- Auf dem Bild unterzeichnen Adenauer und De Gaulle den Elysée-Vertrag. Bei der Verkündung des Van-Gend-&-Loos-Urteils war leider kein Fotograf dabei.
Der ein oder andere wird sich noch erinnern: Vor zwei Wochen, am 22. Januar,
haben wir den fünfzigsten Jahrestag des Elysée-Vertrags über die deutsch-französische Freundschaft gefeiert. Der Bundestag und die Assemblée Nationale verabschiedeten auf einer gemeinsamen Sitzung eine hübsche Erklärung, die Zeitungen beider Länder druckten feierliche Sonderausgaben, und uns allen war irgendwie bewusst, dass sich damals vor fünfzig Jahren in Paris etwas furchtbar Wichtiges zugetragen hatte.
Heute hingegen ist der
fünfzigste Jahrestag der Van-Gend-&-Loos-Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs (EuGH), aber von einer kleinen Fachtagung in Luxemburg abgesehen sind politische
Feierveranstaltungen weit und breit nicht in Sicht. Sucht man bei Google News, so findet man in den deutschsprachigen Onlinemedien nur einen einzigen Beitrag zu dem Thema, die Transkription einer sehr hörenswerten Sendung von Max Steinbeis im Deutschlandfunk. Und vermutlich hat der größte Teil der europäischen Bevölkerung überhaupt noch nie von diesem Urteil gehört. Dabei war es für den Fortgang
der Integration das viel bedeutendere Ereignis – denn
es hielt den intergouvernementalen Versuchungen des Elysée-Vertrags
ein supranationales Bekenntnis zu einem Europa der Bürger entgegen.
Die
Vorgeschichte des Elysée-Vertrags
Bei
all der Feierlichkeit über den Elysée-Vertrag vor zwei Wochen wurde
nur erstaunlich selten auf dessen Vorgeschichte eingegangen. Das
offizielle Narrativ lautet dabei, dass durch jenes denkwürdige
Abkommen zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle die
jahrhundertealte „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und
Frankreich überwunden und die „Aussöhnung“ der beiden Nachbarn
ermöglicht wurde – in der Praxis umgesetzt durch das
deutsch-französische Jugendwerk und hunderte von
Städtepartnerschaften zwischen beiden Ländern. Vertieft man sich
hingegen in die historischen Details, so trübt sich diese
schillernde Erzählung etwas ein. Denn nicht nur, dass die deutsche
und französische Regierung 1963 bereits auf mehr als ein Jahrzehnt
sehr vertrauensvoller Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen
Gemeinschaften zurückblicken konnten und von „Erbfeindschaft“
zwischen den beiden Partnern schon lange keine Rede mehr war. Der
Elysée-Vertrag war auch Teil einer längeren Reihe von Versuchen vor
allem der gaullistischen Regierung, die supranationale Entwicklung
genau dieser Gemeinschaften zu hintertreiben.
Das
eigentliche Novum der 1950er Jahre nämlich war es gewesen, dass mit
dem Europaparlament, dem Europäischen Gerichtshof und den anfangs
noch drei Kommissionen (die erst 1967 fusioniert wurden)
überstaatliche Organe mit eigenen Entscheidungskompetenzen
geschaffen wurden, die politisch von den nationalen Regierungen
vollständig unabhängig waren. Zwar lag die europäische
Gesetzgebung vor allem beim Ministerrat, in dem jede Regierung ein
Vetorecht besaß. Doch auch so hatten die supranationalen Organe noch
einen beträchtlichen Handlungsspielraum, den vor allem die
EWG-Kommission unter Walter Hallstein auch entschlossen auszubauen
versuchte.
Charles
de Gaulle und der Intergouvernementalismus
Dem
1958 gewählten französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle
war diese supranationale Entwicklung zuwider. Auch er war zwar an
einer intensiveren Zusammenarbeit zwischen den
kontinentaleuropäischen Staaten interessiert, aber eben nur an einer
Zusammenarbeit, nicht
an der Integration in eine höhere Einheit. Die nationale
Souveränität sollte nicht angetastet werden, Entscheidungen über
gemeinsame Aktivitäten nur im diplomatischen Konsens fallen. Dieses
Ziel – das nach heutigen Maßstäben wohl am ehesten mit der Agenda der britischen Konservativen unter David Cameron vergleichbar wäre – prägte in den 1960er Jahren die französische Europapolitik.
Den ersten Anlauf bildeten dabei die 1961/62 vorgestellten Fouchet-Pläne, nach denen die
EG-Mitgliedstaaten eine neue „Europäische Politische Union“ (EPU) gründen sollten. Diese sollte sich nicht nur mit wirtschaftlichen Fragen, sondern
auch mit kulturellen und militärischen Angelegenheiten befassen. Ihr zentrales Organ sollte der Ministerrat sein, in
dem jede Regierung ihr Veto behalten würde. Und vor allem sollte die
bestehende EWG-Kommission entmachtet werden: Statt als eigenständiger politischer Akteur zu handeln würde sie, so der Vorschlag, künftig als eine Art Sekretariat dem
Ministerrat untergeordnet sein.
Diese
Idee stieß jedoch nicht nur bei der Kommission selbst,
sondern auch bei den übrigen Mitgliedstaaten auf wenig Gegenliebe.
Während in Italien traditionell die Idee eines supranationalen
europäischen Föderalismus sehr populär war, fürchteten die
Benelux-Länder, dass eine Entmachtung der Kommission letztlich zu
einer Dominanz der großen Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich
führen würde. Die Verhandlungen über die EPU scheiterten deshalb
im Lauf des Jahres 1962. Hinzu kam, dass US-Präsident John F.
Kennedy die Beziehungen der USA zu Westeuropa zu intensivieren begann
(im Juni 1963 sollte er seine berühmte Berliner Rede halten) und
damit auch De Gaulles Wunsch nach einer eigenständigen europäischen
Sicherheitspolitik abseits der NATO-Strukturen in weite Ferne rückte.
Doch
gerade, als der französische Staatspräsident fürchten musste, ins
europapolitische Abseits zu geraten, kam ihm im Januar 1963 sein
deutscher Nachbar zu Hilfe: Der Elysée-Vertrag, in dem De Gaulle und
Bundeskanzler Adenauer regelmäßige Regierungskonsultationen in der
Außen-, Verteidigungs- und Kulturpolitik vereinbarten, war
gewissermaßen der Rest, der von den Fouchet-Plänen übrig blieb. In
einer Präambel machte die deutsche Seite zwar klar, dass das
Abkommen auf keinen Fall als Abwendung von den USA verstanden werden
sollte. Doch dass die beiden führenden EG-Staaten in wichtigen
Politikfeldern eine rein bilaterale Zusammenarbeit vereinbarten, war
auf jeden Fall ein deutliches Signal gegen die supranationalen
Bestrebungen der europäischen Institutionen. Zwar war es De Gaulle
nicht gelungen, die Europäische Kommission entscheidend zu schwächen
(1965/66 machte er mit der „Politik des leeren Stuhls“ einen
neuen, etwas erfolgreicheren Versuch in diese Richtung), doch mit
Adenauers Hilfe hatte er den Intergouvernementalismus im westlichen
Kontinentaleuropa wieder salonfähig gemacht.
Das
Van-Gend-&-Loos-Urteil: die Rechte des Einzelnen in der EG
In
dieser Situation fiel zwei Wochen später eine Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs, die auf den ersten Blick nichts mit dem
deutsch-französischen Vertrag zu tun hatte. Es ging um die Klage
eines niederländischen Unternehmens namens Van Gend & Loos, das
Harnstoffharz aus Deutschland in die Niederlande importierte und
dafür einen Einfuhrzoll bezahlen musste. Der Zollsatz dafür hatte
seit 1947 drei Prozent betragen, war aber von den Niederlanden 1960
auf acht Prozent erhöht worden – obgleich Artikel 12 des damaligen
EWG-Vertrags Zollerhöhungen zwischen den Mitgliedstaaten explizit
verbot (die vollständige Abschaffung der Binnenzölle erfolgte erst
einige Jahre später). Van Gend & Loos forderte deshalb, nur den
alten Satz von drei Prozent bezahlen zu müssen.
Tatsächlich
stritt auch die niederländische Regierung nicht ab, dass die Zollerhöhung im Widerspruch zum EWG-Vertrag stand. Van Gend & Loos habe aber, so argumentierte sie, kein Recht, deswegen zu klagen. Als völkerrechtliches Abkommen binde der EWG-Vertrag nämlich nur die Mitgliedstaaten untereinander: Solange also keiner von diesen (oder die Europäische Kommission) eine Klage einlege, könne auch niemand die Niederlande zu seiner Einhaltung zwingen. Da zudem die Zollerhöhung im Rahmen eines multilateralen Abkommens mit Belgien und Luxemburg erfolgt war, bestehe überhaupt kein Grund zur Aufregung – ob Van Gend & Loos irgendwelche Ansprüche gegenüber der niederländischen Regierung habe, sei letztlich eine interne Angelegenheit, die den nationalen Gerichten überlassen bleiben müsse. Im Gerichtsverfahren gaben die belgische und deutsche Regierung
Erklärungen ab, die diese Lesart unterstützten, während die
Kommission sich auf die Seite von Van Gend & Loos schlug.
Ebenso
wie der Europäische Gerichtshof selbst. Am 5. Februar 1963 fiel das
spektakuläre Urteil, das heute jeder Jurastudent im Europarechtsseminar
lernt (hier die Leitsätze,
hier der volle Wortlaut). Der
zentrale Leitsatz darin lautete, dass die EWG eine „neue
Rechtsordnung“ darstelle,
deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen.
Mit
der Zollerhöhung hatten die Niederlande deshalb nicht nur ihre
Pflichten gegenüber den anderen Mitgliedstaaten verletzt (die das
bereitwillig akzeptiert hätten), sondern auch gegenüber Van Gend &
Loos. Anders als bei völkerrechtlichen Verpflichtungen konnten sich
die EG-Länder nicht mehr in ihren Souveränitätspanzer flüchten,
wenn nationales Recht im Widerspruch zu europäischem Recht stand –
jeder Einzelne hatte jetzt die Möglichkeit, sich auch
gegenüber seiner eigenen Regierung auf die Regeln des
EWG-Vertrags zu berufen, die Vorrang vor nationalen Gesetzen besaßen.
Während in anderen internationalen Organisationen die Menschen
lediglich vermittelt über ihre Regierungen eine Rolle spielten,
traten sie in der EG selbst und unmittelbar als individuelle
Rechtssubjekte auf: nicht mehr nur als Staatsangehörige ihres
Landes, sondern als europäische
Bürger.
In
den folgenden Jahren bekräftigte der EuGH diese Rechtsprechung in
mehreren weiteren Entscheidungen, deren bekannteste das
Costa/ENEL-Urteil von 1964 ist. Ab den 1970er Jahren begann dann in
mehreren Urteilen eine Auseinandersetzung zwischen dem EuGH und den
nationalen Verfassungsgerichten, ob das Europarecht außer gegenüber
einfachen nationalen Gesetzen auch gegenüber den nationalen
Verfassungen Vorrang habe – eine Frage, die bis heute nicht
endgültig beantwortet wurde. Die Grundprinzipien des
Van-Gend-&-Loos-Urteils aber wurden rasch auch von den nationalen
Gerichten akzeptiert und sind seitdem die unstrittige Grundlage des
Europarechts als eigenständige, supranationale Rechtsordnung.
„Freundschaft
der Völker“ oder „Europa der Bürger“?
Betrachtet
man die symbolische Aussagekraft der beiden Jubiläumsereignisse, so
ist mir persönlich Van Gend & Loos das sympathischere. Gewiss,
der intensive kulturelle Austausch, der sich in Folge des
Elysée-Vertrags zwischen Deutschland und Frankreich entwickelte, hat
den Menschen beider Länder zweifellos viel Gutes gebracht. Doch das
Aussöhnungspathos des Elysée-Vertrags blieb immer der Vorstellung
verhaftet, dass es sich hier um zwei getrennte „Völker“
handelte, die miteinander Freundschaft schlossen: dass Deutsche
Deutsche blieben und Franzosen Franzosen, auch wenn sie einander nun
in Frieden und als „gute Nachbarn“ begegneten.
Das
Van-Gend-&-Loos-Urteil hingegen überwand diese nationale
Konstellation: Indem es den Einzelnen nicht nur als Teil eines
nationalen Kollektivs behandelte, sondern zum eigenständigen
europäischen Rechtssubjekt erklärte, machte es ihn freier von
seiner Staatsangehörigkeit und unabhängiger von seiner Regierung.
Europa war nicht mehr nur die Sache einer Handvoll
Nationalstaaten, sondern von Millionen von Bürgern, die im
politischen und rechtlichen System als Individuen auftreten konnten.
Vor
einigen Monaten habe ich hier über die verschiedenen Narrative geschrieben, die der europäischen Einigung zugrunde liegen. Die Rhetorik des Elysée-Vertrags folgt klar jenem Friedensnarrativ, das nach dem Zweiten Weltkrieg
Konjunktur hatte, aber heute mit gutem Grund etwas verstaubt wirkt. Die
Van-Gend-&-Loos-Entscheidung hingegen lässt sich als wichtiger
Schritt eines anderen, viel größeren Projekts verstehen: der Aufbau
einer supranationalen Demokratie, in der die gemeinsame Politik nicht
mehr Angelegenheit nationaler Diplomaten, sondern der europäischen
Bürger selbst ist. Dass es nicht die gewählten Regierungen und
Parlamente, sondern die fern der öffentlichen Aufmerksamkeit
agierenden Richter des Europäischen Gerichtshof waren, die diese
Sache vor fünfzig Jahren entscheidend voranbrachten, zählt zu den
unglücklichen Wendungen des europäischen Integrationsprozesses.
Doch das sollte kein Grund sein, den heutigen Jahrestag nicht zu
feiern: Vive
lʼEurope des citoyens!
Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-P106816 / Unknown / CC-BY-SA 3.0 [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons.
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