Es gehört zu den
Selbstverständlichkeiten dieses Blogs, dass supranationaler Föderalismus irgendwie
besser, genauer: demokratischer ist als multilaterale Diplomatie. Was
Bürger aller Staaten gemeinsam angeht, muss von Bürgern aller
Staaten gemeinsam entschieden werden – oder von einem Parlament,
das diese Bürger gemeinsam gewählt haben. Wenn gemeinsame Probleme
dagegen in rein zwischenstaatlichen Gremien gelöst werden sollen,
ergibt sich immer das Problem, dass jeder Bürger nur seine eigene
nationale Regierung wählen kann, nicht aber all die anderen, die
ebenfalls an der Entscheidung beteiligt sind. Deshalb ist, kurz
gesagt, die Generalversammlung der Vereinten Nationen auch nicht mit einem demokratisch
gewählten Parlament zu vergleichen.
Aber ist das wirklich so
einfach? Gewiss, das einzige Mitglied in der UN-Generalversammlung,
das mir als Bürger politisch verantwortlich ist, ist der Vertreter
meines Nationalstaats; und wenn er überstimmt wird, so habe ich
keinen weiteren Einfluss mehr auf die Entscheidung. Aber ist das
eigentlich bei nationalen Parlamenten so anders? Wenigstens in
Ländern wie Großbritannien oder den USA, die ein striktes
Mehrheitswahlrecht haben, unterscheidet sich das nationale
Entscheidungsverfahren gar nicht so grundsätzlich: Auch hier können
die Bürger lediglich den Abgeordneten ihres eigenen Wahlkreises
wählen, der dann jederzeit vom Rest des Parlaments überstimmt
werden kann. Nun kann man das Mehrheitswahlrecht kritisieren und eine
Verhältniswahl (wie in Deutschland oder Österreich) bevorzugen.
Aber rundheraus als undemokratisch
würde das britische System dann doch wohl kaum jemand bezeichnen.
Haben wir es also,
nüchtern betrachtet, bei der UN-Generalversammlung doch mit einer
Art globalen Westminster-Parlament zu tun, dessen „Abgeordnete“
eben die nationalen Regierungen sind, welche in den „Wahlkreisen“,
den Nationalstaaten, nach dem Mehrheitsverfahren gewählt werden? Es
lohnt sich, zur Abwechslung einmal diese Perspektive einzunehmen –
und sei es nur, um den Unterschied zwischen supranationaler
Demokratie und multilateraler Diplomatie etwas genauer zu verstehen.
Ein naheliegender
Einwand
Ein Einwand gegen ein
Verständnis der Generalversammlung als Weltparlament liegt freilich
auf der Hand: Es gibt unter den UN-Mitgliedstaaten eine ganze Reihe
von autoritären und diktatorischen Regimes, sodass auch nicht jede
Regierung, die in der Generalversammlung ein Stimmrecht hat,
demokratisch legitimiert ist. Während dies in der Praxis wohl das
größte Hindernis zu einem demokratischen Weltsystem ist, soll es
uns bei dem Gedankenspiel hier nicht stören. Nehmen wir einfach an,
auf der ganzen Welt gäbe es freie Wahlen, eine freie Öffentlichkeit
und den Schutz fundamentaler Grundrechte. (Wem das zu abstrakt ist,
mag sich die Frage mit dem EU-Ministerrat stellen, der auf 27
europäische Demokratien begrenzt ist, aber in seiner Funktionsweise
der Generalversammlung ähnelt: Beide setzen sich aus
Regierungsvertretern zusammen, beide treffen ihre Entscheidungen in
der Regel mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit.)
Wäre die
UN-Generalversammlung dann schon ein demokratisches Organ? Oder gibt
es doch noch wesentliche Unterschiede? Hier drei Überlegungen.
Erstens: Die Größe
der Wahlkreise
Ein ebenfalls recht
naheliegender Aspekt, der auch dann erhalten bliebe, wenn alle
Staaten der Welt demokratisch wären, ist die unterschiedliche Größe
der Nationalstaaten. Während in Großbritannien die Größe der
Wahlkreise nur zwischen etwa 22 000 (Western Isles) und 100 000
Einwohnern (Isle of Wight) schwankt, liegen die Extreme auf globaler
Ebene bei 10 000 (Nauru) und 1,4 Milliarden (China). Und während
die britischen Wahlkreise regelmäßig entsprechend der
demografischen Entwicklung angepasst werden, sind die Grenzen von
Nationalstaaten weitgehend unveränderlich. Die Bürger großer
Staaten sind deshalb in der UN-Generalversammlung massiv und
strukturell unterrepräsentiert.
In der Realität dürfte
hier wohl ein Hauptgrund dafür liegen, dass die Generalversammlung
niemals zum Mittelpunkt der globalen Politik geworden ist: Da die
großen Staaten keine Lust haben, sich regelmäßig von den kleinen
überstimmen zu lassen, suchen sie sich schlicht andere Foren, in
denen sie sich besser durchsetzen können. Eines davon ist der
UN-Sicherheitsrat, in dem fünf große Länder sich permanent ein
Drittel der Stimmen (und noch dazu ein Vetorecht) gesichert haben.
Ein anderes ist die traditionelle Diplomatie, in der sich der
Einfluss der Staaten nicht zuletzt aus ihrer wirtschaftlichen und
militärischen Macht ergibt. Die UN-Generalversammlung ähnelt also
einem Parlament, in dem manche Abgeordnete sehr viel mehr Wähler
hinter sich haben als andere – und deshalb eifrig darauf bedacht
sind, Entscheidungen lieber auf informelle Weise außerhalb des
Parlaments zu treffen, als dem Parlament zu viel Einfluss zukommen zu
lassen.
Zweitens: Die Rolle
der Parteien
Ein zweiter Unterschied
zwischen der UN-Generalversammlung und dem britischen Parlament ist
die weitgehende Bedeutungslosigkeit der globalen Parteien.
Tatsächlich nehmen im britischen Mehrheitswahlsystem die Parteien
eine zentrale Funktion ein, wenn es darum geht, die vielen
Wahlkreisabgeordneten zu einer gemeinsamen landesweiten Politik
zusammenzubringen. Die Parteien verabschieden gemeinsame Programme
und sorgen im Parlament für Fraktionsdisziplin. Auch wenn der Wähler
formal nur eine einzelne Person in seinem Wahlkreis wählt, hat er so
durch die Parteien die Möglichkeit zu einer gesamtstaatlichen
Richtungsentscheidung.
Die Parteiverbände, die
sich auf globaler Ebene organisiert haben, sind hingegen weit davon
entfernt, einen solchen Einfluss auf das politische Geschehen
auszuüben. Nicht, dass es sie nicht gäbe – die Sozialistische Internationale (SI), die Christlich-Demokratische Internationale
(CDI), die Liberale Internationale (LI) und die Global Greens (GG)
sind seit langem etablierte Organisationen, die auch immer wieder zu
aktuellen politischen Themen Position beziehen: Die SI zum Beispiel,
die an der Regierung von 48 UN-Mitgliedstaaten beteiligt ist, begrüßte
vor einigen Tagen die Entscheidung der UN-Generalversammlung,
Palästina als Beobachterstaat anzuerkennen. Allerdings erfolgte diese Stellungnahme erst, nachdem die Entscheidung der
Generalversammlung bereits getroffen war. Einen Versuch, ihre
Mitglieder im Sinne einer sozialdemokratischen „Fraktionsdisziplin“
im Voraus auf eine gemeinsame Linie zu bringen, gab es nicht.
Für diese schwache Rolle
der globalen Parteien gibt es verschiedene Gründe. Einer dürfte
daran liegen, dass die Delegierten in der UN-Generalversammlung oft
Regierungen vertreten, die sich nicht nur aus einzelnen Parteien,
sondern aus Koalitionen zusammensetzen. Selbst wenn es also im Voraus
eine klare Position der SI zu Palästina gegeben hätte, hätte doch
jede einzelne sozialdemokratische Regierungspartei ihr Votum in der
Generalversammlung mit den Koalitionspartnern aushandeln müssen. Ein
zweiter Grund ist die geringe Finanzkraft der globalen Parteien: Auch
in Großbritannien fügen sich Abgeordnete der Fraktionsdisziplin
meist nur deshalb, weil die Parteien ihnen den Wahlkampf finanzieren
und ein Kandidat ohne die Unterstützung einer Partei meist
chancenlos ist. Auf globaler Ebene hingegen verbieten zahlreiche
nationale Wahlgesetze die Finanzierung von Wahlkämpfen durch
ausländische Akteure – was unmittelbar den Einfluss der globalen
Parteien verringert.
Drittens: Keine eigene
Wahl
Der
dritte und wichtigste Punkt, an dem sich die UN-Generalversammlung von dem
britischen Parlament unterscheidet, ist jedoch das Fehlen eines
gemeinsamen globalen Wahlakts. Während die britischen Abgeordneten
allesamt am selben Tag gewählt werden, findet die Wahl zur
UN-Generalversammlung in jedem Land zu einer anderen Zeit statt –
nämlich eben immer dann, wenn die dortige nationale Regierung
gewählt wird. In Großbritannien gibt es deshalb einen
landesweit gemeinsamen Wahlkampf mit Parteitagen, TV-Duellen der
Spitzenkandidaten, Wahlempfehlungen der großen Tageszeitungen und
einer allgemeinen öffentlichen Zuspitzung auf bestimmte
Konfliktthemen. Eine globale öffentliche Debatte über
die Zusammensetzung der Generalversammlung bleibt hingegen aus.
Und
nicht nur, dass die Weltbürger ihre globalen Delegierten nicht am
selben Tag wählen: Sie machen sich normalerweise noch nicht einmal
Gedanken darüber, dass sie sie wählen. Und hier liegt in meinen
Augen der wichtigste Unterschied zwischen einem Westminster-Parlament
und der Generalversammlung. Während die britischen Abgeordneten
explizit die Aufgabe haben, als nationale Legislative Gesetze für
ihr Land zu erlassen, erfüllen die Mitglieder der
UN-Generalversammlung eine paradoxe Doppelfunktion: Sie sind eben
nicht nur Abgeordnete des Weltparlaments, sondern auch und vor allem
nationale Regierungen. Man erwartet von ihnen nicht nur, gute
politische Entscheidungen für die Welt als Ganze zu treffen, sondern
zugleich, die nationalen Interessen ihres jeweiligen Landes zu
fördern. Und auch die Bürger können über beides nur im selben
Wahlakt abstimmen. Es ist nur offensichtlich, dass es hier zu
Zielkonflikten kommen kann – und zugleich naheliegend, dass dann im
Zweifel das nationale über das globale Gemeinwohl triumphieren wird.
Demokratisierung der
Weltpolitik
Wenn
wir also die Weltpolitik demokratisieren wollen, so kann das heutige
institutionelle Gefüge der Vereinten Nationen nicht der letzte
Schritt sein. Selbst wenn alle Staaten der Welt demokratisch wären,
wäre es die UN-Generalversammlung noch lange nicht. Auf lange Frist
kann die Lösung deshalb nur in einem echten Weltparlament bestehen –
mit etwa gleich großen Wahlkreisen (oder noch besser: einem globalen
Verhältniswahlrecht), aktiven globalen Parteien und einem
gemeinsamen weltweiten Wahlakt. Dass wir davon heute noch weit
entfernt sind, versteht sich von selbst; und man braucht es mit der
Kritik an den demokratischen Defiziten der Vereinten Nationen auch
nicht zu übertreiben: Gegenüber dem früheren Zustand einer
„souveränen Anarchie der Nationalstaaten“ sind sie zweifellos
ein gewaltiger Fortschritt.
Aber
doch erscheint es mir wichtig, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass
wir derzeit, jedenfalls soweit wir uns als Weltbürger verstehen, in
einem reichlich undemokratischen System leben. Und dass wir daran bei
Gelegenheit etwas ändern sollten.
Bild: By Steve Cadman [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons.
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