- In Umfragen spricht sich gut die Hälfte der Briten für einen EU-Austritt ihres Landes aus. Aber was sagen eigentlich die anderen Europäer dazu?
Die Spatzen pfeifen es
von den Dächern: Irgendwann in nächster Zeit wird der britische
Premierminister David Cameron (Cons./AECR) ein nationales Referendum
über den Verbleib seines Landes in der Europäischen Union
einberufen. Seine Conservative
Party ist zuletzt immer weiter ins europaskeptische Lager gerückt, getrieben von
der nationalpopulistischen UK Independence Party, die in Umfragen seit Monaten zulegt. Das Veto gegen den Fiskalpakt Ende
2011 und den EU-Haushaltsplan im Herbst 2012 isolierten Cameron im Europäischen Rat, verschafften ihm aber im Inland
jeweils nur kurzfristig Popularität. Nun könnte er den Befreiungsschlag suchen – wenn ihn nicht sein
liberaldemokratischer Koalitionspartner (LibDem/ELDR) davon abhält,
bis bei den nächsten Wahlen wieder die Labour Party (SPE) gewinnt.
Spätestens seit letztem Oktober gilt der Brexit,
der britische EU-Austritt, als ein durchaus realistisches Zukunftsszenario.
Seither ist über kaum
ein anderes Thema in der europäischen Blogosphäre so viel
diskutiert worden (etwa hier,
hier,
hier,
hier
oder hier).
Zuletzt äußerte vor einigen Tagen der Blogger Ronny Patz gar die Vermutung, dass dieses große Gewicht darauf zurückzuführen
sei, dass ein Großteil der europapolitischen Blogs in englischer
Sprache verfasst ist – und deshalb eher dazu neigt, sich mit
britischen Themen zu beschäftigen als mit denen irgendeines anderen
Mitgliedstaates. Ich teile diese Einschätzung nicht ganz: Dass der
mögliche britische Austritt so wichtig genommen wird, liegt wohl in
erster Linie schlicht daran, dass es sich dabei wirklich um ein
gravierendes Ereignis handeln würde. Wozu die Dominanz des
Englischen jedoch tatsächlich beigetragen haben könnte, ist, dass
sich die meisten Beiträge zu diesem Thema vor allem mit der Frage
beschäftigen, was aus britischer Sicht
die Vor- und Nachteile eines EU-Austritts wären. Sehr viel seltener
wird die Perspektive eingenommen, was eigentlich für
Europa die beste Haltung in
dieser Frage wäre.
„Europe à la carte“
und „Norwegen“: halb draußen oder halb drinnen?
Dabei
ist es ja nicht so, als ob der Rest der EU in dieser Frage nichts
mitzureden hätte. Zwar besitzt nach Art. 50 EU-Vertrag jeder Mitgliedstaat ein einseitiges Austrittsrecht,
doch auch in Großbritannien will kaum jemand die Union einfach mit
lautem Türenschlagen verlassen. Insbesondere ist der Zugang zum
europäischen Binnenmarkt für das Land wirtschaftlich viel zu
wichtig, als dass es einfach alle Brücken zum Kontinent abreißen
könnte. Außer den beiden Extremlösungen – der vorbehaltlosen
Beteiligung am Integrationsprozess und dem vollständigen Abschied
aus der Union – gibt es noch zwei weitere Möglichkeiten, und alles
deutet darauf hin, dass die Entscheidung letztlich zwischen diesen
beiden fallen wird.
Die
erste dieser Möglichkeiten ist das, was man als die norwegische
Option bezeichnen könnte. Norwegen, das 1972 und 1994 in zwei
Referenden gegen den Beitritt zur EU gestimmt hat, versteht sich
heute als der „most active outsider“ in der europäischen
Integration. Durch die Teilnahme am Europäischen Wirtschaftsraum ist
es in den Binnenmarkt integriert; außerdem ist es Mitglied im
Schengen-Raum und nimmt an der Dublin-Verordnung, am
Erasmus-Programm, an der europäischen Umweltagentur sowie an
diversen anderen EU-Politikbereichen teil. Dafür muss Norwegen das
entsprechende europäische Recht implementieren und einen
„Kohäsionsbeitrag“ von jährlich rund 300 Millionen Euro
bezahlen. Vergleichbare Arrangements gibt es (in unterschiedlicher
Ausgestaltung) mit Island, der Schweiz, der Türkei und anderen
Nachbarländern. Mit Großbritannien wäre eine ähnliche Lösung
denkbar.
Die
zweite britische Möglichkeit hingegen besteht darin, in der
Europäischen Union zu verbleiben, sich jedoch für jedes umstrittene
Politikfeld eine Ausnahmeregelung geben zu lassen. Schon heute
besitzt Großbritannien in zentralen Bereichen wie dem Schengener
Abkommen, der Währungsunion, dem Fiskalpakt oder der
EU-Menschenrechtscharta ein „Opt-out“, durch das es sich nicht an
der gemeinsamen Politik beteiligen muss; außerdem erhält es seit
1984 mit dem „Briten-Scheck“ einen speziellen Rabatt auf seine
Beiträge zum europäischen Haushalt. Seit einigen Monaten nun spielt
die Regierung Cameron mit dem Gedanken, diese Ausnahmeregeln auf die gesamte europäische Innen- und Justizpolitik auszuweiten, und auch soziale Mindeststandards wie
die Arbeitszeitrichtlinie sind in der Diskussion. Am Ende könnte
dann ein „Europe à la carte“ stehen, in dem das Land zwar
Mitglied der Union ist, sich jedoch jeweils selbst aussucht, ob es
sich an gemeinsamen Beschlüssen beteiligt oder nicht.
Die
eigentliche Entscheidung wird also eher nicht zwischen „drinnen“
und „draußen“ fallen, sondern allenfalls zwischen „halb
drinnen“ und „halb draußen“. In beiden Fällen würde
Großbritannien an manchen europäischen Politikfeldern weiterhin
teilnehmen, aus anderen aber aussteigen. In beiden Fällen müsste es
einen finanziellen Beitrag für den EU-Haushalt leisten, der
allerdings niedriger ausfiele als derjenige anderer Mitgliedstaaten. Der
wesentliche Unterschied zwischen den beiden Optionen besteht
lediglich darin, dass Großbritannien bei der
Europe-à-la-carte-Lösung weiterhin an den Institutionen der EU
beteiligt wäre – während es im norwegischen Modell seinen
Vertreter im Ministerrat, sein Kommissionsmitglied und seine
Abgeordneten im Europäischen Parlament verlieren würde.
Das europäische
Interesse
Es
ist deshalb kaum verwunderlich, dass die Vernünftigeren unter den
britischen Konservativen klar die Option „halb drinnen“
bevorzugen. Wer möchte schon gern regelmäßig europäisches Recht
umsetzen müssen, ohne bei der Rechtsetzung selbst mitreden zu
können? Ihr Schlagwort der Stunde lautet deshalb „Repatriierung von Kompetenzen“ – eine Neuverhandlung der EU-Verträge, um
bislang supranationale Politikfelder auf Großbritannien
rückzuübertragen und neue Opt-outs einzuführen, ohne dass ein Austritt notwendig würde.
Eine solche Vertragsreform aber erfordert natürlich die Zustimmung
auch der anderen Mitgliedstaaten. Und damit stellt sich nun für uns
alle die Frage, wie wir es denn mit dem Brexit
und seinen Alternativen halten.
Hierzu
vorweg: In meinen Augen wäre die beste Lösung sowohl für
Großbritannien als auch den Rest von Europa eine volle Beteiligung
des Landes an der Europäischen Union. Es gibt keinen zwingenden
Grund, weshalb Großbritannien hier irgendeine andere Rolle als
Deutschland, Frankreich oder Italien spielen sollte. Seine
wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtungen
mit dem übrigen Kontinent unterscheiden sich kaum von denen jedes
anderen europäischen Landes – nur im politischen Diskurs über
Integration und nationale Identität zeigt es massive Besonderheiten,
die leider in den letzten Jahrzehnten eine selbstverstärkende
Wirkung hatten. Seit den 1950er Jahren gelang es dem Land nie, in
Europa aus einer Außenseiterrolle herauszukommen, die anfangs noch
selbst gewählt, später aber vor allem Folge einer unglücklichen
historischen Pfadabhängigkeit war. Sie zu überwinden, wäre für
die Briten wie für den Rest der Europäer von Vorteil.
Wenn
David Cameron und die Conservative Party nun jedoch eine Entscheidung
über Repatriierung oder Austritt herbeiführen wollen, dann sollte
der Rest des Kontinents ihnen unzweideutig zu verstehen geben, dass
ein „Europe à la carte“ nicht im europäischen Interesse liegen
kann. So unschön es für die Briten wäre, nach der norwegischen
Lösung nicht mehr an den europäischen Entscheidungen beteiligt zu
sein, die es betreffen, so inakzeptabel ist es umgekehrt für den Rest der Union, dass
die europäischen Beschlüsse von den Bürgern eines Staates
mit gefasst werden, der sich hinterher an einen Großteil dieser
gemeinsamen Beschlüsse gar nicht gebunden fühlt. Opt-out-Regelungen
mögen sinnvoll sein, wenn sonst überhaupt keine Lösung möglich
ist. Erhebt man jedoch für einzelne Länder das Rosinenpicken zum
Prinzip, dann geht die demokratische Gleichheit der Unionsbürger
zugrunde.
Schaden für die
europäische Demokratie
Nun
ließe sich natürlich ein Modell vorstellen, nach dem die britischen
Vertreter künftig nur noch an Entscheidungen in solchen
Politikbereichen teilnehmen, in denen sie auch an die Beschlüsse der
Union gebunden sind. Schon heute ist das wichtigste Gremium für die
europäische Währungsunion nicht der gesamte Finanzministerrat,
sondern die Eurogruppe, in der nur die Minister der Euro-Staaten
vertreten sind. Und auch für das Europäische Parlament wurde in den
letzten Monaten verschiedentlich die Einrichtung einer „Euro-Kammer“ vorgeschlagen, in der die in
Großbritannien und anderen Nicht-Euro-Ländern gewählten
Abgeordneten nicht vertreten wären. Dieses Prinzip ließe sich auf
alle anderen Politikbereiche ausweiten: Warum sollte es nicht auch
eine Schengen-Gruppe und eine Schengen-Kammer, eine
Binnenmarkt-Gruppe und eine Binnenmarkt-Kammer, eine
Justiz-und-Inneres-Gruppe und eine Justiz-und-Inneres-Kammer geben,
an denen jeweils nur die Vertreter der Länder beteiligt wären, die
für diesen Politikbereich die Kompetenz der Europäischen Union
anerkannt haben?
Zwei
Gründe sprechen gegen diesen Vorschlag: Zum einen bleibt dabei
ungeklärt, was aus der Europäischen Kommission und dem Europäischen
Gerichtshof würde: Sollten auch deren britische Mitglieder nur noch
an solchen Entscheidungen beteiligt sein, für die Großbritannien
kein Opt-out besitzt? Zum anderen behandelt der
Vorschlag nicht nur die Minister im Rat, sondern auch die
Abgeordneten im Parlament nur als Vertreter ihrer jeweiligen Staaten,
nicht als Repräsentanten der
europäischen Bürger –
und schwächt damit das Konzept der Unionsbürgerschaft insgesamt.
Durch eine Auflösung des Europäischen Parlaments in eine Vielzahl
von thematischen Einzelkammern würden transnationale Europawahllisten ebenso unmöglich gemacht wie stabile parteipolitische Mehrheiten; die Europawahlen könnten noch
weniger als heute zu gesamteuropäischen Debatten und
Leitentscheidungen führen. Vermutlich könnte der britische
Premierminister, der ohnehin mehr auf Intergouvernementalismus als
auf supranationale Demokratie setzt, mit einer solchen Lösung gut
leben. Mir persönlich hingegen scheint sie die schlechteste aller
möglichen Optionen zu sein, da sie die Aussichten auf eine
demokratische Entwicklung der gesamten EU dauerhaft beschädigen
würde.
Die EU darf sich nicht
erpressen lassen
Die
Spatzen pfeifen es von den Dächern: Irgendwann in nächster Zeit
wird die Überwindung der Eurokrise eine weitere große
Vertragsreform notwendig machen; und dann wird David Cameron mit
seinem Veto drohen und die Gelegenheit nutzen wollen, um die
Bedingungen der Mitgliedschaft seines Landes in der Europäischen
Union neu zu verhandeln. Wenn es so weit kommt, sollte der Rest der
EU sich nicht erpressen lassen. Im vergangenen Jahr haben der Vertrag
über den Europäischen Stabilitätsmechanismus und der Fiskalpakt
gezeigt, dass es zwar nicht besonders schön, aber doch möglich ist,
auch ohne britische Zustimmung eine De-facto-Vertragsreform
durchzuführen. Wenn es darum geht, die EU insgesamt demokratischer
und handlungsfähiger zu machen, sollte jedenfalls nicht die Regierung eines einzelnen Landes alle übrigen aufhalten. Und wenn sich
Großbritannien mit diesem Ziel zuletzt partout nicht anfreunden
will, dann wird es wohl das Beste sein, wenn es die Union in aller
Freundschaft verlässt.
Immerhin:
Schöner wäre es natürlich schon, die Briten auch künftig
dabeizuhaben. Übrigens genauso wie die Norweger, die Isländer, die
Schweizer und die Türken.
Bild: By BKP (Own work) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.
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