Der amerikanische
Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman ist derzeit vermutlich der
in der globalen Öffentlichkeit bekannteste Ökonom überhaupt. In
seinem Blog auf der Homepage der New York Times mischt er sich regelmäßig
auf Seiten der Linken in die politische Debatte der USA ein, wobei er
wirtschaftliche Expertise mit scharfzüngigen Formulierungen
verbindet. So wirft er etwa gerne den US-Republikanern vor,
Zombie-Ideen
zu verfechten: „Vorstellungen, die wiederholt von empirischen
Belegen getötet werden, aber dennoch unerbittlich vorwärts torkeln,
vor allem weil sie in eine politische Agenda passen“. Der kleine
Bruder dieser Zombie-Ideen sind die Kakerlaken-Ideen,
„die man wegzuspülen versucht, aber die immer wiederkommen“, und
zwar „weil die Menschen, die sie vertreten, sich einfacher Fakten
nicht bewusst sind“.
Nun ist Krugmans Wortwahl
auch im polarisierten politischen Diskurs der USA oft nicht
unumstritten. In den letzten Tagen aber konnte man das interessante
Schauspiel beobachten, das passiert, wenn ein begnadeter Polemiker
wie er auf den Presseapparat der
Europäischen Kommission trifft. Krugman warf nämlich dem liberalen
Währungskommissar Olli Rehn (Kesk./ELDR) vor, eine solche
Kakerlaken-Idee zu vertreten – und was darauf folgte, war eine
rhetorische Schlammschlacht, die es in sich hatte. Der Pressesprecher der
Kommission fragte zunächst noch freundlich auf Twitter, ob man sich
als Nächstes gegenseitig anspucken würde. Dann legte der Sprecher der Medienkommissarin Neelie Kroes (VVD/ELDR) nach, man könne mit Krugman „den Boden abwischen“. Und Kroes selbst erklärte schließlich, der
Wirtschaftsnobelpreisträger sei schlicht zynisch und werde mit seiner Außenperspektive der Komplexität der EU nicht gerecht. Woraufhin Krugman seinerseits die Kommission mit dem früheren US-Präsidenten George W. Bush verglich: So wie dessen Regierung
2003 jede Kritik am Irakkrieg als Antiamerikanismus abtat,
so versuche nun auch die Kommission ihren eigenen wirtschaftspolitischen Standpunkt mit der
europäischen Idee selbst gleichzusetzen – und das sei „wirklich
verachtenswert“.
Antizyklische
Wirtschaftspolitik oder expansive Austerität?
Der Hintergrund dieser
zweifellos popcorntauglichen Auseinandersetzung ist die auf den
ersten Blick etwas akademisch anmutende Frage, wie sich staatliche
Sparmaßnahmen in einer Krise kurzfristig auf das Verhältnis
zwischen öffentlichen Schulden und Bruttoinlandsprodukt auswirken –
und damit implizit die Bewertung der EU-Austeritätspolitik in den
letzten Jahren. Die klassische antizyklische Wirtschaftspolitik, die
vor allem auf den britischen Ökonom
John Maynard Keynes zurückgeht und im Wesentlichen auch von Paul
Krugman vertreten wird, verlangt vom Staat, in einer Krise eher neue
Schulden aufzunehmen, um mit zusätzlichen Ausgaben das Wachstum
wiederzubeleben. Zum Schuldenabbau hingegen sind Boomphasen besser
geeignet, in denen die Wirtschaft ohnehin robust ist. Versucht der
Staat in der Krise zu sparen, so würgt er damit die Konjunktur ab,
was schlimmstenfalls sogar dazu führen kann, dass die Schuldenquote
steigt, wenn nämlich das
Bruttoinlandsprodukt schneller schrumpft als der öffentliche
Schuldenstand.
In
der Eurokrise allerdings stellte sich recht früh das Problem, dass
die südeuropäischen Staaten in eine Situation kamen, in der sie
neue Schulden nur noch zu horrenden Zinsen aufnehmen konnten. (Einer
der Gründe hierfür war, dass sie keine eigene Währung hatten und
der Eurokurs sowie der EZB-Leitzins für ihre Bedürfnisse zu hoch
waren.) Eine antizyklische Politik wäre deshalb nur mit Geld von
außen möglich gewesen. Da die EU selbst jedoch nur ein lächerlich
kleines Budget hat und die nordeuropäischen Staaten, allen voran
Deutschland, sich mit allen Mitteln gegen die Idee einer
„Transferunion“ stemmten, entfiel diese Möglichkeit.
Stattdessen
legten sich der Europäische Rat, die Kommission und der
Internationale Währungsfonds eine eigene wirtschaftspolitische
Theorie zurecht, derzufolge es sich bei der Eurokrise vor allem um
ein Problem des Vertrauens der Anleger in die langfristige
Wirtschaftspolitik der betroffenen Staaten handelte. Durch eine
Mischung von staatlichen Sparmaßnahmen und Strukturreformen sollte
dieses Vertrauen wiederhergestellt werden: Die Austeritätspolitik
würde deshalb, so die Annahme, schon kurzfristig einen expansiven
Effekt haben und zu einer Erholung der Wirtschaft führen.
Die Debatte über die
fiskalischen Multiplikatoren
Das
Praktische an dieser Theorie war, dass sie zusätzliche
Konjunkturpakete unnötig machte und deshalb für die Regierungen
recht billig zu haben war. Das Unpraktische war, dass sie nicht
stimmte. Trotz aller Sparmaßnahmen verbesserte sich die
wirtschaftliche Lage nicht. Und nicht nur, dass wie von
keynesianischen Ökonomen vorhergesagt Konjunktur
und Beschäftigung auf Talfahrt gingen: Auch die Zinsen auf
Staatsanleihen der Krisenländer stiegen immer weiter an, bis im Sommer
2012 die Europäische Zentralbank den massiven Aufkauf von
Staatsanleihen ankündigte. Anfang Januar war der Internationale
Währungsfonds schließlich die erste politische Institution, die
sich von dem Austeritätskonsens abwandte. In einer Studie (Wortlaut)
berechnete der IWF-Chefökonom Olivier Blanchard, dass der
„fiskalische Multiplikator“ in den Krisenstaaten entgegen
früheren Erwartungen nicht bei 0,5, sondern deutlich über 1 lag – was bedeutet, dass
jeder von der Regierung gesparte Euro das Bruttoinlandsprodukt um
mehr als einen Euro reduzierte und damit die Schuldenquote steigen
ließ.
Diese
Erkenntnis fand einige öffentliche Aufmerksamkeit und führte zu dem
ersten Aufeinanderprallen zwischen Olli Rehn und Paul Krugman: In
einem Schreiben (Wortlaut)
an die europäischen Finanzminister kritisierte Rehn nämlich, die
Debatte über fiskalische Multiplikatoren sei „nicht hilfreich“
und drohe „das Vertrauen zu unterminieren, das wir in den letzten
Jahren mühsam aufgebaut haben“. Dieses Argument wurde von zahlreichen Wirtschaftsbloggern scharf zurückgewiesen und speziell von
Krugman als „wohltuendes Zeichen der Verzweiflung“ unter den Austeritätsbefürwortern
gewertet. Anders als der Währungskommissar behaupte, seien die seit
2012 sinkenden Zinsen auf Staatsanleihen der Krisenländer auch kein Verdienst der Sparpolitik, sondern nur des Aufkaufprogramms der
EZB.
Ende
Februar verschärfte sich die Auseinandersetzung dann, als der
Londoner Ökonom Paul de Grauwe, renommierter Experte
für die europäische Währungsunion, weitere Belege für die negativen Folgen einer „panik-getriebenen Austerität“ vorlegte – und Rehn nur einen Tag später
angesichts neuer schlechter Konjunkturdaten warnte, die EU müsse jetzt „den
Reformkurs beibehalten und jedes Zögern vermeiden, das das nahende
Vertrauen unterminieren könnte“. Krugman kommentierte dies mit
einem Artikel unter der Überschrift „Paul de Grauwe and the Rehn of Terror“. Vor einer Woche schließlich
erklärte der Währungskommissar, dass angesichts des hohen
Schuldenstands in den europäischen Krisenländern auch Keynes selbst
heute keine keynesianistische Wirtschaftspolitik vertreten würde.
Krugman konterte darauf, dass die britische Schuldenquote zu Keynes’ Zeiten nahe bei 200 Prozent und damit sehr viel höher lag als diejenige der
europäischen Staaten heute. Außerdem nutzte er die Gelegenheit, um das Wort von den
„Kakerlaken-Ideen“ in die Welt zu setzen, das dann die Kommissionssprecher zu ihren harschen Reaktionen auf Twitter
verleitete.
Einige
Lektionen
Was
lässt sich daraus lernen? Zunächst einmal, dass die Europäische
Kommission (oder sagen wir: ihre liberalen Mitglieder Olli Rehn und
Neelie Kroes) offenbar stärker von der Austeritätspolitik überzeugt
sind, als man meinen könnte. Ich selbst zum Beispiel hatte zu Beginn
der Krise eher vermutet, dass die Kommission nur aus der Not eine
Tugend machen wollte und ihre Unfähigkeit, aus dem kärglichen
EU-Budget ein ernstzunehmendes Konjunkturpaket zu schnüren, zu
überspielen versuchte, indem sie in das Loblied auf die Sparpolitik
mit einfiel. Ärgerlich erschien mir daran vor allem, dass sie
dadurch von den tatsächlichen Verantwortlichen – nämlich den
Regierungen der reichen Euroländer, besonders Deutschland, Finnland,
den Niederlanden sowie Frankreich bis zur Abwahl von Nicolas Sarkozy
(UMP/EVP) – ablenkte. Die Kommission selbst jedoch schien mir
mangels eines eigenen Handlungsspielraums nur ein kleinerer Teil der
Verantwortung zu treffen.
Doch die
Vehemenz, mit der sich der Währungskommissar gegen die Erkenntnis
stemmt, dass die Sparmaßnahmen in den Krisenländern eben nicht zu
einer Verbesserung der Lage beigetragen haben, spricht gegen
diese Vermutung. Sei es, dass Rehn tatsächlich an die Theorie
von der expansiven Austerität glaubt, sei es, dass er schlicht nicht
eingestehen will, welche Fehler die EU in den letzten Jahren begangen
hat: Dass die Kommission anders als der IWF am alten Kurs festhält,
lässt sich nur durch eine tatsächliche politische Überzeugung
erklären.
Die
Kommission lässt sich nicht technokratisch legitimieren
So
eine politische Überzeugung ist für sich allein freilich nichts
Schlechtes – nur muss man dann auch dazu bereit sein, sie in der
politischen Arena zu verteidigen. Und das ist die zweite und
grundsätzlichere Lektion, die sich aus dem Streit ziehen lässt: Die
alten Legitimationsmuster für die Europäische Kommission sind
endgültig hinfällig geworden. Bis heute findet sich immer wieder
die Vorstellung, dass die Kommission vor allem eine technokratische
Institution sei, die auf der Grundlage wissenschaftlicher Expertise
das europäische Gemeinwohl vorantreibe. Auch Olli Rehn selbst griff
bereits darauf zurück: Als zum Beispiel vor etwas mehr als einem
Jahr der belgische Wirtschaftsminister Paul Magnette (PS/SPE) eine Entscheidung des Währungskommissars scharf kritisierte, da ließ
dieser durch seinen Sprecher antworten, die Kommission verfolge
„keine politische Agenda“ und stütze ihre Beschlüsse nur „auf
rigorose ökonomische Analyse“.
Genau
dieser rigorosen Analyse aber verweigert sich die Kommission
jetzt, wenn Rehn die Diskussion wirtschaftswissenschaftlicher
Erkenntnisse in erster Linie als eine Gefahr für das Vertrauen in
die Eurozone betrachtet und Kroes den Kritikern dieser Haltung Zynismus vorwirft. Noch einmal: Als Politiker haben sie ein
gutes Recht, genau das zu tun. Demokratische Wirtschaftspolitik ist
eben nicht immer nur eine Frage des besseren akademischen
Arguments, sondern auch der Bereitschaft, vor den Bürgern für die
eigenen Überzeugungen Verantwortung zu übernehmen.
Für
die Legitimation der Kommission aber bedeutet das, dass es auch
politische Mechanismen geben muss, mit denen die Bürger diese
Verantwortung tatsächlich einfordern können. Und damit stellt sich
für mich und alle anderen, die nicht an die heilsame Wirkung der
europäischen Austeritätspolitik glauben wollen, die Frage: Was, bitte, können wir tun, um Olli Rehn bei der nächsten Europawahl abzuwählen?
Bild: By David Shankbone (Shankbone) [CC-BY-3.0], via Wikimedia Commons.
SPD stimmen, statt FDP.
AntwortenLöschen@martinned: Im Prinzip ja... Aber wenn die finnische Regierung dann erneut Rehn nominiert: Hätte die SPE wirklich die Chuzpe, im Europäischen Parlament gegen die neue Kommission zu stimmen, nur weil einige der vorgeschlagenen Mitglieder der ELDR angehören? Mich würde es freuen, aber es wäre jedenfalls ein Novum.
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