Die
Währungsunion als „Schicksalsgemeinschaft“?
In
diesem Zusammenhang gewinnt dann auch das Wort von der Währungsunion
als „Schicksalsgemeinschaft“ einen anderen Sinn. Denn all die
Politiker, die diesen Begriff verwendet haben, meinen ihn natürlich
nicht völkisch-nationalistisch. Vielmehr geht es ihnen ganz
pragmatisch darum, dass das, was mit dem Euro geschieht, die Bürger
in der gesamten Eurozone betrifft, sodass eine rein nationale
Wirtschaftspolitik unmöglich geworden ist. Man mag die Formulierung
allzu pathetisch finden (und ich persönlich würde sie deshalb nicht
gebrauchen), aber letztlich beschreibt sie lediglich die Tatsache,
dass die Euro-Mitglieder sich in der Währungspolitik institutionell
aneinander gebunden haben und die Bindung nur mit extremen
ökonomischen und politischen Verwerfungen wieder gelöst werden
kann. (Was übrigens auch der Sinn der Sache war.)
Wenn
Angela Merkel „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ sagt, so meint sie damit
nicht, dass bei einem Zerfall der Währungsunion der europäische
Kontinent im Meer versinken wird. Was sie zum Ausdruck bringt, ist
vielmehr, dass dann die Verfassungsordnung der EU als supranationales
politisches Gemeinwesen in Gefahr wäre. Nun kann man mit Fug und
Recht bezweifeln, ob die Politik der Bundesregierung das beste Mittel
ist, um diese Gefahr abzuwenden. Aber Merkels Analyse scheint mir
nicht von der Hand zu weisen: Wenn die Krise so weit eskaliert, dass
Staaten zum Austritt aus dem Euro gezwungen werden, dann dürfte das
zu einem heftigen Wiederaufleben nationaler Ressentiments führen und
die weitere Entwicklung einer überstaatlichen Demokratie auf
Grundlage der Unionsbürgerschaft für lange Zeit schwer belasten
oder gar unmöglich machen.
Mitbürger
in einem supranationalen Gemeinwesen
Nun
kann man natürlich auch der Meinung sein, dass Unionsbürgerschaft
und überstaatliche Demokratie sowieso nichts Gutes sind. Man kann
sich für eine Wiederherstellung nationaler Vetorechte einsetzen, für
eine Entmachtung der Kommission und des Europäischen Parlaments, für eine Entflechtung
der europäischen Gesellschaften, für einen Rückzug in den Kokon der einzelstaatlichen Souveränität. Man kann sogar denken, dass das für
sämtliche Staaten auf dem Kontinent das Beste wäre und man deshalb
auch allen anderen einen Gefallen damit täte.
Aber
es erscheint mir durchaus angemessen, jemanden, der diese Position
vertritt, einen „Europaskeptiker“ oder „Europagegner“ zu
nennen. Denn wenn es überhaupt eine politische Haltung gibt, die man sinnvollerweise
mit einer europäischen Identität in Verbindung bringen kann, dann diese: dass es besser
ist, wenn die Menschen in Europa sich als Mitbürger in
einem gemeinsamen politischen Gemeinwesen begegnen, statt nur als Angehörige unterschiedlicher souveräner Staaten. Über die genaue Ausgestaltung dieses Gemeinwesens können, ja
müssen wir als europäische Bürger einen offenen Diskurs führen. Gerade jemand, dem die europäische Demokratie am Herzen liegt, muss bereit sein, die heutigen Verfahren zu kritisieren. Offensichtlich ist aber, dass die Grundlage eines solchen supranationalen Gemeinwesens nur
die Europäische Union sein kann, da nur diese den institutionellen
und verfassungsrechtlichen Rahmen bietet, der dafür nötig ist.
Und
darum darf man auch „Europa“ sagen, wenn man in Wirklichkeit die
EU meint.
PS
Nichts für ungut, liebe Freunde des Europarats:
Natürlich gibt es noch weitere überstaatliche politische
Institutionen auf diesem Kontinent. Wenn es um Menschenrechte geht, kann man deshalb auch „Europa“ sagen und den Europarat meinen. Aber nur die EU hat auch ein direkt
gewähltes Parlament und eigenständige Gesetzgebungskompetenzen – und so etwas sollte zu einem
demokratischen Gemeinwesen schon dazugehören.
Bilder: By Koyos (Own work by uploader, made with NASA World Wind.) [Public domain], via Wikimedia Commons.
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