- Wenn Viktor Orbán (Fidesz/EVP) Regierungschef von Hessen statt von Ungarn wäre, könnte er weit weniger Schaden anrichten.
Stellen wir uns vor, die
hessische CDU (EVP) gewönne bei den nächsten Landtagswahlen eine
Zweidrittelmehrheit und beschlösse, in Wiesbaden ein autoritäres
Regime zu errichten. (Das würde die hessische CDU niemals tun?
Deswegen wollen wir es uns ja auch vorstellen, lieber
Leser!) Sie würde gegen den
Widerstand der Opposition eine neue Landesverfassung verabschieden,
die mit einem „hessischen Glaubensbekenntnis“ zu Gott, Familie
und Vaterland beginnt, welches als Auslegungsmaßstab dienen soll.
Sie würde eine neue Form von Gesetzen einführen, die auch in
Zukunft nur durch eine Zweidrittelmehrheit geändert werden können.
Sie würde mithilfe solcher Gesetze Entscheidungskompetenzen vom Landesparlament in neu geschaffene Gremien verlagern, deren Mitglieder für mehrere Legislaturperioden unabsetzbar sind und alle der CDU angehören. Sie würde dafür sorgen, dass das hessische Justizministerium
Rechtssachen künftig dem Gericht seiner Wahl zuweisen kann. Sie
würde das Medienrecht verschärfen und ein Kontrollorgan mit
fast willkürlicher Sanktionsgewalt einrichten, das unmittelbar der Landesregierung
untersteht. Sie würde das Wahlgesetz zu ihren Gunsten ändern und
die unabhängige Wahlleitung abschaffen. Sie würde versuchen, die
Landesverfassungsrichter durch parteitreues Personal zu ersetzen. Und
wenn sich das Landesverfassungsgericht dagegen wehrt, würde sie es
ein Jahr später in einer neuerlichen Verfassungsänderung kurzerhand
entmachten und seine Kontrollbefugnisse auf ein Minimum einschränken.
Was würde dann passieren?
Ganz
einfach: Bei erster Gelegenheit würde ein hessischer Bürger, der
sich in seinen durch das deutsche Grundgesetz garantierten Rechten
verletzt fühlt, Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegen.
Und nicht nur das, auch die Bundesregierung oder der Bundestag (auf Antrag eines
Viertels seiner Mitglieder) könnten sich nach Karlsruhe wenden. Die Kläger würden
sich dann auf die sogenannte Homogenitätsklausel in Art. 28 GG berufen, derzufolge die „verfassungsmäßige Ordnung in den
Ländern […] den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen
und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“
muss. Zuletzt würde das Bundesverfassungsgericht, wenn es die Sicht der Kläger teilt, die Änderung der
hessischen Landesverfassung vermutlich kurzerhand für nichtig
erklären. Damit wäre natürlich noch nicht gewährleistet, dass
sich die hessische Regierung auch wirklich in das Urteil fügt –
aber falls sie es nicht tut, wäre immerhin der Rechtsbruch
offensichtlich.
Vom fiktiven Hessen
zum realen Ungarn
So weit das fiktive
Hessen. Nun zum realen Ungarn: Die CDU heißt dort Fidesz (gehört
aber genau wie jene der Europäischen Volkspartei an), die
Landesverfassung ist eine Staatsverfassung, und statt eines
Gliedstaats der Bundesrepublik Deutschland ist Ungarn ein Mitglied
der Europäischen Union. Die Angriffe auf die Demokratie aber sind
dieselben, und so wie das Grundgesetz bekennt sich auch der
EU-Vertrag in Artikel 2
zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Warum kann dann der
Europäische Gerichtshof diese Prinzipien nicht ebenso wirksam
verteidigen wie das Bundesverfassungsgericht? Warum kann er die
ungarischen Verfassungsänderungen der letzten zwei Jahre nicht
einfach für europarechtswidrig und damit für unanwendbar erklären?
Wie oben erwähnt, sind
es in Deutschland zwei Wege, durch die das Bundesverfassungsgericht
im Fall Hessen angerufen werden könnte: eine Individualbeschwerde
wegen Verstößen gegen die im Grundgesetz verankerten Grundrechte
oder eine Bund-Länder-Klage auf Basis der Homogenitätsklausel.
Beide Wege könnte man sich theoretisch auch auf europäischer Ebene
vorstellen. Doch in beiden Fällen zeigen sich Hindernisse, die ein Vorgehen gegen die ungarische Regierung
erschweren.
Erstes Hindernis: Der
Anwendungsbereich der EU-Grundrechtecharta
Das beginnt mit der
EU-Grundrechtecharta.
Diese bildet das europäische Pendant zum
Grundrechtekatalog im deutschen Grundgesetz – doch in
einem wesentlichen Punkt unterscheiden sie sich: Während die
deutschen Grundrechte nämlich sowohl den Bund als auch die Länder
binden, gilt die EU-Charta nach
ihrem Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der
Durchführung des Rechts der Union“. Rein nationale Gesetze können
also nicht an ihr gemessen werden. Vor einem
Jahr führte dies zu der absurden Situation, dass der EuGH an der
ungarischen Verfassung zwar Verstöße gegen die (europarechtlich
vorgeschriebene) Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten
monieren konnte, aber nicht die viel gravierendere Beschneidung der Meinungsfreiheit im Pressegesetz.
Allerdings
scheint sich der EuGH in dieser Frage zuletzt ein wenig locker
gemacht zu haben. In seinem viel diskutierten jüngsten Urteil im Fall „Åkerberg Fransson“
jedenfalls legte er die Formulierung in Art. 51 Abs. 1 GRCh
außerordentlich weit aus. „Durchführung des Unionsrechts“
beschränkt sich demnach nicht nur auf Fälle, in denen das Handeln
der Mitgliedstaaten unmittelbar durch die EU bestimmt ist, sondern
auf alle Bereiche, die auch nur irgendwie vom europäischen Recht
erfasst werden. Damit aber eröffnen sich zahlreiche neue
Möglichkeiten: Wenn etwa die EU die von der Europäischen Kommission
geplante Medienrichtlinie
verabschiedet, würde das restriktive ungarische Pressegesetz
plötzlich zu einer „Durchführung von Unionsrecht“ – und damit
wäre Art. 11 GRCh anwendbar, der die freie Meinungsäußerung
schützt.
Zweites Hindernis: Die
Einstimmigkeit in Artikel 7 EU-Vertrag
Eine
solch extensive Deutung der EU-Grundrechtecharta kann also schon
einigen Nutzen bringen. Ganz befriedigend aber ist diese Lösung
nicht. Denn was macht man mit Bereichen, in denen das Unionsrecht
überhaupt nicht hinreicht – etwa das nationale Wahl- oder
Parteienrecht? Und was, wenn nicht individuelle Grundrechte betroffen
sind, sondern Staatsstrukturmerkmale wie, sagen wir, die
Gewaltenteilung? Sollte es im EU-Vertrag nicht auch einen Mechanismus
geben, durch den (wie in Deutschland mit der Bund-Länder-Klage bei
Verstößen gegen das Homogenitätsprinzip) Angriffe auf die
Demokratie auch ohne den Umweg über die Grundrechte verfolgt werden
können?
Tatsächlich
scheint Artikel 7 EU-Vertrag genau so einen Mechanismus bereit zu halten: Wenn der
Europäische Rat einstimmig feststellt, dass ein Mitgliedstaat „eine
schwerwiegende und anhaltende Verletzung“ gegen die Werte der EU
begeht, so können ihm die Stimmrechte im Rat entzogen werden. Das
Problem an dieser Regelung ist freilich die Einstimmigkeit, mit der
die Verstöße festgestellt werden müssen. Eine autoritäre
Regierung muss nur ein einziges der 26 anderen Länder auf seine
Seite ziehen, um jede Sanktion zuverlässig zu verhindern. Und da man
unter den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat ohnehin
eher einen höflich-diplomatischen Umgangsstil pflegt, ist es wohl so
gut wie ausgeschlossen, dass Artikel 7 in der Praxis jemals zur
Anwendung kommen wird.
Ein
Vertragsverletzungsverfahren wegen Artikel 2
EU-Vertrag?
Eher
zum Einschreiten fähig wären hingegen die supranationalen
Institutionen, also die Kommission und das Europäische Parlament.
Nicht zufällig baut ja auch das deutsche Grundgesetz bei der
Gewährleistung der Homogenitätsklausel nicht etwa auf eine
Konferenz der Ministerpräsidenten, sondern auf das Klagerecht von
Bundesregierung und Bundestag vor dem Bundesverfassungsgericht. Hätte
die Kommission also die Möglichkeit, vor dem EuGH zu klagen, um die
ungarische Verfassungsänderung für europarechtswidrig erklären zu
lassen – und zwar nicht wegen einzelner Verstöße gegen
EU-Richtlinien, sondern gegen das Demokratieprinzip selbst?
Mir
scheint, ja. Art. 2 EU-Vertrag definiert die Demokratie als Wert der Union, was nach
herrschender Meinung auch eine Pflicht der Mitgliedstaaten zu einem
nach innen demokratischen System impliziert. Mehr noch: Art. 3 Abs. 1 EU-Vertrag erklärt es zum „Ziel der Union“, ihre
Werte zu fördern, und Art. 4 Abs. 3 EU-Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle
Maßnahmen zu unterlassen, die „die Verwirklichung der Ziele der
Union gefährden könnten“. Wenn Ungarn mit einem nationalen
Rechtsakt wie der jüngsten Verfassungsänderung gegen das Demokratieprinzip verstößt, so verletzt es also
den EU-Vertrag – und die Europäische Kommission müsste demnach
die Möglichkeit haben, gegen diesen Rechtsakt in einem regulären
Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEU-Vertrag zu klagen. Und wenn sich der EuGH der Sichtweise der
Kommission dann anschließt, müsste er den Rechtsakt nach Art. 260 AEU-Vertrag für unanwendbar erklären können.
Ein rechtlicher
Einwand: Ist Artikel 7 abschließend?
Erstaunlicherweise
wurde ein solches Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstoßes gegen
Art. 2 EU-Vertrag in der Debatte über Ungarn bislang kaum
thematisiert. Selbst Kommentatoren, die keinen Zweifel an der
Demokratiefeindlichkeit der ungarischen Regierung hegen, rufen
allenfalls nach einem Artikel-7-Verfahren. Was aber spricht gegen
eine Klage der Kommission? Zwei Einwände scheinen mir denkbar.
Der
erste ist rechtlicher Natur. Artikel 7, so liest man bisweilen
in der Fachliteratur, könnte als abschließend zu verstehen sein –
das heißt, indem er eine spezielle Vorgehensweise bei Verstößen
gegen die Werte der EU festlegt, könnte er implizit die Nutzung
anderer Verfahren verbieten. Allerdings erscheint mir eine solche
Interpretation keineswegs zwingend: Aus dem Wortlaut des Artikels
geht sie jedenfalls nicht hervor. Und auch systematisch wäre es
einigermaßen absurd, dass Art. 258 AEU-Vertrag der Kommission
zwar das Recht verleihen soll, bei kleinen Verstößen der
Mitgliedstaaten Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten – dass sie
dieses Recht aber verlieren würde, sobald ein Mitgliedstaat beginnt,
gegen die Wertfundamente des Vertrags selbst zu verstoßen.
Plausibler ist deshalb wohl die Deutung, dass Art. 7 EU-Vertrag einen
zusätzlichen Mechanismus zum Vertragsverletzungsverfahren
darstellt, um bei schweren Verstößen gegen die Werte der Union
neben der Feststellung der Europarechtswidrigkeit durch den EuGH auch
einen Entzug von Stimmrechten durch den Europäischen Rat zu
ermöglichen.
Ein politischer
Einwand: Die EU als oberster Demokratiehüter?
Der
zweite Einwand hingegen ist politisch: So hört man immer wieder,
dass es nicht die Aufgabe der supranationalen EU-Institutionen sein
könne, „zu einem pan-europäischen Polit-Polizisten [zu
werden], welcher Bürgern von Lappland bis Lampedusa das einzig wahre
Demokratieverständnis vorschreibt“ (so die
etwas ironische Formulierung von Jan-Werner Müller). Dem liegt
vor allem die Sorge zugrunde, dass eine Einmischung des EuGH die
eigentlich im politischen Raum zu klärende Frage nach der
Ausgestaltung der Demokratie zu sehr dem Diskurs der Juristen
überlassen würde. Und bis zu einem
gewissen Grad ist da natürlich etwas dran. Ohne Zweifel wäre es
wünschenswert, wenn es gelänge, die ungarische Verfassungserosion
auf rein politischem Wege aufzuhalten: wenn allein die Proteste der
Öffentlichkeit oder der politischen Partner genügten, um die
Regierung zu einem Umdenken zu bewegen. Dass die Europäische
Volkspartei der Fidesz bis heute die Stange hält, ist aus
europäischer Sicht wohl die größte Schande in der ungarischen
Tragödie.
Aber
genau dasselbe gilt auch für die nationale Ebene: Auch hier würde
man bei einem demokratischen Amoklauf der hessischen CDU erwarten, dass
als Erstes die Medien protestieren und die Vertreter der Bundes-CDU
ihre Parteifreunde auf Landesebene zur Räson rufen. Allerdings zeigt
gerade die deutsche Geschichte, dass Politik allein nicht immer
genügt, um autoritäre Herrschaft zu verhindern – sondern dass
eine „wehrhafte Demokratie“ mitunter auch rechtliche Mittel braucht, um sich gegen
ihre Gegner zu schützen. Genau zu diesem Zweck hält das
Grundgesetz die entsprechenden Notfallmechanismen bereit. Denn
welchen Wert hätte Art. 28 GG, wenn es keine
Möglichkeit gäbe, die Demokratie in den Ländern auch durch das
Bundesverfassungsgericht durchsetzen zu lassen? Und welchen Wert hat
das gemeinsame europäische Bekenntnis zu Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in Art. 2 EU-Vertrag,
wenn wir es hinterher nur den Einzelstaaten überlassen, im politischen Prozess je für sich
alleine auszulegen, was man sich darunter vorzustellen hat?
Die
Europäische Kommission hat vor einigen Tagen angekündigt, dass sie die letzte ungarische
Verfassungsänderung auf ihre Europarechtskonformität prüfen und
gegebenenfalls „alle ihr zur Verfügung stehenden
Rechtsmittel nutzen“ wird. Eine
entsprechende Erklärung gab es allerdings auch schon vor einem Jahr,
wo zuletzt jedoch nur punktuell gegen einzelne Bestandteile der neuen
Verfassung vorgegangen wurde. Die ungarische Regierung hat sich davon
offensichtlich nicht beeindrucken lassen. Diesmal sollte sich die
Kommission deshalb ernsthaft überlegen, ob nicht die Zeit gekommen
ist, ein Vertragsverletzungsverfahren wegen eines Verstoßes gegen
die Werte in Artikel 2 EU-Vertrag einzuleiten.
PS
Noch eine kleine Leseempfehlung: Auch das Verfassungsblog widmet sich gerade ausführlich der Frage, wie die EU die Demokratie in ihren Mitgliedstaaten sichern kann. In einem Online-Symposium unter dem Titel Ungarn – was tun? diskutieren Juristen und Politikwissenschaftler über die Vor- und Nachteile verschiedener Lösungsmöglichkeiten.
PS
Noch eine kleine Leseempfehlung: Auch das Verfassungsblog widmet sich gerade ausführlich der Frage, wie die EU die Demokratie in ihren Mitgliedstaaten sichern kann. In einem Online-Symposium unter dem Titel Ungarn – was tun? diskutieren Juristen und Politikwissenschaftler über die Vor- und Nachteile verschiedener Lösungsmöglichkeiten.
Bild: By Európa Pont (Flickr.com) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.
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